Morgens halb zehn in Deutschland

Erzählung zum Thema Ausweglosigkeit/ Dilemma

von  Stone

Es war gegen zehn Uhr, als er das Jobcenter betrat. Einige beschrieben ihn später als jemanden, den man nach einem Blick wieder vergaß. Anderen fiel er gar nicht erst auf. Er  war bekleidet mit einem T-Shirt, einer Jeans und trug Slipper. Er zog ganz brav eine Karte aus dem Automaten und nahm Platz in der Wartezone, wo über 20 Leute saßen. Er blickte sich um; schaute auf Migranten, die sich in ihrer Muttersprache unterhielten; Frauen, die sich um ihre Kleinkinder kümmerten, die an diesem so deprimierenden Ort die Spannung zu spüren schienen; auf Männer, deren Gesichtsausdruck von übelgelaunt über desillusioniert bis verzweifelt war (vielleicht war diese Einschätzung der Mienen auch seiner Stimmung geschuldet). Dennoch: entspannt schien hier keiner zu sein. Bis auf ihn, der eine äußerliche Ruhe ausstrahlte, als wäre er mit der Welt und sich selbst im Reinen. Seine Gedanken kreisten…
***
„Sie müssen die Entscheidung akzeptieren. Nachdem sie schon einmal eine zehnprozentige Kürzung in Kauf nehmen mussten, bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen ihr Hartz-4 Geld weiter zu reduzieren.“
Ein lapidarer Satz. Scheinbar eiskalt gegenüber dem „Kunden“; abgehärtet gegen jegliche Entschuldigungen, Rechtfertigungen oder Erklärungen, mögen sie erlogen oder wahr sein, tat er seine Pflicht als Erfüllungsgehilfe der Institution, die sich seit einigen Jahren den Anschein einer serviceorientierten Einrichtung gab. Dennoch blieb die Macht gegenüber den Machtlosen dieselbe. Ob das Kind nun Arbeitsamt oder Jobcenter hieß; ob die Arbeitslosen nun Kunden waren oder nicht. So gingen seine wortreichen Erklärungen wie erwartet ins Leere. Und er hatte das Gefühl, dass dieser Besuch eher seine Lage noch verschlimmert hätte, was nicht der Fall war. Hungrig, enttäuscht und ohne Obdach war er vorher schon. Doch jetzt war auch die Hoffnung weg; die Hoffnung, die als letztes gestorben war.
Das alles ging ihm durch den Kopf, als er dort saß und wartete. „Nummer 64“ zeigte der Anzeiger an. Er war erst zehn Nummern später dran. So gingen seine Gedanken wieder und wieder an die Begegnung zurück.
***
Nach dem ernüchternden wie ergebnislosen Gespräch lief er durch die Straßen seiner ehemaligen Wohnung, in der jetzt nun noch seine Exfrau und ihr gemeinsamer Sohn lebte. Seine (Ex-) Familie, der er sich nicht nähern durfte, da ein früherer Besuch eskalierte und ihm ein folgenschwererer – alkoholbedingter – Aussetzer passierte. Er verlor die Beherrschung und gab seiner Exfrau eine Ohrfeige, die unglückseligerweise auch sein vierjähriger Sohn, der gerade „Mutti, Mutti“ rufend aus dem Kinderzimmer kommend, mitbekam. Von da an war es endgültig aus. Sein eh schon zerrüttetes Verhältnis zu seiner Frau war – kaum zu glauben – ein einem neuerlichen Tiefpunkt angelangt. Und da dieser Schock – auch für ihn war es schockierend sich selbst so erleben zu müssen – beschäftigte ihn derart, dass Termine, seien sie noch so eminent wichtig, nur zweitrangig waren. So war es. Und nun war es zu spät, um daran noch etwas zu ändern.
***
„Pling“ – die Ziffer 70 leuchtete auf und er, in Gedanken ganz woanders, zuckte leicht zusammen, ob diesem vergleichsweise leichten Geräusch.      „Noch 4 Nummern, noch 4 Nummern, dachte er und studierte nochmals die Besucherschar.Loser, so wie ich; Gestrandete, Arbeits- Hoffnungs- und Ziellose, die in diesem ach so reichen Land leben und doch nur vegetieren. Was ist bloß passiert mit mir?‘  Und wieder dachte er an den Tag, als er das letzte Mal diese äußerlich so fröhlich wirkende, doch letztlich triste Umgebung aufgesucht hatte.
