Boah ne, Borderline

Skizze zum Thema Persönlichkeit

von  keinB

Sie hat da so 'ne Krankheit. Persönlichkeitsstörung und so, sagt sie.
Heißt Borderline.
Und ich denk mir: Mann, was für ne Krankheit soll das sein, wenn's dafür noch nicht mal einen deutschen Namen oder ein anständiges lateinisches Wort gibt.
Sie sagt: Das ist halt mal so, das kommt aus dem Englischen. Und ich denk mir: Toll, auch noch 'ne englische Krankheit, wir haben hier ja noch nicht genug zur Auswahl.
Sie ist ein bisschen verrückt, aber das sagt sie nicht. Sie sagt: Ich bin krank.
Und ich denk mir: Ja, klar.

Manchmal schneidet sie sich den Arm auf. Oder beide. Mit einer Scherbe oder einer Rasierklinge oder was weiß ich. Danach kommt sie blutend zu mir und weint ein bisschen und jammert, dass es ihr so schlecht geht, und erzählt mir von ihren Eltern und ihrer Kindheit, komisches Zeug, was ich eigentlich gar nicht wissen will, und ich verbinde ihr dann den Arm oder beide oder die Oberschenkel oder fahre sie ins Krankenhaus, wenn sie genäht werden muss. Ich denke dann: Na, so ganz normal ist das aber nicht, wenn man sich die Arme aufschneidet, aber was weiß ich denn schon von englischen Krankheiten?
Und wenn sie dann fertig verbunden ist oder genäht, dann lächelt sie oft und sagt: So, jetzt geht es mir besser, was machen wir jetzt? Und ich denk mir: Mann, warum kannst du nicht immer genau diese Laune haben?

Denn ich weiß nie, welche Laune sie hat, oder welche sie bis eben hatte oder gleich haben wird. Sie ist irgendwie dauerzickig, hat PMS auch nach den Tagen, und dreht sich von jetzt auf gleich um 180 Grad. Sie sagt: Ich kann da nix dafür, das, das liegt daran, dass ich nie gelernt habe, stabil zu sein. Und ich denk mir so: Na, ich kenn eine, die ist wirklich instabil, die hat versucht, sich umzubringen, mehrmals, und die versucht es noch heute; und dann denk ich mir: Mann, instabil ist was anderes.

Manchmal ist sie kreativ. Da malt sie dann oder schreibt oder bastelt, ewig lange, mit einer Engelsgeduld, erst einen Tag, dann die Nacht, dann noch einen Tag und noch eine Nacht und ich denk mir: Mensch, musst du nicht irgendwann schlafen? Und dann sitzt sie morgens mit Ringen unter den Augen am Frühstückstisch und schnorrt von meinem Kaffee und sagt: Ja, ich weiß, gleich nächste Woche geh ich wieder in die Uni, aber das hier war wichtig. Und ich denk mir so: Gott sei Dank musst du die Miete nicht zahlen.

Es kann sein, dass sie stundenlang vorm Spiegel steht und ihr Spiegelbild anstarrt. Sie kneift in ihre Wangen und schneidet Grimassen und sagt dem Spiegelbild: Mann, ich bin nicht du. Wusstest du das?
Und ich denk mir dabei nicht viel, ich hab's nicht so mit Philosophie.

Sie sagt: Ich denke in schwarz-weiß, ich kann dich jetzt lieben und morgen hassen und übermorgen trotzdem nicht wollen, dass du mich verlässt. Und ich denk mir: Hä? Was ist das wieder für eine Weiberpsychokacke? Und sie sagt: Ich versuche, dich nicht emotional zu erpressen, aber vielleicht werde ich das irgendwann. Aber wenn's dazu kommt, will ich, dass du weißt: Ich kann nichts dafür. Und ich denk mir nur: Boah, Borderline.

Sie übertreibt maßlos. Bei allem. Sie sagt: Ich liege gern im Alkoholrausch in der Ecke, weil ich dann diese Welt wenigstens einen Moment lang vergessen kann. Und dann säuft sie meine Minibar leer. Sie sagt: Irgendwann muss ich sowieso sterben, da ist es doch völlig egal, ob ich mir Aids, Hepatitis oder Genitalherpes einfange. Und ich denk mir so: Zum Glück hatten wir noch keinen Sex und nein – wir werden nie welchen haben.

