Die Weisen

Legende zum Thema Weihnachtsgeschichte

von  Sturmhexe

Die Weisen Männer hatten den Stern gesehen, seine Bedeutung erkannt und waren mit Geschenken, würdig eines Königskindes, Dienern, Kamelen und Gepäck, kurz: mit einer ganzen Karawane aufgebrochen. Ihre Geschichte sollte mit einigen Worten in der Bibel erwähnt werden und mit vielen weiteren Worten, falschen Namen, und erfundenen Königtümern in den vielfältigen Legenden und Heiligengeschichten der Völker.

Drei Weise Männer sollen es gewesen sein. Doch auch da irren die Überlieferungen möglicherweise. Drei Geschenke wurden erwähnt, und vielleicht waren es auch drei Männer, die dort an der Krippe standen, aber ich glaube, es war ganz anders.

Immer und zu allen Zeiten gab es weise Menschen, weise Männer, aber auch weise Frauen, und oft waren die Männer die weisesten, die das Glück hatten, eine weise Frau als Mutter, Schwester oder Ehefrau zu haben.

Und so sahen auch weise Frauen den Stern und erkannten seine Bedeutung. Auch sie wählten Geschenke aus, die sie dem neugeborenen Kind mitbringen wollten. Ihre Geschenke waren jedoch andere: Stoffe, die geeignet waren, ein Kind hinein zu wickeln, Tiegel mit Salben, die gut für den Körper von Mutter und Kind waren, kleine Beutel mit Kräutern und Gewürzen, um den Milchfluss anzuregen, Entzündungen zu verhindern und Speisen zu würzen, holzgeschnitzte Tierfiguren als Spielzeug für das Kind und schließlich eine kleine, kräftige Ziege, die bereits Milch gab.

Auch sie machten sich auf die Reise, zusammen mit der Karawane der Männer. Nur eine von ihnen besaß ein eigenes Kamel, eine andere einen Esel, die übrigen waren zu Fuß unterwegs. Eine Weile mühten sie sich, das Tempo der Karawane mitzuhalten, doch schließlich entschieden die Frauen eines Morgens, die Männer voraus ziehen zu lassen und ihnen in ihrem eigenen Tempo zu folgen. Das Kamel wurde mit dem Gepäck aller Frauen beladen, die älteste von ihnen bestieg den Esel, und so folgten sie weiter ihrem Weg.

Die Landschaft war karg, nur selten trafen sie andere Reisende, und immer, wenn sie in Siedlungen kamen, kauften sie neue Vorräte und füllten ihre Wasserbehälter auf. Eines Tages sahen sie aus der Ferne eine schwarze Rauchsäule. Sie eilten ihr entgegen und entdeckten ein einzelnes Gebäude, das von einem Feuer völlig zerstört worden war. Als sie näher kamen, sahen sie mehrere Personen, die rußgeschwärzt in einiger Entfernung im Schatten eines Busches saßen. Zwei Kinder, ein Erwachsener. Die Mutter? Vermutlich, denn sie trug einen Säugling auf dem Arm, der aus Leibeskräften schrie. Die jüngeren Frauen liefen schnell zu ihnen, um Hilfe anzubieten und zu sehen, was sie tun konnten. Die größere Person richtete sich auf, und streckte ihnen das Baby entgegen. Die erste von ihnen nahm das Kind an sich und erkannte jetzt auch, dass es keine Frau, sondern ein Mann war, der nicht wusste, wie er das schreiende Kind versorgen sollte.

Schnell hatten die Frauen die Lage unter Kontrolle, die Ziege wurde gemolken, und ihre Milch ließ das kleine Kind schnell ruhiger werden und schließlich einschlafen. Wasser wurde aus dem nahen Brunnen geholt und die Kinder und der Mann gewaschen. Brandwunden, die der Mann an den Händen und am Oberkörper hatte, wurden ausgewaschen und mit Salbe und sauberen Tüchern verbunden. Eine der Frauen hatte derweilen ein Essen bereitet, und langsam wurde das Ausmaß der Tragödie deutlich, die sich hier wenige Stunden zuvor abgespielt hatte. Die Überreste des Herdfeuer vom Vortag waren aus irgendeinem Grund in den frühen Morgenstunden wieder aufgeflammt, und die Flammen hatten sich so schnell ausgebreitet, dass die Familie in der Oberkammer des Hauses, in der sie schliefen, gefangen war. Eines der Kinder hatte die Eltern geweckt, und der Vater war aus dem kleinen Fenster geklettert und nach draußen gesprungen, während die Mutter, mit dem Säugling auf dem Arm, den anderen Kindern half, hinterher zu klettern, um sich vom Vater auffangen zu lassen. Zuletzt ließ sie den Säugling in seine Arme fallen. Als auch sie hinausklettern wollte, war das ganze Dach über ihr zusammengebrochen. Ihr Mann hatte noch versucht, ins Haus einzudringen, doch die Flammen schlugen so hoch, dass er nichts mehr tun konnte

