Ich sitze auf einer alten Holzbank

Erzählung zum Thema Leben/Tod

von  tulpenrot

Alles ist gut heute Abend.
Ich sitze auf der alten Holzbank vor dem Haus. Sie ist noch angenehm warm. Ungewöhnlich heiß und sonnig war es heute den Tag über. Zwei Katzen liegen neben mir. Sie haben sich lang ausgestreckt und träumen.
Auch ich bin schläfrig, zufrieden, gelassen und entspannt. Letzte Sonnenstrahlen tasten sich über die bunten Wandmalereien über den Fenstern. Sie beleuchten auch die verzierten Dachgiebel. Es ist ein schöner Platz hier.

Das Bauernhaus liegt auf halber Höhe. Drüben erheben sich die kantigen Berge der Voralpen. Auf der anderen Seite schauen wir auf die Dörfer und Städte hinab. Sie sehen so winzig aus. Tief unter uns zieht lautlos die Autobahn vorbei. In der Ferne schimmern die Wasserflächen der beiden Seen.

Wie klein wir uns als einzelne Menschen in dieser großen Landschaft vorkommen! Wie erhaben und frei fühlen wir uns. Mit erhobenem Kopf atmen wir die klare Luft ein und stehen aufrecht da. Alle Unruhe fällt ab. Man bekommt einen Blick nicht nur für die großen, sondern auch für die kleinen Dinge.

Ich beobachte einen winzigen Käfer neben mir. Er ist auf seinem Rücken genauso grau zerfurcht wie die verwitterte Holzlatte der Bank. Ihm gelingt das Fliegen nicht mehr. Zwar öffnet er die Flügel, aber er kommt nicht weit. Kläglich hopst er zur Seite oder sogar rückwärts. Ich finde das seltsam. Schließlich fällt er zwischen die Steinplatten und verschwindet in den Ritzen. Wie schnell so ein kleines Leben vergeht!

Inzwischen ist mir eine Ameise ins Hosenbein gekrabbelt. Zum Glück finde ich sie schnell und schnipse sie weg. Bald danach entdecke ich eine Spinne auf meinem Blusenärmel. Ich fürchte mich nicht und schüttele sie ab. Ein Vogel hat im Vorbeifliegen auf meine Hose gekleckert. Das ist weniger schön. Immerhin bleibt ein Fleck zurück. Ein dunkler Käfer fällt mir in den Blusenausschnitt. Er kitzelt solange, bis ich ihn endlich fangen kann. Für eine kurze Zeit setzt sich eine Fliege auf mein Knie. Sie putzt sich und fliegt weiter. So viel kleines unbedeutendes Leben! Erstaunlich.

Ich höre Geschirr klappern. Julia und Tine spülen ab und räumen die Küche auf. Tine ist meine Tochter, Julia ihre Freundin. Wir machen gemeinsam Ferien. Wir leben bescheiden.  Weniges genügt uns. Kopfsalat, Möhren, Gurken, Kartoffeln, Hackfleisch, Tomaten, Nudeln, Butter, Käse und die frisch gemolkene Milch vom Hof - damit lässt es sich gut leben. Marmelade, Honig, Kaffee und Brot haben wir von zu Hause mitgebracht. Daneben haben wir nur einfache Wünsche:  Ab und zu einen saftigen Zwetschgenkuchen in einem Cafe oder einen bayrischen Schweinsbraten im nahen Wirtshaus. Und natürlich Weißwürste und Weißbier. So mögen wir es.

Meist sind die beiden Mädchen still und hängen ihren Gedanken nach. Manchmal albern sie herum. Es stört mich nur, wenn sie überheblich daherreden und alles besser wissen. Das legt sich hoffentlich noch eines Tages. Sie werden älter und vernünftiger, denke ich. Bis dahin warte ich geduldig. Wir haben uns die Aufgaben geteilt: Ich sitze am Steuer des Autos bei unseren Ausflügen. Sie kochen für uns drei. 

