Larven

Kommentar

von  autoralexanderschwarz

gut-und-böse und gut-und-schlecht
Nietzsche legt den Finger in die Wunde und lässt ihn glühen. All die hehren Ideale, die Zivilisation, die Menschenrechte, der Sitzplatz, den man der gebrechlichen alten Dame überlässt: eine Herdentier-, ja eine Sklavenmoral, genealogisch rekonstruierbar und tief verwurzelt in einem Christentum, das Herrschaftsverhältnisse heiligte, eine "Verzärtelung" des Menschen, die das Leben zügelt und einschränkt. Die symbolisch aufgeladene Gut-Böse-Schablone ist ohne einen Gott nicht mehr haltbar, sie zerfällt, und viel einleuchtender und anthropologisch folgerichtiger ist die alternative Zauberformel (gut-und-schlecht) die Nietzsche dem Lehrling hinterlässt, gut  und schlecht, gemessen an den individuellen Bedürfnissen des noch nicht vollständig domestizierten Raubtiers, das der Mensch eigentlich ist. Nietzsches "Vivisektion" der Moral separiert den Herren vom Sklaven, wobei mit Blick auf die "Menschheit" der Sklave die Diagnose, der Herr das ferne Ideal ist.

Larven 
Nietzsche berichtet aber auch von jenen, die so viel reden, weil sie ein Geheimnis bewahren wollen, er zelebriert all jene Metaphern, die den Lug und Trug, die Maskerade, die Rüstung, die Uniform, kurz die Täuschung des Menschen dem Menschen gegenüber beschreiben. Der Intellekt des Tieres Mensch ersetzt ihm seine fehlenden Krallen, überall ist Lüge, selbst in den Begriffen. Umso erstaunlicher ist, dass Nietzsche diese Erkenntnis nicht auf den Bereich der Moral ausweitet. Der Mensch soll frei nach seinen Bedürfnissen agieren und jenes gut-und-böse überwinden, das ihn einschränkt und das Relikt einer Lüge ist, die der Mensch einmal geglaubt hat. Glaubt Nietzsche wirklich, dass der Herdenmensch, den er beklagt, in diesem Punkt tatsächlich ehrlich ist? Der brave Bürger des 19. Jahrhunderts sprach wohl auch schon damals hinter verschlossenen Türen anders als in der Öffentlichkeit und wenn er selbst dort das Büßerhemd des Anstandes nicht ablegte, dann allein, weil er ungeachtet aller Säkularisierung vielleicht doch noch ein wenig an den Gott seiner Vorfahren glaubte, der alles und jeden sah und die Hölle für die Sünder bereit hielt. 


heute 
Spätestens in der heutigen - säkularen - Welt (von der religiösen sei hier nicht gesprochen), genauer: in der kapitalistischen Welt, werden auch diese Larven immer deutlicher sichtbar. Überall tauchen Widersprüche auf. Obwohl nun alle das gleiche - bspw. freiheitliche, demokratische, ökologische - Kostüm tragen, kann man nun deutlicher die Menschen dahinter erkennen. Alle finden es schlimm, wenn irgendwo wieder irgendeine Fabrik zusammenstürzt und unzählige Arbeitssklaven unter sich begräbt, wenn Menschen verhungern oder im Mittelmeer ertrinken, furchtbar ist das, sagt die Larve - und das Gesicht dahinter, dass es eigentlich egal ist. Dem braven Bürger ist der Unterschied zwischen Herren- und Sklavenmoral durchaus bewusst (er kannte ihn immer), auch wenn er ihn nie so bezeichnen oder diese Bezeichnung gelten lassen würde. Der brave Bürger weiß sehr wohl, wann gut-und-böse und wann gut-und-schlecht der Maßstab seines Handelns ist. 'Ich gönne mir das jetzt', sagt das Gesicht manchmal; die Larven häufig, dass man 'sowieso nichts ändern' kann, die Gesichter, dass man dies auch nicht will, nicht in letzter Konsequenz, weil der Nachteil des Anderen irgendwie mit dem eigenen Vorteil verwoben ist, weil es oftmals schlecht wäre dem Anderen zu helfen.     


Staat [/b] 
Der demokratische Staat kann seine Handlungen durch die Zustimmung einer Mehrheit (sei diese aktiv durch Wahl oder passiv durch Nichtwahl) legitimiert sehen, was ohne Frage nicht nur in einem politischen, sondern auch in einem moralischen Sinne verstanden werden muss. Die Handlungen des Staates sind in diesem Sinne Handlungen des Bürgers. Die Moral des Staates die Moral einer Mehrheit der Bürger. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass auch der Staat sich in eine altbekannte Larve gehüllt hat. Auch der Staat redet viel von gut-und-böse, während er im Verborgenen das gut-und-schlecht abwägt. Das folgende Beispiel ist exemplarisch, wobei die gleiche (oder sogar dieselbe) Larve einem überall begegnet, wenn man sie einmal erkannt hat.

