KLATTKES MÄRCHENSTUNDE: FREI NACH DEN GEBRÜDERN GRIMM: FRAU HOLLE ÜBER BERLIN

Erzählung zum Thema Aktuelles

von  Klattke

Eine alte Witwe hatte zwei Töchter. Die eine fleißig und karrierebewusst, die andere lebte in den Tag und ließ es sich gutgehen. Die Witwe hatte diese aber lieber, weil es ihre eigene Tochter und sie nicht auf den Kopf gefallen war.

Die Fleißige arbeitete den ganzen Tag im Hause, oder sie saß am Märchenbrunnen in Friedrichshain und schrieb per Hand Bewerbungen für Arbeitsstellen, bis ihr das Blut aus den Fingern kam. Einmal war sogar der Füller blutig und sie wollte ihn im Wasser abwaschen. Dabei entglitt er ihr und fiel in den Brunnen. Sie lief nach Hause und berichtete der Stiefmutter davon. Doch die meinte nur: " Wat biste so blöd, unsre Knete iss diesen Monat längst aus, sieh zu, dess de ihn wieda bekommst." Da lief sie zum Brunnen, stürzte sich hinein und wurde dabei ohnmächtig.

Als sie wieder zu Besinnung kam, stand sie auf einer bunten Wiese mit lauter Versprechungen auf gut bezahlte Jobs. Zuerst kam sie zu einem Backshop. Da durfte sie einen Tag lang kostenlos zur Probe arbeiten und die fertigen Brote aus dem Backofen holen. Sie schaffte auch alles, doch am Abend erklärte man ihr, dass sie morgen nicht wieder kommen brauche. Man lasse einen anderen zur Probearbeit kommen.

Da ging sie weiter und kam zu einem Apfelbauern. Der bot ihr an, einen Tag lang unentgeltlich an der Ernte teilzunehmen. Sie schaffte auch eine ganze Reihe Äpfel von den Bäumen und stapelte sie fein säuberlich in Kisten. Doch am Abend erklärte ihr der Bauer, dass morgen ein anderer käme.

Da ging sie weiter und kam zum Haus einer alten Frau. Die winkte sie herbei und fragte das Mädchen, ob sie nicht ein unbezahltes Praktikum bei ihr machen wollte. Von ihren Hartz IV könnte sie sich ein schönes Leben machen. Sie sollte die Betten aufschütteln, dass es über Berlin schneien möge. Da war das Mädchen aber froh, kostenlos arbeiten zu dürfen und willigte ein. Sie war auch sehr fleißig und Berlin erlebte einen schönen verschneiten Winter. Doch wie jedes Praktikum ging auch dieses zu Ende. Die Alte führte sie zum einem Tor. Das Mädchen bekam einen Handschlag und wurde mit Zertifikaten über jobcentergeförderte Maßnahmen zugeschüttet, die alle an ihr hängen blieben. Dann schloss sich das Tor und das Mädchen kam, da der BER immer noch nicht fertig war, am Flughafen Tegel an. Als es nach Hause kam, gurrten die Tauben vom Dach:

"Kiekt ma, unsere unbezahlte Praktikantin iss wieda da!"

Die Stiefmutter musste sie wieder zu Hause wohnen lassen, da junge Erwachsene unter 25 Jahren, die Hartz IV beziehen, vom Jobcenter an die Eltern verwiesen werden.

Das Mädchen erzählte ihrer Schwester von den glänzenden Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Diese wurde neugierig und wollte sich das nicht entgehen lassen. Sie setzte sich an den Märchenbrunnen und begann, Bewerbungen zu schreiben. Sie stach sich mit der Spitze des Füllers in den Finger und das Blut floss. Da steckte es den blutigen Füller in den Brunnen und ließ ihn entgleiten. Sie sprang hinterher, wurde ebenfalls ohnmächtig und erwachte auf der Wiese.

Als der Backshop ihr anbot, einen Tag kostenlos zur Probe zu arbeiten, schaute sie nur entgeistert und sprach: "Seh ick so blöd aus, hier ohne Bezahlung zu arbeeten? Nüscht da, machen Se hier jefälligst ihren Kram alleene".

Auch der Apfelbauer bot ihr die unentgeltliche Probearbeit an, und sie wurde missmutig und schimpfte, oder wie der Berliner zu sagen pflegt, kodderte: "Also ick jloob ick werd nich mehr. Ohne een Cent Bezahlung werd ick mir kaum den janzen Tach ihre Äppel uff de Birne regnen lassen. Schämen Se sich denn ja nich, die Leute hier so auszunutzen? Sehn Se zu, dess Se nen anderen Doofen finden".

Schließlich kam sie zu der Alten. Die bot ihr das unbezahlte Praktikum an. Um überhaupt etwas zu machen, nahm sie dies Angebot auch an. Am ersten Tag war sie noch motiviert, schüttelte die Betten und über Berlin legte sich eine schöne Schneedecke. Am zweiten Tag wurde sie der unbezahlten Arbeit wegen aber zornig. Sie schüttelte die Betten nur lasch aus und wirbelte noch ordentlich Staub auf, so dass nur schmutziger, dünner Graupel über Berlin niederging. Damit wollte sie die Menschen aufrütteln und aus ihrer winterlichen Traumwelt holen. Natürlich bemerkte dies die Alte. "Dir werd ick helfen", schimpfte sie. Sie führte das Mädchen zum Tor und ließ es mit Jobcentersanktionen zu regnen, die alle an ihr hängen blieben. Dann schloss sich das Tor, und da es am BER nach wie vor nicht den geringsten Fortschritt gab, kam auch sie am Flughafen Tegel an.

Sie lief zunächst zum Rechtsanwalt, um sich gegen die Sanktionen zu wehren. Dann ging sie nach Hause und die Tauben vom Dach sangen:

Kiekt ma, unsere uffrechte Praktikantin iss wieda da!"

Die Sanktionen wurde sie leider nicht los, weil die sind Wirklichkeit und kein Märchen. Sie sorgte aber dafür, dass die Alte keine Arbeitskräfte vom Jobcenter mehr finanziert bekam. Seither schneite es nicht mehr über Berlin und der Klimawandel setzte sich auch hier durch. Das Mädchen machte natürlich keine Berufskarriere, aber sie war für ihre aufrechte Art angesehen und lebte glücklich bis ans Ende ihrer Tage.

Währenddessen machte ihre Schwester ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen und wenn sie nicht gestorben ist, macht sie zu Zeit gerade ihr nächstes…!

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(02.12.15)
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 Dieter_Rotmund (03.12.15)
Nicht schlecht, ich stoße mich nur an der Statusfatalität der beiden Hauptfiguren. Die Seitenhiebe auf die Flughäfen passen nicht so recht, dafür macht die Berlinerei sprachlich was her, will sagen, macht den Text lebendig.
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