***
Nach einer Stunde, die er durch sein ehemaliges Stadtviertel gewandert war, fiel ihm ein, dass er noch einige Habseligkeiten wie CD’s ,, Bücher oder Papiere bei seiner Ex-Frau hatte. So (er-)fand er einen Grund doch noch mal hinzugehen. Er wusste, dass es ein Fehler war jetzt hinzugehen. Er tat es trotzdem. Er hoffte – wider besseres Wissen – auf ein wenig Mitleid. Doch kaum hatte er geläutet, hörte er die Stimme seiner Exfrau: „Hau ab, sonst rufe ich die Polizei. Was willst du hier; deine Sachen habe ich schon weggeschmissen.“ „Ich, Ich brauch….“ Weiter kam er nicht. Ein „hau endlich ab“ schallte ihm entgegen. 
Mit Tränen in den Augen; Verlust seiner Familie, Verlust seines Vaters, der vor einem halben Jahr starb. „Wofür lebe ich noch?“ Diese vier Worte gingen ihm immer öfter durch den Kopf. Immer und immer wieder. So nahm ein Gedanke Gestalt an und wurde zu seinem Neuen Mantra.
***
  „74“ – seine Nummer wurde angezeigt. Jetzt, wo es soweit war, schwankte er kurz in seiner Entscheidung; um dann umso fester waren seine Schritte, ein paar Schritte, vielleicht 10, vielleicht 15, bis zur Tür 164, in die er eintrat. Er hörte – wie aus weiter Ferne die Worte des Sachbearbeiters, obgleich der wenige Meter vor ihm stand. „Was wollen sie denn schon wieder hier? Wir hatten doch alles besprochen und waren uns einig, dass sie…“ Da zog er den Revolver – einer der wenigen Erbstücke, die sein Vater ihm vererbt hatte. Innerlich lachte er, lachte über die Floskel ,waren uns einig, waren uns einig, waren uns einig.‘  Ohne weitere Worte schoss er ein, zwei, drei Mal auf den einst so verhassten Menschen, der ihm nun nahezu als Marionette, als austauschbare Figur in diesem für ihn so miesen Spiel erschien. So hörte er, wie durch einen Nebel irgendwelche gestammelten Worte. Oder es erschein ihm wie ein Gestammel.
Er verließ das Zimmer, das Gebäude, ohne dass er aufgehalten wurde. Trotz einer ausbrechenden panikartigen Reaktion der Umwelt, schien ihn keiner zu beachten, was ihm das Gefühl gab, er wäre unsichtbar. Er ging zur Wohnung seiner Exfrau. Daran, wie er ins Treppenhaus kommen würde, hatte er gar nicht gedacht. Er klingelte einfach bei den anderen Mietern, von denen ihm einer, per Summer ins Haus ließ. Die paar Treppen hoch, läuten und die Waffe ziehen, diese Aktionen, diese Tätigkeiten machte er wie in Trance. Es erschien ihm, als würde sein Körper automatisch agieren. Kaum ging die Tür auf, kaum hatte sie ihn erblickt, da feuerte er bereits mitten in ihr Gesicht, dem Gesicht, in das er sich einst unsterblich verliebt hatte. Doch weder sie noch er waren unsterblich. Sein Sohn, der teils neugierig, teils ängstlich in den Flur gelaufen kam, schien das Geräusch der Waffe unterschätzt zu haben. „Was ist mit Mutti, Mutti, sag doch was. Papi, was ist mit Mutti los?“ 
Er ging ihm entgegen, stieg über die am Boden liegende Frau und sprach: „alles wird gut, mein Sohn, alles wird gut.“ Er warf sich förmlich in die Umarmung mit seinem Kind, dann schoss er in den Kopf seines eigen Fleisch und Blut. Anschließend schoss er sich in den Schädel und dachte. In seinem Kopf gab es kein Platz mehr, außer dem Gedanken:, alles ist vorbei.‘ Dachte dass das Leben vorbei war; vorbei alle Empfindungen, ob Liebe, ob Hass, Müdigkeit, Verzweiflung, Angst oder Schmerz; Schmerz, den er jetzt – trotz seines Kopfschusses  - nicht mehr empfand. Und das war das Letzte, was er dachte; endlich ist dieser Schmerz, diese Welt ertragen zu müssen – jenseits aller Depressionen oder melancholischen Anwandlungen – dieser Schmerz, alles immer nur einstecken zu müssen, dieser Schmerz ist nun vorbei.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.09.15)
"Ein lapidarer Satz. Scheinbar eiskalt gegenüber dem..."

An dieser Stelle habe ich dann aufgehört zu lesen. Warum? Weil ich selbst erkennen und nicht Vorgekautes haben will. Es ist die Aufgabe eines guten Autors, den Leser seine eigenen Schlüsse ziehen lassen zu können. Finde ich.
Graeculus (69) meinte dazu am 06.09.15:
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