Zwei Fregatten [/b] 
Deutschland schickt zwei Fregatten ins Mittelmeer, um den Flüchtlingen, die dort seit Jahren ertrinken, zu helfen. Eine augenscheinlich gute Tat, weil es böse wäre die Ertrinkenden einfach so ertrinken zu lassen. Zuvor hatte man es noch als schlecht empfunden finanzielle Mittel aufzuwenden, um die bereits bestehenden Rettungsaktionen der Italiener zu unterstützen, wohlwissend dass es nicht schlecht sein muss, wenn das Meer eine natürliche Barriere für einen Flüchtlingsstrom ist, der in den Medien auch gerne als Flut beschrieben wird, dass es vielleicht sogar gut so ist. Auch hier war es im gleichen Maße böse, aber das spielte keine Rolle. Die Medien zerrten auf einmal dieses Böse in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit (ganz im Sinne Arendts) und nun, wo der Staat - als Repräsentant des Bürgers - bei seinem gut-und-schlecht ertappt ist, wo das gut-und-schlecht des Bürgers auf einmal unausgesprochen im Raum steht, da sind zwei Fregatten eine gute Tat, gut weil man Ertrinkende nicht einfach ertrinken lässt und gut, weil man nun ja etwas Gutes tut und die Larve wieder sicherer sitzt. Überprüft man aus einer solchen Perspektive staatliches Handeln, Regulierung und Gesetze, so findet sich keine Tat, die allein mit dem gut-und-böse-Prinzip erklärbar wäre, oder um es anders auszudrücken: es findet sich keine gute Tat, die nicht zugleich auch gut war. Es gibt zahllose weitere Beispiele, Widersprüche, die sich ersinnen und ergänzen ließen, wobei die Stichwörter Freiheit, Demokratie, Ökologie (sofern man sie ernst nimmt) allein genügend weitere Ausgangspunkte böten.

gut-und-böse ist gut  
Der kapitalistische Staat entscheidet augenscheinlich nach dem gut-und-schlecht-Prinzip. Ein Flüchtling, den man im Rahmen der Deklaration, dass man gut ist, aufnimmt, ist gut, wenn er durch seine Arbeitskraft Gewinn erwirtschaftet, er ist schlecht wenn er Kosten oder Probleme verursacht. Gut ist für den Staat, wenn alle ihre Rolle mitspielen und zumindest in der Öffentlichkeit das Gut und das Böse etwas gelten. Der Staat kann einzelne Subjekte - Verbrecher -, die den eigenen Vorteil über das geltende Gesetz stellen, einsperren; er ist gänzlich hilflos, wenn nach und nach alle Bürger selbst abwägen, ob es gut oder schlecht ist einen Zebrastreifen, eine Ampel, eine alte gebrechliche Dame zu überfahren, einfach weil es möglich und die Gefahr einer Sanktion nur gering ist. Es muss ein zentrales Anliegen des Staates sein, dass seine Bürger weiterhin daran glauben, dass es böse ist die Dame zu überfahren (was immer das bedeutet), selbst wenn es vielleicht nicht notwendig schlecht ist.

Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, lässt sich festhalten, dass das Raubtier niemals domestiziert war, dass es nur gelernt hat im Verborgenen zu beißen; die Verzärtelung war gespielt, die Herde verbarg auch schon damals ein Heer aus Wölfen. Ebenso wie der Staat dem Bürger suggeriert, dass das Gut und das Böse sein Handeln bestimmen, suggeriert auch der Bürger dem Bürger, dass er an das Gute glaubt. Weihnachten spendet er für die Armen, die arm bleiben, ebenso wie er reich bleibt. Er sorgt sich um die Umwelt und kauft buntes Plastikspielzeug für seine Kinder. Windkraftanlagen oder Flüchtlingsheime sind gut, aber sie sind vielleicht auch schlecht, weshalb der Bürger zögert sie in seiner unmittelbaren Nähe zu dulden. Solche und so viele andere Widersprüche lösen sich auf, wenn man begreift, dass überall um einen herum "gut-und-schlecht" der eigentliche Maßstab und "gut-und-böse" - vielleicht schon immer - eine Larve ist.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Obenstehender Kommentar bezieht sich hauptsächlich auf "Jenseits von Gut und Böse" und "Zur Genealogie der Moral" von Friedrich Nietzsche. Einzelne Gedanken und Begriffe sind aber auch aus anderen seiner Werke entlehnt. Da dieser Text nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit hat, habe ich sinngemäße oder wörtliche Zitate nicht als solche gekennzeichnet und hoffe, dass dennoch deutlich wird, wo ich Nietzsche referiere und wo ich mich auf ihn beziehe. Dies sind nur Gedanken. Wer es vermag, möge widersprechen.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-genealogie-der-moral-3249/1

http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3250/1

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