Tomatenzeit II

Erzählung zum Thema Mord/Mörder

von  tulpenrot

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Tomaten-Sträucher gepflanzt. Die meisten Früchte in den „oberen Stockwerken“ sind noch klein, hart und grün, die unteren werden gerade rot, manche sind aufgeplatzt, haben Risse. Ich weiß nicht, wie ich das hätte verhindern können. Doch sie schmecken trotzdem, wenn man das Schadhafte herausschneidet. Mir fehlt die Erfahrung - wie so oft im Leben.

Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir uns kennen lernten. Eines Tages war sie da, klein, drahtig, sehr kurze Haare. Frau Rubach. Warum sie mich mochte, wusste ich nicht. Wir joggten mit einander. Doch weil sie durchtrainierter war als ich, hängte sie mich nach einer Weile ab, und wir liefen von da an getrennt. Wenn wir uns bei gemeinsamen Bekannten trafen, begann sie mit mir zu diskutieren. Über Gott und die Welt. Mehr über Gott. Ich bin immer vorsichtig bei solchen Themen, vor allem bei solchen Menschen, die wie sie alles besser wussten als ich. Also blieb ich meist still und hörte ihr zu. Beim Garagenfest in unserer Nachbarschaft wollte sie unbedingt neben mir sitzen. Sie erzählte mir, dass sie nun eine Ausbildung in chinesischer Heilkunst machen wollte. Sie hat aber doch drei schulpflichtige Kinder, dachte ich besorgt, und einen Mann. An den dachte ich auch, sagte aber nichts und lächelte nur unsicher. Sie wirkte jedoch so, als ob sie ihr Leben im Griff hätte.

Heute Morgen krümmen sich mehrere Schnecken unter den Sträuchern. Es ist meine Schuld, ich habe Schneckenkorn gelegt. Sie hätten sonst meine Zucchini gefressen und meine Dahlien verzehrt. Aber meine Pflanzen sollen kein Schneckenfraß werden. Was man nicht behütet, wird zerstört. Was man nicht pflegt, verkommt. Lieber nehme ich den Tod der Schnecken in Kauf. Sie sind sowieso so eklig schleimig und kriechen so aufregend langsam durch die Beete. Außerdem fressen sie sich oft noch gegenseitig.

Wir verloren uns aus den Augen. Sie sei ausgezogen, in eine andere Stadt, sagte man mir. Sie hätte ihren Mann verlassen. Aber keiner wusste, was vorgefallen war. Damit hatte ich nicht gerechnet, denn erst kürzlich traf ich das Ehepaar Rubach noch beim gemeinsamen Abendspaziergang. Sie gingen forschen Schrittes nebeneinander auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wir grüßten einander flüchtig, höflich distanziert.
„Und die Kinder?“, fragte ich. Die zwei Großen seien im Internat, die Kleine habe sie mitgenommen, bekam ich zur Antwort. Ich vergaß nach dem Ehemann zu fragen.


Es ist ungemütlich schwül in den engen Gassen der Stadt. Die Luft steht zwischen den Häusern. Zwischen all den eiligen Menschen um mich herum fällt mir ein weißhaariger großer Mann auf. Er sieht Herrn Rubach sehr ähnlich, denke ich, er könnte es sein und auch wieder nicht, denn die Frau an seiner Seite konnte unmöglich Frau Rubach sein. Ich kenne seine Frau, aber diese große langhaarige Frau ist mir unbekannt. Also ist dieser Mann auch nicht Herr Rubach, beschließe ich und bin froh, wenn ich bald in meiner kühlen Wohnung sein kann.

Ihr Haus fand ich schon immer ungemütlich. Es wirkte nahezu unbewohnt. Kein Blumenschmuck im Hauseingang oder an den Fenstern, die auch tagsüber immer geschlossen waren, keine Vorhänge, nur Fensterläden. Irgendwie hatte es keine Seele. Selten sah man jemanden im Garten, selbst die Kinder nicht. Ein glatt geschorener Rasen, Büsche am Rande und ein verlassener Liegestuhl auf der Terrasse – das war alles. Eine unterkühlte Sachlichkeit. Vielleicht brauchten die Bewohner es so, dass alles übersichtlich und gerade war im Äußeren wie in ihrem Leben, überlegte ich. Jetzt also wohnte der Hausherr allein in dem Haus ohne seine Frau, und es war erst recht nicht verwunderlich, dass das Anwesen völlig unbelebt aussah. Er war ein vielbeschäftigter Geschäftsmann und oft auf Reisen.

Ich setze mich in den Schatten meines Gartens. Die Vögel sammeln sich schon in den Büschen und Bäumen. Ihr aufgeregtes, lautes Gezwitscher ist unüberhörbar. Sie fliegen kurz auf, schwenken über die nahen Felder und setzen sich wieder. Sie rüsten sich zum Aufbruch, um der Kälte zu entfliehen. Ein Wunder ist es für uns Menschen. Man sagt, dass die Zugvögel im Fliegen schlafen können und dennoch die Richtung nicht verlieren. Bald wird es kühl sein abends, auch in den Nächten, und ich bezweifle, dass noch all die kleinen grünen Tomaten an den Sträuchern in meinem Garten reif werden können.

