Mein Leben sagt „Sie“, wenn es mit mir spricht

Beschreibung zum Thema Alltag

von  unangepasste

Manchmal steige ich für eine Sekunde aus dem Film „Leben“ aus und schaue mir die Welt von außen an. Wie ein Sandkorn wehe ich auf und ab, hin und her. Im Lauf der Jahre bin ich mir selbst abhandengekommen. Nur noch selten tauchen Momente, Gerüche oder Töne auf, die mich wachrütteln. Dann räkelt sich ein Teil in mir, den ich einst als mich selbst erkannte. Meistens dreht er sich wieder um und fällt in einen gleichmäßigen Schlaf.

Orte und Augenblicke aus der Kindheit sind oft mit starken Emotionen behaftet. Doch später stellte sich etwas zwischen mich und die Welt und dämpfte sie ab. Heute bleiben kaum noch Spuren zurück. Die Tage sind leise geworden und huschen an mir vorbei.
Früher war die Welt laut und bunt, und jedes Gutenachtlied hatte eine eigene Farbe. Meine Mutter sang in Zwischentönen; kein Ausdruck unserer Sprache trifft sie genau.
Wenn ich im Sommer im Garten spielte, verschmolzen Gerüche, Licht und Wärme mit den Farben zusammen und bildeten eine Stimmung. Manchmal spüre ich sie noch. Dann liegt sie auf einem Blatt oder hinter Grashalmen und rührt an Erinnerungen. Alles Neue bleibt daneben blass.

Jeder Gedanke, jedes Gespräch hinterlässt einen Farbfleck auf der Seele. Aus den Tupfern entsteht ein Bild. Irgendwann ist jede Stelle in mir bemalt, und kaum noch weiße Bereiche bleiben übrig.
Doch den heutigen Eindrücken fehlt nicht nur der Platz. Wenn ich suche, finde ich leere Ecken. Vielmehr enthält das Erwachsenenleben keine Zeit innezuhalten. Ich gehöre mir nicht mehr.
Früher setzte ich mich zu mir, wenn ich stolperte; dann standen wir zusammen wieder auf und zogen weiter. Das Leben, wie es von uns erwartet wird, lässt aber solche Momente nicht zu, ist vielmehr ein Hürdenlauf mit Zielen und Zwischenstationen, und nur die Markierung der Pfosten zählt, das laute und grelle „Ich war hier“. Aber in Wirklichkeit war ich nicht da. Ich markierte die Stangen, funktionierte und hatte mich dabei zurückgelassen. Ich war unbequem, lästig. Zu langsam. Wer zählt schon die Butterblumen am Wegrand; wer schaut der Raupe dabei zu, wie sie sich waghalsig von einem Blatt auf ein anderes hangelt? Funktionieren war nur ohne mich möglich.

Das Leben ist eine unnachgiebige und erbarmungslose Mutter. Sie packt das Kind, hört nicht auf sein Schreien, zieht ihre Pläne durch, gnadenlos und ohne Verluste. Sie denkt: könnte das Kind nur ruhig sein und machen, was ich sage.
Inzwischen gehorche ich ihr. Ich bin still geworden. Sehr leise. Ich mache, was man von mir erwartet, erfülle die Anforderungen – ohne mich selbst dabei zu fühlen, ohne zu wissen, wer ich bin. Im Funktionieren habe ich mich vergessen.
Dafür musste ich mein Bild in Graustufen umwandeln. Das Foto meiner Erfahrungen ist schwarzweiß, weil es als Puzzleteil besser in die Welt passt. Meine Farben waren zu verschieden von den Erwartungen, die man an mich stellte. Am Anfang spürte ich noch eine Art Distanz zu mir. Doch bald gewann Routine die Oberhand, und eine tiefe Sehnsucht sank vor langer Zeit auf den Grund, wurde vom Strom des Lebens mit Sand und Steinen überspült. Ich erkannte mich nicht mehr. Doch der Erfolg ließ mich weitermachen.

Heute ruft mich mein Leben mit Nachnamen. Erst wunderte ich mich noch. Ich mag ihn nicht. Manchmal brauche ich eine Weile, um zu erkennen, dass ich gemeint bin. Vielleicht reagiere ich deshalb gelegentlich verzögert, steige für Sekunden aus dem Film aus – eine letzte Schwäche, die bleibt.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (07.03.15)
Diese Prosalyrik wirkt berührend, authentisch, poetisch und originell.
(Kommentar korrigiert am 07.03.2015)

 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Danke. War mir nicht sicher, ob der Text zu KV passt.

 AZU20 antwortete darauf am 07.03.15:
Ich stimme Dieter zu. Es passt. LG

 unangepasste schrieb daraufhin am 07.03.15:
Danke

 larala (07.03.15)
Die Anleitung, mit dem Leben wieder öfter auf Augenhöhe zu gehen ist ja schon inclusive. Oder wie Felix es sagt: Es kann niemand verlangen, dass ich mir auch noch selbst die Nabelschnur durchschneide. ;)
(Kommentar korrigiert am 07.03.2015)

 unangepasste äußerte darauf am 07.03.15:
Felix hat Recht
Mit seinen Aussagen könntest du ein ganzes Buch füllen.

 larala ergänzte dazu am 07.03.15:
:) (Vielleicht wählt dein Leben/ das Leben der Protagonistin das 'Sie' aus Respekt? Könnte ich mir gut vorstellen.)

