Warum selbst die Kunst des Starrens es nicht vermag die Zeit aufzuheben.

Text

von  autoralexanderschwarz

Die Kunst des Starrens (19) - Relativität

(Warum selbst die Kunst des Starrens es nicht vermag die Zeit aufzuheben.)


"Erkenntnistheoretisch gewendet bietet die Kunst des Starrens neben vielen anderen Vorzügen auch die Möglichkeit die Zeit aufzuheben", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, nachdem wir eine Weile gestarrt, geschwiegen und dabei gedacht haben.
"Es ist doch nun einmal so, dass wir Zeit nur in Relation zu körperlichen Dingen erfassen können, niemand würde sagen: 'Mann, war dies wieder ein langer Gedanke', das Empfinden von Zeit bedarf notwendig einer wie auch immer gearteten physischen Involviertheit. Ich empfinde Zeit, wenn meine Haare wachsen oder wenn ein Baum seine Blätter abwirft, wenn die Sonne wandert oder die Körner einer Sanduhr übereinanderstürzen. Die Kunst des Starrens aber ist ein rein psychischer Zustand, in dem sich das Denken vom Fühlen (und damit von der Zeit) löst. Wir altern nicht, während wir denken und starren", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers.

"Du bist wie ein kleines Kind, das sich hinter seinen Händen versteckt und glaubt, dass es damit auch für alle anderen verborgen ist", antwortet Olaf, der Sohn des Apothekers, und lächelt, weil ihm die Allegorie den Raum bietet, mich als kleines Kind zu bezeichnen, "du kannst nicht sagen, dass du etwas aufhebst, nur weil du es nicht mehr betrachtest. Wenn wir nicht hier auf diesem Futon sondern auf einer Pritsche in einem Labor - umringt von unzähligen Apparaturen und Sensoren - starren und denken würden, ließe sich sehr wohl beweisen, dass die Zeit für uns mitnichten aufgehoben ist, und wenn man uns an Infusionen anschließen würde und wir dort über Jahre hinweg starren und denken, denken und starren würden, würden unsere Haare grau und weiß - und damit deutlich sichtbares  Zeichen des Nicht-Aufgehobenseins der Zeit."

Triumphierend beugt sich Olaf, der Sohn des Apothekers, vor und lächelt noch immer, weil er mich mit einem kleinen Kind verglichen hat.

"Ich finde nicht, dass dein Bild gut gewählt ist", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, "das Kind, das sich hinter seiner eigenen Hand versteckt, ist wohl kaum mit der Kunst des Starrens gleichzusetzen. Ich habe auch nicht gesagt, dass der Körper nicht altert, wenn er denkt und starrt, ich habe gesagt, dass wir nicht altern, wenn wir denken und starren. Vielmehr ist es so, dass dann und nur dann, wenn es gelingt, das Denken und das Starren aufs Exakteste miteinander zu verschränken, die Zeit für das denkende Subjekt (und damit für uns) aufgehoben ist, eben weil es von jenem Körper losgelöst geschieht, der - umringt von unzähligen Apparaturen und Sensoren - altert. Wenn du ein kleiner Hund, ein Hündchen wärst", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, und muss lächeln, weil die Allegorie es mir erlaubt ihn als Hündchen zu bezeichnen, "wenn du ein Hündchen wärst und die Welt um dich herum ein einziger, riesiger Knochen, was wäre dann wohl die Zeit? Relativ zu deinem Hunger, relativ zu deiner Wut, deiner Müdigkeit und all dem, was sonst noch so in dir brodelt, aber was, wenn du nicht hungrig, nicht wütend, nicht müde bist, wenn alles zwischen den Begehren aufgehoben ist? Spätestens hier siehst du, dass die Zeit eine Schwingung ist und beständig zwischen den Polen der Existenz und der Nichtexistenz hin und her springt. Die Zeit ist nicht notwendig linear. Wir projizieren die Linearität in die Zeit hinein, weil wir ständig von Fleisch umgeben sind", sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers und beuge mich triumphierend nach vorne.

"Du vergleichst also jetzt die Kunst des Starrens mit der Perspektive eines Hündchens?", fragt Olaf, der Sohn des Apothekers provozierend, weil er glaubt, mich auf diesem Weg in einen Widerspruch verwickeln zu können, "und auch die Annahme einer Welt aus Knochen erscheint mir recht gewagt, auch wenn ich verstehe, dass du sie als Kulisse für deine Zeitlosigkeit benötigst", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, "geschenkt", ruft Olaf, der Sohn des Apothekers, "ich verstehe auch, dass du in deiner Vorstellung von Zeit dieselbe erkenntnistheoretisch an das Empfinden derselbigen koppelst, ich bin dir auch dankbar, dass du nicht erst auf Einstein und Konsorten rekurriert hast, aber...", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, "... all das gilt ja nur für den Moment des Starrens und Denkens, also nur für den Moment, in dem in deiner Vorstellung - die ich nicht teile - das neuronenfeuernde Hirn von dem denkenden Subjekt getrennt sein soll. Das ist der alte Taschenspielertrick der sogenannten neuzeitlichen Philosophie. Das ist ähnlich billig wie Descartes' unsterbliche Seele, die über die Zirbeldrüse an die res extensa gekoppelt ist. Nur weil eine tendenzielle Verschiebung des Bewusstseins von einem physischen in einen psychischen Bereich stattfindet - das Bewusstsein sich gewissermaßen neu fokussiert - bedeutet dies doch keine vollständige Loslösung von Geist und Körper. Du kannst das Denken nicht so unter der Hand von den anderen Funktionen des Geistes trennen. Oder kommst du mir jetzt mit Platon und Seelenteilen? Die vollständige Loslösung von  Geist und Körper bezeichnen die Menschen in Ermangelung eines besseren Wortes als "Tod" und ich - als Atheist - bezweifle, dass wir nach diesem noch in der jetzigen Form denken und starren werden. Wenn also das Denken und Starren unweigerlich an einen Körper gebunden ist, dann kann das Denken und Starren ungeachtet aller anderen Vorzüge die Zeit nicht aufheben", sagt Olaf, der Sohn des Apothekers und er sagt es mit großer Überzeugungskraft.

Hierauf schweigen wir eine Weile, denken und starren, starren und denken, während um uns herum die Zeit verstreicht. "Du darfst die Zeit nicht immer so linear denken", sage ich schließlich noch einmal, aber es wirkt selbst auf mich trotzig, ohne wirkliche Überzeugung. Respektvoll mustere ich Olaf, den Sohn des Apothekers,  als ich mich erhebe, um mit einem großen Gedanken die Apothekerssohnwohnung zu verlassen.

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Kommentare zu diesem Text


 toltec-head (28.12.15)
Interessanter Text. Steht er im Kontext eines größeren Projekts?
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