Von nun an gibt es nahezu täglich Tomatengerichte. Ich lade mir Gäste ein. Den gedeckten Tisch schmücke ich mit einem großen Strauß Gartenblumen. Ich mag es üppig und farbig, wie es dem Spätsommer entspricht. Wir essen die Tomaten mit Käse oder Schnittlauch, wir essen sie als Salat, wir essen sie gedünstet oder gegrillt oder als Belag auf einer Pizza. Gesund sollen Tomaten sein.
„Sie heißen auch Liebesäpfel“, sagt verschmitzt lächelnd mein abendlicher Besucher. Und wir küssen uns innig.

Das Geschirr ist abgeräumt, allein die Vase mit dem Strauß bleibt zurück. Mein Besucher hat sich einen Block Papier zurechtgelegt, dazu Kohlestift und einen Farbkasten mit verschiedenen Pinseln. Ich schaue ihm für eine Weile über die Schulter, beobachte, wie er mit flotten Strichen die Vase, den Blumenstrauß, das Tischtuch vorzeichnet und dann mit kräftigen Pinselstrichen koloriert. Alle Sommerfarben vereinigen sich nach und nach zu einem ausdrucksstarken Aquarell. In kurzer Zeit ist es fertig.
„Wenn es trocken ist, möchte ich es dort drüben über dem Klavier aufhängen“, sage ich.
Musik und Kunst – wie gut das zusammenpasst. Ich mag das noch von früher.
„Ich möchte dein ‚Früher‘ einmal besuchen. Wie wäre es, wenn wir morgen gemeinsam an deinen alten Wohnort fahren? Magst du?“, fragte er mich. Ich bin einverstanden.

Ich war überrascht, als sie mir eines Tages unvermutet beim Joggen entgegenkam. Wir liefen auf entgegengesetzten Routen. War sie wieder zurückgekehrt an ihren früheren Wohnort? Ihre Haare waren noch kürzer, ihr Gesicht braun gebrannt und noch kantiger als sonst, nicht unsympathisch, eher ungewöhnlich und von daher interessant. Sie grüßte nur flüchtig und eilte weiter. Natürlich musste sie ihr Tempo halten. Ich war da weniger ehrgeizig und wäre stehen geblieben, wenn es sich so ergeben hätte. Wir redeten also nicht mehr über Gott, auch nicht über die Welt. Wir redeten nie mehr mit einander, denn einige Monate später zog ich ebenfalls weg.

Beim Gang durch meinen ehemaligen Wohn-Ort, treffen wir zufällig meine ehemalige Nachbarin.
„Welche Überraschung!“, sagt sie und umarmt mich und meinen Begleiter, „das ist aber schön, euch zu sehen. Habt ihr Zeit? Dann kommt doch zur Kaffeezeit vorbei. Ich habe gerade Zwetschgenkuchen gebacken. Ich hab nur keine Sahne dazu.“
„Danke. Wir kommen natürlich und bringen Schlagsahne mit“, antworte ich. Später sitzen wir draußen in ihrem Garten. Es ist ein angenehm warmer Tag.
„Was ist eigentlich da nebenan los?“ fragt mein Begleiter unvermittelt. Er hatte sich, wie er es als Künstler immer tut, aufmerksam umgesehen, während ich mit Kuchenessen und Reden beschäftigt war.
„Wohnen die Leute da noch drin? Das Haus sieht so leer aus.“
Die Nachbarin bekommt ein ernstes Gesicht.
„Es wohnt niemand mehr drin. Aber die Möbel sind noch nicht abgeholt worden.“ Sie stockt, steht auf, holt die Zeitung von letzter Woche und breitet sie vor uns aus. „Grausamer Mord in beschaulichem Ort“ lesen wir und erkennen auf dem Foto das unbewohnte Nachbarhaus.
Ein Drama habe sich zwischen zwei Männern abgespielt, lesen wir voller Schrecken in dem Artikel. Ungehört und unbemerkt von der Nachbarschaft, mitten in der Nacht sei der Hausbesitzer, Herr Rubach, ermordet worden. Den Mörder fand die Polizei noch in der Nacht ebenfalls tot in einem Gebüsch, nicht weit vom Tatort entfernt, berichtet die Zeitung. Er hatte verschiedene Medikamente eingenommen, dazu reichlich Alkohol getrunken und hatte in solcher Verfassung sein Opfer aufgesucht, getötet und dann Selbstmord begangen. Die Untersuchungsergebnisse dazu seien eindeutig. Die Männer, beide verheiratet und Familienväter, kannten sich. Ein Beziehungskonflikt sei wohl der Auslöser gewesen für diese Tat, hieß es. Der große weißhaarige Mann mit der unbekannten Frau, schoss es mir durch den Kopf. Er war also doch Herr Rubach.
So also hat der Täter mit seinem Opfer, seinem Nebenbuhler, abgerechnet. Und niemand hat es verhindern können. Das Schadhafte sollte beseitigt werden, der Tod wurde in Kauf genommen – nur der Tod?
„Zwei Familien sind nun zerstört, die Kinder verloren ihre Väter. Das ist doch traurig“, meint die Nachbarin. „Und die Mütter und Ehefrauen? Wie können diese nun weiterleben? Jede mit der eigenen Schuld und der Schuld ihrer Ehemänner? Wie trägt man so eine Last durchs Leben?“, frage ich.
„Das ist ja das Schlimme: Der Täter handelte einfach nur egoistisch“, empört sich mein Begleiter, „er sah sich doch nur selber, seine zerstörten Hoffnungen, seine verletzte Ehre. Kein bisschen mehr. Seine Familie war ihm doch völlig egal.“
„Er stand unter Drogen“, entgegne ich, „er war unzurechnungsfähig und hat einfach im Affekt reagiert.“
„In der Zeitung steht aber, dass er schon länger Selbstmordabsichten hatte. Er war als Banker in unlautere Geschäfte verwickelt und hatte seinen Arbeitsplatz verloren. Also doch keine Affekthandlung, das war eine lange geplante Sache“, erwidert die Nachbarin.
„Könnte es nicht sein, dass das spätere Opfer den Mörder geradezu provoziert hat durch seinen Umgang mit dessen Frau?“, überlegt mein Begleiter, „wer weiß, wie lange und wie offensichtlich die beiden ihre Liebschaft ausgelebt haben?“
„Wir wissen zu wenig. Es ist einfach nur schrecklich, in was sich Menschen verrennen können“, sage ich und denke daran, wie unruhig doch die Menschen sind, wie unbeständig. Sie suchen nach Wärme und finden sie doch immer nur für eine gewisse Zeit. Dann brechen sie wieder auf, um der Kälte und den Enttäuschungen zu entfliehen, aber oft völlig kopflos. Wie die Zugvögel, denke ich. Nur eines ist anders: Die Vögel kennen instinktiv ihr Ziel und finden die richtige Route auch im Schlaf.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (29.04.15)
Eine spannende Erzählung ist dir gelungen, Angelika, an der mir besonders die unterschiedlichen Perspektiven auf den Mord gefallen und dass die Wandlung der Frau Rubach von Kommunikationsfreude zur Zurückhalting durch die tragische Handlung ihre Erklärung findet.