 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Vielleicht Wobei es dann schon ein merkwürdiger Vogel ist.

 larala meinte dazu am 07.03.15:
Ich liebe ja merkwürdige Vögel. ;)

 princess (07.03.15)
Ich mag das sehr, wie du hier die nach Innen reist und deine Eindrücke nach Außen sichtbar machst. Die konzentrierten Bilder, in denen dieses Ich über dieses Ich erzählt, empfinde ich als sehr berührend. Im Mittelteil gibt es eine kurze Passage, in der du vom Ich zum Wir schwenkst. Das irritiert mich. In diesen Sätzen verliere ich den Kontakt zu dem erzählenden Ich und bin sowieso dagegen, dass wir das so erleben. Wer ist schon wir? Aber im weiteren Verlauf kommt das Ich ja dann ganz schnell wieder zurück. Gut so!

Ein schöner Text. So schön leise und so schön nachvollziehbar.

Liebe Grüße
Ira
(Kommentar korrigiert am 07.03.2015)

 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Danke. Ich habe diese Passage nun auch in die Ich-Form umformuliert. Wahrscheinlich passender für den Text.
janna (66)
(07.03.15)
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 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Danke.

 FRP (07.03.15)
Berührend. Allerdings bin ich, bei allen eiigenen Grau- und Schwarz-Tönen, doch einmal wieder ganz dessen bewußt und stolz darauf, dass ich so ein möglichst selbst-zentrierter Außenseiter bin, der zumindest ganz genau weiß, was er NICHT will, und der sich immer mit Händen, Füßen und Verstand dagegen gewehrt hat, dass der Tyrann "Leben" mit ihm macht. Da mache ich lieber selbst, stelle mich aucgh gern selbst ins Abseits, erfülle die Erwartungen anderer nicht. Meditation gibt mir chinesische gelb-Töne. Liebe zur Musik bringt mir andere, verschiedenste Farbtupfer ins Grau. Meine Gitarre ist waldbraun, riecht nach Holz. Meine Wut sieht oft Rot. Oft gehe ich auch einen Schritt weiter: Da verweigere ich mich sogar den eigenen Erwartungen. . Wenn wir nicht(s) mit dem Leben machen, macht es halt mit uns; und dann verlieren wir jenes "Du" zum Leben. Dann wird es uns zur Verwaltungsbehörde. Dem wollte ich entgehen, auch wenn dies oft "Untersuchungshaft" bedeutete. Das wenige Licht in der Zelle hatte alle Spektralfarben in sich, und wahr oft intensiver als ein Sonnentag im grauen Trott. Und gerade, im Moment, wird es Frühling!

 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Finde ich eine gute Einstellung. Nachvollziehbar. Bei mir führte das Hinterherrennen dessen, was man als "Normalität" bezeichnet, auf der einen Seite zu einer Selbstbestätigung, auf der anderen Seite aber auch zu einem Verlust, den ich mit den Jahren immer deutlicher spüre.

 FRP meinte dazu am 07.03.15:
Eben gerade, weil ich depressiv und oft grau bin, gelingt es mir sowieso nicht, den Normen zu entsprechen. Da ich vom Leben enttäuscht bin, bin ich es, der das "Siezen" verordnet hat.
Vielleicht gehst Du mal den anderen Weg - "Unangepasste" zum leben erwecken jenseits der Normen? Meine Einstellung ist ungefähr so: Es ist alles vergebens, es ist alles sinnlos, aus mir wird nichts (mehr) werden. Da kann ich dann ebensogut "ich" sein, wirklich "ich".
Habt mich doch alle gern; oder eben auch nicht Mir doch ganz Concieta. Kraft aus der Traurigkeit - seltsam; aber wahr.

 HerrSonnenschein (07.03.15)
Was für ein wunderschöner Text. Ich stehe ziemlich oft sprachlos staunend vor Deinen Texten. Und würde gerne auch mal was kluges, abgewogenes dazu sagen. Es gelingt mir meistens nicht.
Ich habe die leise Ahnung, dass mich das Leben sonst mit Nachnamen rufen würde.:-) Und das will mein innneres Kind in mir nicht.
Aber ich hoffe, Du kannst auch mit meinem Staunen etwas anfangen....

 unangepasste meinte dazu am 07.03.15:
Bei deinem Staunen werde ich auch ganz sprachlos.
Und dass das Leben den Nachnamen benutzt, ist besser zu vermeiden

 EkkehartMittelberg (08.03.15)
Texte mit Selbstreflexion können leukämisch wirken. Dieser nicht. Vielleicht liegt das daran, dass du dich im Funktionieren noch nicht wirklich gergessen hast und dass die Sekunden des Aussteigens sehr nachhaltig wirken.

LG
Ekki

 unangepasste meinte dazu am 10.03.15:
Danke. In der Tat ist es schwierig, solche Texte auf eine Art zu verfassen, die den Leser nicht aussteigen lässt.
RedBalloon (58)
(15.03.17)
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 unangepasste meinte dazu am 17.03.17:
Das stimmt wohl. Von meinem Nachnamen wird wohl eher ein Synonym in Kombination mit "Halt die" gerufen

 GastIltis meinte dazu am 23.04.18:
Liebe S., dein Nachname war in meinem Leben mein erster Spitzname, vom Dialekt her leicht abgewandelt. Und warum? Weil ich offenbar als Kind Schuhe tragen musste, an die ich mich nicht erinnern kann, die von der Form her diesen Namen verdienten. Aber den Gedanken, die Assoziation, die du in deinem Synonym anführst, ist mir nie in den Sinn gekommen bzw. entgegen geschleudert worden. Deine empfindsame Art hat etwas sehr Liebenswertes. Sie geht zu Herzen. Liebe Grüße von Gil.

Antwort geändert am 23.04.2018 um 16:39 Uhr

 unangepasste meinte dazu am 23.04.18:
Hach, mit meinem Nachnamen kann man wohl so einiges anstellen .
Die Schuhe hätte ich gerne gesehen
Liebe Grüße!
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