Sie flucht und schreit und schmeißt Sachen durch die Gegend, wenn sie wütend ist, und sagt: Ich kann nichts dafür, dass mich das so aufregt, in meinem Kopf sind zwei Synapsen falsch verdrahtet und deswegen ärgere ich mich so sehr. Während ich die Scherben einsammle, denk ich mir nur: Mann, Borderline nervt mich.

Sie nimmt alles persönlich. Ob es so gemeint war oder nicht. Sobald etwas nicht so läuft, wie sie es möchte, zieht sie eine Fresse und beschwert sich über die Ungerechtigkeit der Welt und dass ihr alle immer nur Böses wollen und überhaupt, nie ist jemand auf ihrer Seite oder ergreift Partei für sie; und ich seufze lautlos und weiß: Je weniger ich dazu sage, desto schneller hört sie auf.

Sie entschuldigt sich nie. Sie sagt immer: Warum soll ich mich entschuldigen, wenn ich gar nicht anders reagieren oder handeln kann? Warum soll ich mich entschuldigen für das, was ich bin? Bei mir entschuldigt sich ja auch keiner dafür, dass er ist, wer er ist. Und dann holt sie weit aus und erzählt und ich denk mir nur: Das hast du mir gestern schon erzählt. Und vorgestern. Und den Tag davor auch, langsam sollte man meinen, ich hab's kapiert. Aber das sag ich ihr nicht. Sonst würde sie nur sagen, dass ich sie nicht ernst nehme. Und um ehrlich zu sein, sie hätte Recht.

Ihre magischen Worte sind: Ich bin krank. Und: Ich kann nichts dafür. Damit entschuldigt sie alles. Alles, und bleibt trotzdem im Leid und Opfer. Und wenn ich dann mal so richtig sauer bin auf sie, dann sitzt sie da so, plinkert ein bisschen mit den getuschten Wimpern, vergießt ein paar Krokodilstränchen und ihr Gesicht sagt ganz eindeutig: Schau, ich bin krank, du darfst nicht schimpfen, mir geht's eh schon nicht gut und ich kann ja auch gar nichts dafür, du musst mich lieb haben, auch wenn ich dich hasse. Und ich denk mir nur: Mann, ich will auch Borderline.


Anmerkung von keinB:

Weil: wichtig.

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Kommentare zu diesem Text

Juliet (22)
(30.01.16)
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 keinB meinte dazu am 01.02.16:
Dem neugierigen Leser an dieser Stelle zur Info: Da ich es nicht für zielführend - im Gegenteil! - halte, wenn ein Autor seinen Text (öffentlich) interpretiert, hat Juliet eine PN von mir bekommen. Jeder, den die gleichen Fragen zu diesem Text umtreiben, wird mich um eine 'persönliche' Antwort bitten müssen. ;)
_fox_ (30) antwortete darauf am 16.04.18:
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 keinB schrieb daraufhin am 16.04.18:
Haha - ich hab die gar nicht mehr. :D
Möchtest du eine eigene? ;)
_fox_ (30) äußerte darauf am 16.04.18:
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 keinB ergänzte dazu am 16.04.18:
Ich mach’s nun doch öffentlich - bevor in zwei Jahren noch mal einer kommt und fragt. :D

Ich erinnere mich, dass ich die Mail damals zweimal tippen musste, weil mir mittendrin das Eingabefeld abgerauscht ist - was hab ich geflucht. ;)
Bleibt fraglich, ob ich alles noch so zusammenbekomme wie vor zwei Jahren.
Bzw. das auch noch alles genau so sehe.

Mittlerweile dürfte der Text schon (zumindest fast) seine zehn Jahre auf dem Buckel haben. Ich kann also gar nicht mehr sagen, wie ich den Text genau meinte. Ich habe mich damals viel mit dem Krankheitsbild und der Symptomatik beschäftigt. Viele der Symptome kommen abgeschwächt als gelegentliche „normale“ Verhaltensweisen bei „normalen“ Menschen vor. Bei emotionaler Instabilität werden diese Symptome so überhöht, dass es für Außenstehende schon gar nicht mehr nachvollziehbar ist und oft skurril und absurd erscheint. Nichts anderes habe ich in diesem Text getan - die Symptome genommen, aufgepumpt, und sie skurril und absurd beschrieben. Wie ich den Text meine? Vielleicht als Auskotzen gegenüber den Symptomen. Vielleicht auch einfach nur als Parodie. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich eine diebische Freude beim Zuspitzen empfand.