In großen Bögen kreisen über mir unermüdlich die Schwalben. Sie gleiten still durch die Lüfte. Es ist Pfingstsonntag. Unter mir reckt die Kirche ihren Turm aus dem Dorf heraus zum Himmel. Ich aber schaue von oben herab. Wenn nur die Bauern nicht wären! Sie fahren mit ihren Traktoren das gemähte Grünfutter zu den Ställen. Natürlich ist das wichtig. Aber sie stören mich. Die Traktoren machen Staub, Gestank und Lärm. Und das an einem Feiertag!

Unten im Fest-Zelt neben der Kirche war gestern Abend laute Musik. Wir hörten sie bis zu uns herauf. Nennt man es „Fest“, wenn man viel essen kann? Wenn man noch mehr trinken und deftige Blas-Musik hören kann? Nennt man es „Fest“, wenn man laut brüllen muss, um sich zu unterhalten?
„Das hört man nicht mehr, wenn man drin sitzt“, sagte die Bäuerin auf meine Frage. „Ich gehe immer noch gerne hin. Immer schon. Die Musik, die Leute. Ich mag das. Es werden auch alte Bräuche und Tänze vorgeführt. Seid ihr noch nicht da gewesen?“, fragte sie uns. Ich kann daran nichts Schönes finden. Die Mädchen auch nicht. Wir gingen nicht hin.

Wie feiert man Pfingsten und den Heiligen Geist? Eigentlich weiß man das schon lange nicht mehr. Selbst wir wissen es nicht. Ostern oder Weihnachten, das sind Feste mit Inhalt. Aber der Heilige Geist und das seltsame Pfingstgeschehen – wer versteht davon etwas? Für die meisten bedeutet Pfingsten nur noch ein verlängertes Wochenende, sonst nichts. „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“ Wir sollten dieses Lied singen. -

Doch gleich nach dem Frühstück brachen wir auf. Wir hatten es eilig. So fanden wir am ehesten einen schattigen Parkplatz am See. Wir setzten uns in ein Cafe am Seeufer. Ich aß ein Eis und Julia und Tine prüften, ob der Kaffee hier ein gutes Aroma hatte. Doch sie verzogen schnell die Gesichter. Es schmeckte ihnen nicht.
„Hier könnt ihr doch keinen besonders guten Kaffee erwarten“, belehrte ich sie. „Was habt ihr euch gedacht? Es geht den Leuten nur um das schnelle Geld mit den Tagesgästen. Nicht um Qualität.“  Sie fanden meine Worte blöd und schauten mich mürrisch an. Sie waren unzufrieden. Kein guter Beginn für unseren Ausflug. Inzwischen hatte sich die Luft unter der strahlenden Sonne aufgeheizt. Es wurde für die Jahreszeit viel zu warm.

Julia schien es egal zu sein, wohin wir gingen. Sie gab das Tempo an, ohne nach rechts oder links zu schauen. Mit forschem Schritt lief sie mit Tine voraus. Notgedrungen schleppte ich mich hinterher. Sie blieben nicht stehen. Ich aber wollte den herrlichen Blick über den See genießen. Sie gingen achtlos an dem blühenden Schlossgarten vorbei. Ich aber blinzelte sehnsüchtig über die Hecke zu den Rosensträuchern. Julia dagegen konnte sich lange in den kleinen Läden aufhalten. Den richtigen Schmuck zum Pulli oder Kleid wollte sie finden. Das war ihr wichtiger. Oder sie suchte nach passenden Schuhen. Das war ihr lieber als durch die Berge zu wandern. Ein T-Shirt für wenig Geld zu ergattern machte sie glücklich. Solche Wünsche trieben sie an.  Ach ja, ihre neue Frisur sollten wir bewundern! Sie drehte sich vor uns. „Die passt doch zu meinem Typ – oder?“, wollte sie wissen. Immer war sie auf der Suche nach Käuflichem. Tine war zwar anders. Aber in diesem Fall entschied sie sich für die Freundin und begleitete sie in die Geschäfte.

Ich aber wollte unsere freien Tage nicht mit Einkäufen zubringen. Also verabredeten wir, dass sie ohne mich in den Läden rumstöberten. Und ich besichtigte solange die Marienkirche und den Friedhof. Sie würden mich später dort abholen.