Er war verzweifelt. Allein hätte er im nächsten Dorf, in der nächsten Stadt Arbeit gesucht, irgendwie hätte er etwas gefunden, sobald die Wunden geheilt wären. Aber mit den Kindern, und vor allem dem Kleinen? Wie sollte er ihn füttern? Die Haustiere, die sie gehabt hatten, waren ebenfalls im Feuer umgekommen, und wo sollten sie unterkommen, bis er auch nur das Untergeschoss des Hauses wieder errichten könnte? Leise berieten sich die Frauen. Schließlich sprach die älteste von ihnen den Mann für sie alle an. Sie, und ihre verwitwete Tochter würden hierbleiben und sich um die Kinder und ihn kümmern. Die Ziege würden die Frauen ebenfalls da lassen für das Kleine, und auch das Kamel, das sie auf dem nächsten Markt verkaufen konnten, um Material für den Wiederaufbau des Hauses zu beschaffen. Auch von den Kräutern ließen sie einiges zurück, denn die Tochter war als Heilerin bekannt, und würde so auch hier zum Auskommen des neuen Haushaltes beitragen können. Neue Hoffnung stahl sich in das von Trauer zerrissene Herz des Mannes.

Die Frauen zogen weiter. Das Gepäck trug nun der Esel, und manch einen Beutel trugen sie selbst. Der Stern, der anfangs gen Sonnenuntergang stand, war jetzt viel weiter im Süden zu sehen. Immer öfter kamen sie an Siedlungen vorbei, und auch andere Reisende waren zu sehen. Irgendwann blieb eine von ihnen in einer Felsspalte hängen und brach sich das Bein. Schweren Herzens mussten sie sie in einem nahen Dorf zurücklassen. Auch eine ihrer Freundinnen blieb, um sich um sie zu kümmern. Sie hofften, nachzukommen.

Eine der jungen Frauen stellte fest, dass sie guter Hoffnung war, endlich. Sie fürchtete weiterzureisen, um das Kind nicht zu verlieren und blieb in einem Gasthof zurück, von wo aus sie Boten zu ihrer Familie schicken konnte, sie abzuholen.

Die Frauen blickten sich irgendwann an und staunten darüber, wie klein ihre Gruppe geworden war. So viele waren sie gewesen zu Beginn, als sie aufgebrochen waren, den neugeborenen König der Könige zu ehren. Und all die Geschenke? So klein waren die Taschen geworden. Doch sie hatten nichts verkehrt gemacht, dass wussten sie. Jede, die zurück geblieben war, hatte es getan, weil die Situation es gefordert hatte, nicht, weil sie das Ziel aus den Augen verloren hatte. Und alles, was für das Kind gedacht war, war für Menschen verwendet worden, die es sicher nötiger hatten, als irgendein anderer Mensch. Alles war aus Liebe gegeben worden. Alles war gut.

Als sie sich wieder auf den Weg begaben, überholten sie einen Mann und eine Frau, die gemeinsam reisten. Er hätte ihr Vater sein können, so wettergegerbt und faltig war sein Gesicht, so grau seine Haare. Doch sie musste seine Frau sein, denn sie war hochschwanger, und außer ihnen gab es niemanden anders. Sie kamen ins Gespräch und erfuhren, dass die beiden zu einem kleinen Ort in der Nähe von Jerusalem reisten. Die Frau, das sahen sie, stand kurz vor der Geburt und hatte große Schmerzen beim Laufen. Wenn die beiden ihr Ziel erreichen wollten, bevor das Kind zur Welt kam, müssten sie sich sehr beeilen. Wieder reichten Blicke für ein stilles Einverständnis. Sie luden dem Esel das Gepäck ab, halfen der Frau auf den Rücken des Tieres und wünschten dem Paar eine sichere Weiterreise und alles Gute für die Geburt des Kindes. Auch einige Kräuter und Leintücher, die sie ihnen mit gaben, sollten dafür Sorge tragen. Lächelnd blickten sie dem Paar hinterher, das sich mit neuer Energie eilends auf den Weg machte.

