Bruchstücke

Kurzprosa zum Thema Verlorenheit

von  tulpenrot

Bisher ragte es als graues, totgeglaubtes Gebäude aus dem Boden
direkt neben den Schienen,
wo Züge im Takt vorbeiratterten
und ihre Rastlosigkeit auf die Menschen übertrugen.
Ein Haus auf nassem Grund.
Die  Fensterläden warfen ihre Farbe in kleinen vergilbten Blättern ab,
auf den Wänden wuchs  ein gelbschwarzer Schimmelrasen unter der Tapete.
Und aus den Rissen im Kellerboden verbreitete sich Feuchtigkeit.
Es roch modrig und faulig.

Und doch legte er Geld dafür hin.
Ich kaufe eine Heimat, sagte er zu dir.
Für eure Krankheiten, dachte ich.
Du und er in seinem Haus.

Natürlich wird es nicht leicht sein, sagte er.
Aber es wird schön. Glaub mir, sagte er
und setzte sich träumend auf eine Schaukel.
Grashalme streiften sanft seine Füße,
in seinen Augen spiegelten sich die Wolken
und mit seinem Haar spielte der Wind.
Unsteten Amseln gleich trippelten seine Gedanken umher.
Sie flatterten durch offene Türrahmen herein
und zu den Fensteröffnungen hinaus.

Deine Arme jedoch waren stark,
dein Rücken wurde breit.
Du gabst seinen Amseln körniges Futter
und seinen schwankenden Füßen ein Fundament.
Fensterläden und Türblätter bekamen Riegel vorgeschoben.

Doch obwohl du den Wind nicht fassen konntest,
die Wolken nicht verschieben
und die Schaukel unberührt ließest,
wuchs eine Enge um dich.
Bis du eines Tages Feuer unter dem Dach legtest
und dein Haar grau wurde von der Asche.
Wir brennen ab, riefst du zuletzt
und ranntest hinaus.
Er wartete schon mit leuchtenden Augen.

Du und er auf einer Schaukel.
Neben den Schienen.
So fand ich euch.
Und eure Heimat. Wo die Züge immer noch im Takt vorbeirattern.
Nichts weiter als einsame Bruchstücke.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (10.02.15)
Das hat in den präzise geschilderten Details eine großartige Dichte. Die ganze morbide Schmucklosigkeit einer Bruchbude wird gegenwärtig und zeichnet treffsicher die Schicksale. Folgerichtig die Katastrophe.
Sprachlich herausragend.
Liebe Grüße
TT

 tulpenrot meinte dazu am 10.02.15:
Lieber TT,
deine Rückmeldung freut mich ungemein! Danke für alles und ganz liebe Grüße!!!
Angelika

 Lluviagata (10.02.15)
Ja. Wunderbare Poesie, trotz ihrer Tragik.

Liebe Grüße
Llu ♥

 tulpenrot antwortete darauf am 10.02.15:
Liebe Llu,
diese Mischung aus Tragik und Poesie kam so beim Schreiben zustande. Und ich denke nun nachträglich: Ist das Leben nicht oft beides nebeneinander?
Hab herzlichen Dank für dein Lesen und deinen Kommentar und die Sternchen!
Ganz liebe Grüße zu dir
Angelika
janna (66)
(10.02.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 10.02.15:
Danke dir sehr, liebe janna, und herzliche Grüße zu dir
Angelika

 EkkehartMittelberg (10.02.15)
Eine gelungene Metapher nach der anderen, Angelika. Ich denke, dass die beiden scheitern, weil sie in sich selbst nicht Heimat finden können.

Liebe Grüße
Ekki

 tulpenrot äußerte darauf am 10.02.15:
Deine Interpretation gefällt mir, Ekki. Und deine wohlwollende Einschätzung natürlich auch. Danke!
Liebe Grüße
Angelika

 Irma (10.02.15)
Zwei Hälften ergeben nicht immer ein Ganzes. Wenn die Scherbenkanten der Bruchstücke nicht exakt zueinander passen, wird der Krug auch nach liebevollen Kittversuchen langsam das Wasser verlieren.

Sie scheint bodenständig (Hausfrau) zu sein, ihn zieht es in die Ferne (Reisezüge). Er schenkt ihr aus Liebe ein Haus, das ihnen aber nie zur Heimat wird. Die Schaukel ist ein schönes Symbol für das Paar: Im Boden verankert, schwingt sie in der Luft. Hier können sich die beiden - wenn auch nur für einen kurzen Moment - wahrhaft nahe sein.

Wunderschön, Angelika. LG Irma
(Kommentar korrigiert am 10.02.2015)

 tulpenrot ergänzte dazu am 10.02.15:
Dein Kommentar und deine Interpretation freuen mich. Ich entdecke dadurch selber Neues! Danke dafür - und für die Sternchen!
LG
Angelika

 niemand (10.02.15)
Das Leben mit einem erdfernen Träumer mag ja durchaus schöne Momente haben, aber das Leben besteht aus mehr als nur Träumereien und schönen Momenten. Die Tragik zweier Personen wird in diesen "Bruchstücken" gut sichtbar.
Der Text ist sehr gelungen und er hat eine schöne Portion Poesie. Mit herzlichen Grüßen, Ilrene

 tulpenrot meinte dazu am 10.02.15:
Liebe Irene,
hab herzlichen Dank für deine so positive Einschätzung des Textes. Es war wieder ein Versuch mit Bildern so zu arbeiten, dass eine tragische Geschichte sichtbar wird, ohne sie zu dramatisieren und ohne viele Worte darum zu machen.
Es hat mir Spaß gemacht - und wenn es Leser gibt, die sie mögen - umso besser!
Liebe Grüße zu dir
Angelika

 princess (10.02.15)
Du zeichnest die Bruchstücke hier so lebendig, dass der Rest sich in mir wie von selbst dazu denkt. Das mag ich. Auch wenn dadurch vielleicht ein ganz anderes Bild entsteht als das, welches du vor Augen hattest.

Sehr klar. Sehr urteilsfrei. Sehr berührend.

Liebe Grüße
Ira

 tulpenrot meinte dazu am 10.02.15:
Liebe Ira,
das gerade finde ich so spannend: Was geschieht beim Leser während er meinen Text liest?
Ich hatte "Bruchstücke" im Kopf beim Schreiben und habe sie zusammengefügt. Was der Leser daraus macht, würde ich gerne erfahren.
Danke jedenfalls für deine positive Rückmeldung und einen schönen Abend
Angelika

 AZU20 (11.02.15)
Berührt mich sehr. LG

 tulpenrot meinte dazu am 11.02.15:
Das freut mich. Danke!
LG
Angelika
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram