Eine Lanze für die gemäßigte Kleinschreibung

Erörterung zum Thema Sprache/ Sprachen

von  loslosch

Non canimus sordis (Vergil, 70 v. Chr. bis 19 v. Chr.; Georgica - Vom Landbau). Wir singen nicht für die Tauben. Ein weit verbreiteter Spruch in griechischer und römischer Antike, mit vielen Variationen.

Wenn eine einzelne (ja, schon eine einzelne!) Taube in früher Morgenstunde herzzerreißend gurrt, kann es um den Nachtschlaf geschehen sein. Da möchte man am liebsten einen Gesang anstimmen, um den Lüstling und Störenfried zu verjagen. Vergil aber meint die Hörgeschädigten. Ein Satz mit Pointe: Wenn wir singen, wollen wir gehört werden.

Selbst die deutsche (international exotische) Groß- und Kleinschreibung kann, wie in diesem Mustersatz der Antike, nicht verhindern, dass sich der Bedeutungsgehalt eines Satzes erst im Kontext erschließt. Obwohl das deutsche Majuskel-System partiell überdefiniert ist, Redundanzen aufweist. Wolf Schneider (geb. 1925), ein anerkannter Sprachlehrer und Stilkundler, verteidigt die Groß- und Kleinschreibung. Über Sätze wie "nicht für die Tauben singen" breitet er den Mantel des Schweigens. Stattdessen beklagt er Missverständnisse, die aus der Kleinschreibung erwachsen, nach dem Muster: "Ich habe liebe Genossen./ Ich habe Liebe genossen." Sehr plakativ auch: "Helft den armen Vögeln./ Helft den Armen vögeln." (W. Schneider, Deutsch für Kenner, Pieper, 1999, S. 293.)

Wo kämen wir hin, wenn Schneider recht hätte! Das normale Gespäch, zugegebenermaßen erklärungsgestützt durch Artikulation, Gestik und Mimik, würde immer wieder ins Stocken geraten, weil es an der Verständigung mangelt.

Wie schaffte es das Finnische mit seiner überbordenden Grammatik (allein 15 Kasusendungen), die international übliche Kleinschreibung zu gewährleisten?


Anmerkung von loslosch:

Plädoyer von einem, der glaubt, sich im Gestrüpp der Groß- und Kleinschreibung auszukennen.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(14.01.16)
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 loslosch meinte dazu am 14.01.16:
gilt auch für kant und andere. man müsste das autograf einsehen können. sebst goethe ist in seinen handschriftlichen aufzeichnungen schwankend. damals gabs keinen konrad duden.

wie schaffen das die anderen sprachen? ich behaupte: wird die kleinschreibung eingeführt, beeinflusst das die schriftsprache. der autor verspürt den inneren zwang, sich klar auszudrücken.

 niemand antwortete darauf am 14.01.16:
@ Loslosch
als ich mit meinen Eltern aus den polnisch besetzen Gebieten
in die Bundesrepublik zog, kannte ich nur die Kleinschreibung
[im Polnischen:Groß nur der Satzanfang und Namen] und die Klein/Großschreibung hier empfand ich als komisch und mühsam
[alles Gewohnheitssache]. Meine Eltern konnten kaum Polnisch, ich nur sehr, sehr wenig Deutsch, da der Alltag von polnischer Sprache geprägt war. Da hieß es üben, also tat ich es. Heute kommt mir das Angeübte normal vor. Wie ich schon sagte:
Alles Gewohnheitssache. LG Irene

 loslosch schrieb daraufhin am 14.01.16:
das argument also ist, platt gesagt: ich habe die mühe auf mich genommen, die groß- und kleinschreibung, schlecht und recht, zu erlernen. sollen es die anderen gefälligst auch. das mag aufrichtig sein, überzeugt aber nicht.

die letzte rechtschreibreform war angetreten, die regeln zu vereinfachen. so hat man zb "daß" in "dass" verwandelt. die häufigkeit fehlerhafter schreibung hat sich dadurch um null komma josef verringert. hätte man den buchstaben "ß" eliminiert, bis auf eigennamen und geografische begriffe, wäre ein kleiner fortschritt entstanden. bei der zusammen- und getrenntschreibung wurde anfangs sogar großer unsinn verzapft, usw. usw. aber das hat alles nichts mit der groß- und kleinschreibung zu tun.

dort wäre der gewinn am größen gewesen. die große reform wird eines fernen tages kommen ...

 niemand äußerte darauf am 14.01.16:
@ Loslosch
ich meinte keinesfalls, dass "die anderen es auch lernen sollten",
sondern nur, dass es im Grunde wurscht ist, ob man so, oder so
schreibt, Hauptsache man verständig sich auf eine Gemeinsamkeit.
Es steht ja nicht in der Bibel, dass man es so und nicht anders machen sollte, es ist also nicht Gottes Wort, sondern Menschens
Erfindung und Menschens Regel. Mehr nicht.

 loslosch ergänzte dazu am 14.01.16:
ok. als gelernter ökonom sehe ich das schreiben auch unter dem aspekt der effizienz. die lyrik leidet nicht mal. es gab und gibt poeten, die mit fleiß klein schreiben. manche wollen sich das flair der modernität verleihen.

unter dem einfluss der kleinschreibung würde sich die satzstruktur leicht verschieben - hin zu mehr verständlichkeit. der konventionelle leser liest dann sicher eine zeit lang etwas stockender. aber das gibt sich schnell. (ich erlebe das nicht mehr!)
Lewin (75)
(14.01.16)
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 loslosch meinte dazu am 14.01.16:
nicht nur im kontext eindeutig. auch durch die flexion: Taube(n). lo
Lewin (75) meinte dazu am 14.01.16:
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 Didi.Costaire (14.01.16)
Ein guter Buchtipp, Lothar! Die extraordinären Beispiele belegen auf witzige Art den Sinn der Großschreibung.
Schöne Grüße, Dirk

 loslosch meinte dazu am 14.01.16:
ja, schon. ein anderes beispiel wäre die schlagzeile "der Gefangene floh"/ "der gefangene Floh". mich überzeugt das alles nicht. der effizienzgewinn durch die kleinschreibung überwiegt bei weitem die missverständnisse. lo
Festil (59)
(14.01.16)
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 loslosch meinte dazu am 14.01.16:
goethe soll mal einen brief an seine schwester wie folgt begonnen haben: da ich wenig zeit habe, wird der brief etwas länger ...

wolf schneider war früher journalist und dann ausbilder von journalisten. er legt legt wert auf glasklare sprache. das buch ist empfehlenswert. bis auf die groß- und kleinschreibung würde ich alles unterschreiben.

zur kleinschreibung: nach kurzer zeit erreicht man das alte lesetempo, vorausgesetzt, die autoren formulieren adäquat. wer nur kleinschrift gelernt hat, schreibt dann von vornherein verständlicher.

ich bin nicht mehr der jüngste, kann aber problemlos zwischen großbuchstaben (texte) und kleinschreibung (kommis) jonglieren.

danke für die einschätzung. lo
rochusthal (71) meinte dazu am 14.01.16:
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Festil (59) meinte dazu am 15.01.16:
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