LG
Ekki

 tulpenrot meinte dazu am 30.04.15:
Lieber Ekki,
hab herzlichen Dank, dass du dir Zeit genommen hast fürs Lesen und Kommentieren. Es freut mich, dass du die Erzählung spannend fandest. Ich fand es auch spannend sie zu schreiben - es war der Versuch, nicht einfach nur langatmig und umständlich Fakten nach einander zu berichten, sondern aus dem Geschehenen etwas zu formen, das ansatzweise für das Ganze auch einen allgemeinen Hintergrund, einen Weg zur eigenen Interpretation anbietet. Ich kam auf die Idee nach einer Lesung einer Tübinger Autorin, die eine kriminelle Tat aus ihrem Wohnumfeld zu einer Geschichte machte. Und da dachte ich, das will ich auch einmal probieren. Das heißt: meine Geschichte ist autobiografisch, aber von mir so geformt und ergänzt, dass sie auf 4 DINA4 - Seiten erzählbar wird - die einzelnen Elemente haben "in echt" stattgefunden, aber nicht auf diese Weise.
LG
Angelika

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 30.04.15:
Liebe Angelika, eine so komplexe Erzählung zu schreiben, in der die vielfältigen Bezüge immer ihre Korrespondenz finden, das war gewiss nicht einfach.
Nach nochmaligem Lesen habe ich die Tomatenzeit II zu meinen Favoriten genommen.

LG
Ekki

 tulpenrot schrieb daraufhin am 30.04.15:
Lieber Ekki, diese Entsprechungen zu erfinden - das war der Reiz des Ganzen beim Schreiben. Hab nochmals ganz herzlichen Dank udn viele Grüße
Angelika

 linkeln (31.05.15)
...du hast ein sprache , die mit ihrer selbstverstaendlichkeit und leichtigkeit mitzieht,allerdings fand ich den offensichtlichen mord uebertrieben.vielleicht waere es moeglich gewesen ihn irgendwie anzudeuten ohne es auszusprechen...dass mit dem garten und den schnecken und schneckenkorn...so in diese richtung haette ich es mir gewuenscht..so dass der leser selber auf die idee von einem tragischen unglueck ausgeht...
habe diese geschichte sehr gern gelesen

 tulpenrot äußerte darauf am 01.06.15:
Deine Kritik ist durchaus berechtigt - ich habe an dem Text ja schon mehrfach gearbeitet und sollte diese Version wieder unter Verschluss stellen. Die "Tomatenzeit" (ohne die II) ist eine kürzere Fassung, aber auch noch unbefriedigend. Du hast Recht: Ich sollte mich mehr um die Beibehaltung der Verschlüsselung bzw. der Metaphern bemühen. Die Geschichte ist zu sachlich informativ und zu wenig "literarisch". Ich hab in den Ferien Erri de Luca, Montedidio gelesen - SO möchte ich schreiben können!
LG und Danke
Angelika
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