Jetzt, wo sie ihre Habe selbst trugen, wurden die Füße noch schneller müde, der Weg schien endlos zu sein. Doch sie gingen weiter, geleitet vom Licht des Sterns, voller Vorfreude darauf, schon bald den Erretter der Welt zu sehen. Staubbedeckt und erschöpft waren sie, als ihnen eines Tages Männer auf Kamelen entgegen kamen. Erstaunt erkannten sie die Männer, mit denen sie die Reise begonnen hatten. Nachdem diese schließlich auch sie wiedererkannt hatten, lagerten sie gemeinsam am Ufer eines Baches. Die Männer hatten ihr Ziel bereits erreicht. In einem Stall, nicht in einem Königspalast hatten sie das Kind mit seinen Eltern gefunden. Der Stern hatte sie richtig geführt, und es war wahrhaftig ein besonderes Kind, denn es schien als würden Engel es umsorgen. Sie hatten ihre Gaben abgegeben, und waren jetzt auf dem Heimweg. Die Frauen waren ein wenig enttäuscht, dass sie so viel später ankommen würden, doch sie wollten trotz allem weiterziehen und das Kind mit eigenen Augen sehen. Die Männer warnten sie zum Abschluss vor Herodes, dem König in Jerusalem, denn im Traum waren auch sie vor ihm gewarnt worden, und sie trauten ihm trotz aller Freundlichkeit nicht so recht.

Wieder trennten sich die Wege der beiden Gruppen. Die Frauen reisten weiter nach Süden, bedacht, den Hinweisen der Männer zu folgen. Schließlich fanden sie den Stall, den die Männer beschrieben hatten und auf den noch immer der Stern wies. Doch es war niemand mehr dort; nur einige zurückgelassene Dinge zeugten davon, dass hier Menschen mit einem kleinen Kind gelebt hatten und hastig aufgebrochen waren. Eine junge Familie und... ein Esel. Ein Esel? Aus der Enttäuschung, die allen ins Gesicht geschrieben war, wuchs Verwunderung, Staunen. Sie hatten nicht den neugeborenen König der Welt gesehen, aber sie hatten den noch UNgeborenen König der Könige gesehen. Ihre Reise war nicht umsonst gewesen, ihre Geschenke hatten ihn erreicht. Tiefe Dankbarkeit erfüllte sie, als sie den Stall verließen und dem Weg zurück folgten.

Als sie aus einem kleinen Dorf in der Nähe das Weinen und die Trauerschreie vieler Frauen hörten, konnten sie trotz aller Warnungen der Männer nicht vorbei gehen. Fassungslos sahen sie das Unheil, das von Soldaten des grausamen Herodes angerichtet worden war. Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein, Kinder zu töten, die nie etwas Böses getan hatten? Sie halfen den Frauen, die Kinder zu begraben, gaben Trost und machten sich nützlich, wo sie nur konnten. Auch in den umliegenden Dörfern war Gleiches geschehen, und lange, lange blieben die Frauen, um die anderen zu trösten und ihnen zur Seite zu stehen, denn sie hatten erkannt, dass der Stern sie nicht zum Stall geführt hatte, sondern überall dorthin, wo man sie brauchte.

Sie waren sich sicher, dass das Kind überlebt hatte, denn unter all den trauernden Müttern hatten sie nicht die junge Frau entdeckt, die ihnen auf der Reise begegnet waren. Und das war genug.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (27.12.15)
Interessantes Spin-Off, könnte etwas straffer, dichter sein. An einer Stelle leicht unappettitlich: "Beutel mit Kräutern und Gewürzen, um den Milchfluss anzuregen". Nun, ja.

 Sturmhexe meinte dazu am 27.12.15:
Traurig, dass du etwas so natürliches, an das Frauen ganz selbstverständlich denken, als unappetitlich ansiehst....

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 27.12.15:
Nun, ja, Körperflüssigkeiten haben per se immer ein leicht unappettitliches Geschmäckle, um mal metaphorisch beim Thema zu bleiben.
Natürlich = appettitlich
ist eine Gleichung, die einfach oft nicht aufgeht, ich denke da z.B. an Eigenurintherapien, Ohrenschmalz und der Verzehr von Stierhoden.
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