Zum Glück war es in der Kirche angenehm kühl. Ihre Kunstschätze waren berühmt. Deshalb wurde sie mit Kameras überwacht. Ich fotografierte nichts. Vielleicht war ja das Fotografieren nicht erlaubt. Stattdessen entdeckte ich ein offenes Buch im Eingangsbereich der Kirche. Daneben lag ein Kugelschreiber. Die Besucher konnten ihre Anliegen eintragen. „Danke für die Bewahrung in Not“ oder „Maria hat geholfen“ stand da. Ich wunderte mich über so viel fromme Dankbarkeit. Dass es das heute noch gibt! Anscheinend ist der Glaube nicht allen Menschen hier in der Gegend gleichgültig.
„Heilige Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
Auf dem Friedhof staunte ich über die schmiedeeisernen Kreuze. In unserem Heimatort verwendet man fast nur Steinplatten auf den Gräbern. Doch hier war es anders. Wie kunstvoll man Blätter und Blütenranken aus Eisen oder Bronze zu einem Kreuz geformt hatte. Und dazu die vielen Blumen. Ich war beeindruckt. „Die Menschen verstehen es, ihre Gegend zu schmücken. Im Leben und für den Todesfall“, dachte ich. Tine und Julia kamen schon bald zurück. Wir fuhren wieder zu unserer Ferienwohnung im Bauernhof. -

Tine holt immer frische Milch bei der Bäuerin.
„Die schmeckt so gut wie sonst nirgendwo“, behauptet Tine. Die Bäuerin berechnet sie uns nie. Wir sind Stammgäste bei ihr. Sie bewirtschaftet seit ein paar Jahren den Hof allein mit ihren beiden erwachsenen Kindern. Der Sohn erledigt die körperlich schwere Arbeit, die Tochter hilft im Büro. -

Die Luft hat sich inzwischen zwar etwas abgekühlt. Dennoch bleibe ich noch ein wenig auf der alten Holzbank sitzen.  Die Vogelstimmen sind leiser geworden. Von weit her tönt eine einzelne Kuhglocke. Eine andere Kuh schreit im Stall nebenan. Im Baum drüben schimpft eine Meise. Und die Grillen zirpen so laut, als ob es schon Hochsommer wäre. Ein fahler Mond schwimmt mit den Wolken gemächlich am Himmel entlang. Noch ist seine Zeit nicht gekommen.  Es sieht aus, als lächelte er im Traum auf die Landschaft herab: Auf die Türme, die roten Dächer und die schattigen Gassen. Auf saftiggrüne Wiesen und dicht belaubte Bäume. Auch den Menschen gilt sein milder Blick. Als ob er sieht, wie sie eilen und jagen, wie sie träumen und lachen, tanzen und lieben und leiden.

Morgen wird der zweite Pfingsttag sein. „O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein. Verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein.“  Eine weitere Gelegenheit über den Heiligen Geist nachzudenken.
Aus dem geöffneten Fenster über mir höre ich den Fernseher. Tine und Julia schauen wohl einen Film an. Ich werde nachher mit ihnen zu Abend essen: Gurken, Tomaten, Käse, Brot, Tee. Und Tine wird die kalte Milch trinken. Im gegenüberliegenden Häuschen erkenne ich die junge Frau des Bauernsohnes. Sie läuft mit dem Baby auf dem Arm im Zimmer umher. Ihr Mann kommt vom Feld heim. Er zieht draußen vorm Haus die Stiefel aus und geht hinein. Die alte Bäuerin hat den Stall abgeschlossen. Ich höre, wie sie in ihrer Küche ein Backblech aus dem Ofen zieht. Es duftet wunderbar nach frischem Kuchen. Ihre Tochter kommt aus dem Haus. Sie setzt sich zu mir auf die Bank und grault die Katzen. Es ist ein guter Abend.


Anmerkung von tulpenrot:

zu lang für kvLeser , hab ihn gekürzt

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