Auf der Suche nach einem Einäugigen

Anekdote zum Thema Glaube

von  Bluebird

Während meiner achtmonatigen Bibelschulzeit (1987/1988) kam es schon gelegentlich vor, dass ich mir  etwas kaserniert vorkam. Zwar konnte man in den freien Zeiten bis 22 Uhr sich außerhalb des Bibelschulgeländes aufhalten, aber das 6000 -Seelendorf Erzhausen hatte jetzt außer einer gewissen Beschaulichkeit auch nicht gerade viel zu bieten.
  So sagte ich denn auch sofort zu, als mich Frank aus der Oberstufe fragte, ob ich Lust an einem kleinen evangelistischen Einsatz im Frankfurter Rotlichtmilieu hätte. "Gut", sagte er, " wir treffen uns um 18.30 Uhr bei mir im Zimmer um für den Einsatz vorher zu beten.
    In Franks Zimmer waren wir zu viert und beteten schon eine ganze Weile, als mir auf einmal etwas  in den Sinn kam. Ich sagte zu den Anderen: "Mir ist gerade das Wort Einäugiger in den Sinn gekommen."
    Gebetseindrücke sind in pfingstlerischen Kreisen nicht so ungewöhnlich und werden als´ Hinweise` verstanden. "Vielleicht begegnen wir ja einem Einäugigen", sagte Klaus, "wir sollten dafür offen sein!" Kurz darauf beendeten wir unsere Gebetszeit, setzten uns dann in Franks Auto und fuhren Richtung Frankfurt los.

Wir kamen etwa gegen 20 Uhr am Zielort an und Frank gab uns jedem einen Stapel christlicher Traktate. "Am besten wir gehen umher und verteilen die, wenn sich die Gelegenheit bietet!", meinte er. An sich keine schlechte Idee und eine übliche Vorgehensweise, aber ich merkte recht schnell, dass ich mich unwohl fühlte. Es war kaum jemand zu sehen und ein paar Angesprochene reagierten sehr abweisend.
  "Sorry", sagte ich zu den Anderen, "aber ich spüre, dass ich mich irgendwie absondern muss. Auf eigene Faust agieren soll. Den Einäugigen suchen muss" Frank schaute mich überrascht an, sagte aber dann: "Ist gut! Gegen 22 Uhr treffen wir uns dann wieder am Auto. Sei pünktlich!"
    Erleichert verließ ich die anderen Drei und ging geradewegs Richtung Römerplatz los. Den kannte ich noch ganz gut vom Kirchentag, der einige Monate zuvor stattgefunden hatte. Ich verteilte einige Traktate, merkte aber, dass ich weiter musste. Und so lief ich im Blindflug durchs abendlich, teilweise recht menschenleere Frankfurter City. Wo war der "Einäugige"?

Etwa gegen 21.30 Uhr entschied ich, dass ich langsam den Rückweg zum Auto antreten sollte. Aber in welche Richtung musste ich gehen? Irgendwie hatte ich etwas die Orientierung verloren. Am besten ich frage mal jemanden, dachte ich.
  In diesem Augenblick sah ich einen Mann um die Ecke biegen und ging auf ihn zu. Ich erschrak! Der Mann trug ums linke Auge einen Verband mit schwarzer Augenklappe.     
  "Entschuldigung", sagte ich, "darf ich Sie kurz etwas fragen?" Der Mann stoppte überrascht und schaute mich fragend an. "Wissen Sie den Weg Richtung Hauptbahnhof?"
    Der Mann hatte gerade mit seiner Erklärung geendet, als ich die Gelegenheit nutzte.  "Was ist mit Ihrem Auge?", fragte ich ihn. "Ach", sagte er, "eine OP. Ich bin heute aus dem Krankenhaus entlassen worden. Das wird schon wieder!"
    Nun erzählte ich ihm von meinem Gebetseindruck und dass ich auf der Suche nach einem "Einäugigen" in Frankfurt unterwegs wäre. Der Mann schaute mich nun interessiert an. "Glauben Sie an Gott?", fragte ich ihn. "Ja, irgendwie schon! Aber ich bin kein Christ und auch kein Kirchgänger", entgegnete er. "Ich würde gerne für Sie beten", sagte ich. "Wären Sie einverstanden?" Er nickte.
  Und so kam es, dass ich dort auf dem Bürgersteig einer Frankfurter Strasse für seine Genesung und sein (ewiges) Heil  unter Handauflegung betete. Danach reichte ich ihm ein Traktat und verabschiedete mich. "Danke!", sagte er freundlich. Und irgendwie schien es mir, als ob ihn ein göttlicher Lichtstrahl getroffen hätte. Freudig machte ich mich auf den Weg zurück zum vereinbarten Treffpunkt.


Anmerkung von Bluebird:

Eine autobiografische Kurzgeschichte

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Graeculus (69)
(02.06.15)
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