aus der Reihe tanzen

Kurzgeschichte zum Thema Allzu Menschliches

von  tulpenrot

Seltsamerweise geschah es immer, wenn wir Grießklößchensuppe aßen. Wir zankten uns.
„Für deine Haltung! Es ist für deine Haltung wichtig!“, schimpfte sie, weil ich rebellierte. Sie war aufgebracht und ließ nicht locker. Ich war Kind. Es half alles nichts. Mir fiel nichts ein, wie ich mich erfolgreich hätte wehren können. Jede Woche dasselbe.

Widerwillig zwängte ich mich in die Ballettschuhe und schnürte sie zu. Dazu diese Flattergewänder um meinen Leib - die eine Leichtigkeit vortäuschten, wo doch alles nur harte Knochenarbeit war – auch die wollte ich nicht anziehen.
„Wer im Leben etwas erreichen will, muss sich und seinem Körper Haltung beibringen, einen geraden Rücken, straffe Muskeln haben und durchtrainiert sein. Wie will man durchkommen, wenn man nicht trainiert und sich einem Programm unterordnet, auf Kommando tanzt und lächelt?“

Nein, es war mir ein Graus, so eingezwängt zu sein trotz der Flattergewänder, so gebunden nach einer vorgeschriebenen Musik mit vorgeschriebenen Schritten den Raum ausmessend und erfassend mich bewegen zu müssen wie eine Marionette an den Schnüren des Meisters oder der Meisterin und dabei zu lächeln, als ob das alles der Himmel auf Erden sei. Ich wollte nicht vorgaukeln müssen, was nicht stimmt. Ehrlich wollte ich sein. Nach meinem Willen entscheiden dürfen.

„Du kannst nur frei entscheiden, wenn dein Wille vorher geschult und geformt worden ist.“
Wie ich diese Worte hasste.
„Wenn du gelernt hast, Befehle von außen deine eigenen werden zu lassen, dann hast du Rückgrat für deine späteren Entscheidungen.“
Nein, dachte ich, dann hat man mich zerbrochen, bis dahin habe ich meine Träume zertreten. Mit spitzen Schuhen. Auf leisen Sohlen. Habe die Resignation ins Haus gelassen und ihr ein Sofa angeboten, auf dem ich zusammen mit ihr sitze. Und noch nicht einmal heule.

„Tanzt sie nicht entzückend“, ereiferte sie sich und alle nickten zustimmend. Ich hopste an allen Familienfesten etwas zusammen, möglichst steif und ungekonnt, um allen zu beweisen, wie ungeeignet ich war. Es half nichts. Sie klatschten und bewunderten mich und meinten doch eigentlich nur sich selber - sich und anderen zu beweisen, dass sie „künstlerisch“ seien. Ambitioniert. Kenner. Sie waren einfach nur eitel.

Bis ich eines Tages während der Probe stolperte und umknickte. Mein Fuß musste behandelt werden. Der Hausarzt, der einen solch guten Ruf hatte, dass niemand sein Können in Frage stellte, war so wenig geeignet und völlig ungeschickt, dass die Verletzung nie richtig ausheilte. Diesmal ergab ich mich wortlos und hielt widerspruchslos durch. Meine Vorahnung täuschte mich nicht. Ich durfte nicht mehr tanzen. Bis heute nicht.

Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Ich wurde erwachsen und betreibe eine Anwaltskanzlei für Familienrecht. Und wenn sie mich bei einem meiner seltenen Besuche kritisch anschaut und unzufrieden feststellt: „Du humpelst immer noch schrecklich und hast so eine schlechte Haltung! Dabei habe ich doch alles für dich getan, damit das nicht passiert. Wer hätte auch ahnen können, dass du dich so ungeschickt anstellst?“, dann lächle ich, halte ihr einen meiner dicken roten Sammelordner hin und frage sie: „Welchen Paragrafen möchtest du für deine Anklage anwenden? Und wen willst du zur Rechenschaft ziehen?“
Natürlich bekomme ich keine Antwort. Wir schweigen und löffeln anschließend unsere Suppe. Inzwischen ist es Flädlesuppe.


Anmerkung von tulpenrot:

Ich sollte wohl vorsichtshalber erwähnen, dass dieser Text nicht autobiografisch ist - ich habe nie Ballett getanzt und war als Kind nie aufmüpfig.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (30.12.15)
So kann es einem ergehen, wenn Ideologien das Leben beherrschen. Dann kann man nur versuchen, es bei den eigenen Kindern besser zu machen. LG und dennoch ein gutes Neues Jahr

 tulpenrot meinte dazu am 30.12.15:
Danke für deine Worte. Ja, es gibt Regeln, die man gerne beherzigt, weil es immer so war und alles andere unbequem ist. Aus der Reihe zu tanzen zum Beispiel.
Dir auch ein gutes Neues Jahr.
Aron Manfeld (46)
(30.12.15)
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Lewin (75)
(30.12.15)
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 tulpenrot antwortete darauf am 30.12.15:
Herzlichen Dank, Lewin, für deinen Kommentar und deine Empfehlung. Ja, es wäre schön, wenn das Schreiben wieder ein wenig mehr in den Vordergrund rücken könnte im kommenden Jahr. Und vielleicht gelingt auch ein fröhlicher Text - wer weiß.
Einen guten Übergang ins Neue Jahr wünsche ich dir und viel Erfolg
Angelika
janna (66)
(30.12.15)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 30.12.15:
Dir auch einen guten Rutsch ins neue Jahr, liebe janna. "Verlogenheit der Gesellschaft" - man trifft sie in so vielen Bereichen. Es ist manchmal erschreckend. Danke für deine Worte und die Empfehlung und liebe Grüße
Angelika
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