Was ich von der Diagnose halte? BL ist ein weites Feld. Kein BLer ist wie der andere. Es gibt dazu unterschiedliche Rezeptionen in der Medizin - und inzwischen verfolge ich den ganzen Kram schlicht nicht mehr. Ich weiß nicht, inwiefern die Zahl der Diagnosen zu- oder abgenommen hat, ob es neue Therapieansätze oder Medikamente gibt oder ob die psychiatrische Wahrnehmung von BLern sich verbessert oder verschlechtert hat. Was mir aufgefallen ist - ich stolpere immer öfter in meiner alltäglichen Unterhaltungsliteratur über Schubladenborderliner, es scheint für Autoren eine beliebte Erklärung für verhaltensauffällige Charaktere in ihren Geschichten zu sein. Leider handelt es sich dabei, wie oben schon erwähnt, hauptsächlich um Klischeebeschreibungen, die der allgemeinen Gesellschaftstauglichkeit des Krankheitsbildes sicher nicht zuträglich sind.
Prinzipiell halte ich die Diagnose als gestellte für einen guten und wichtigen Ausgangspunkt zur „Selbsttherapie“.

Die Therapiemöglichkeiten: Medikamente. Gibt’s massig, schlagen bei unterschiedlchen Menschen unterschiedlich an. Wenn’s hilft, warum nicht? DBT als verhaltenstherapeutischer Ansatz in der Gruppe mitsamt Skilltraining ist mWn die erfolgsversprechendste Methode. Aber halt auch nicht für jeden geeignet. Skilltraining halte ich für überaus hilfreich.
Wie schon oben geschrieben, mag sein, dass es da inzwischen neue Ansätze gibt. Ich verfolge das seit einigen Jahren nicht mehr.

Die Angehörigen. Natürlich muss (und sollte) man nicht jede Laune eines Persönlichkeitsgestörten mitmachen. Ein bisschen Interesse an der Sache und Nachsicht gegenüber Impulsreaktionen kann aber nie schaden.

Als ich vor zwei Jahren diesen Text einstellte, hatte ich die Nabelschauen noch nicht angefangen. Darin wird mein Bezug zu BL erklärt, geklärt. Als Betroffene, die sich vor zehn Jahren bis zum Erbrechen mit Diagnostik, Symptomatik, Verhaltenskorrekturen und Therapiemöglichkeiten auseinandergesetzt hat, war es mir damals oft ein Bedürfnis, mir den ganzen Kram „wegzuschreiben“. So zu tun, als wär das nicht mein Päckchen, als gingen mich schlaflose Nächte, Dauerheulkrämpfe, zerschnittene Arme und Beine und endlose Gedankenkarussells nichts an. In den meisten Texten aus dieser Zeit ist das prosaische Ich das „Gesunde“, während das prosaische Du widerspiegelt, was in mir vorging, was ich war.

Hier möchte ich einen Bogen zu den ‚leidenden’ Angehörigen zurück schlagen. Ich war schon immer ‚komisch‘, anders. Als klar wurde, dass ich ‚richtig‘ anders war, wurde ein Mantel des Schweigens darüber gebreitet. Aus Erpichtheit darauf, dass ja niemand irgendwas mitbekommt, wurde ich sehr lange sehr klein gehalten, auch fanden psychischer und physischer Missbrauch statt. Später nicht nur in der Familie. Alles an mir war falsch, das bekam ich deutlich von allen Seiten zu spüren. Innerhalb meiner Familie nutzte man meine Probleme, um sich gegenseitig die „Schuld“ dafür zuzuschieben. Man hat da also nicht so sehr unter mir gelitten, sondern fühlte sich eher belästigt. Inzwischen gebe ich ihnen für beides kaum noch Gelegenheit.

Abschließend zurück zum Text - ja, man kann sagen, ich lästere. Ja, man kann sagen, ich mache mich lustig. Über mich. ;)

Antwort geändert am 16.04.2018 um 12:22 Uhr
_fox_ (30) meinte dazu am 16.04.18:
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 drmdswrt meinte dazu am 16.04.18:
Ich sag auch mal "Danke!" für die ausführliche Erklärung nach so langer Zeit.
Ich finde die Betrachtungsweise (gesundes Ich beschreibt krankes Ich als Du) sehr interessant, und deshalb darf der Text alles. Ich empfinde ihn übrigens als beklemmend – und sehr nachvollziehbar. Von beiden Seiten nachvollziehbar. Vielleicht auch nicht zuletzt wegen: »Viele der Symptome kommen abgeschwächt als gelegentliche „normale“ Verhaltensweisen bei „normalen“ Menschen vor.« Auch da gibt es verschiedene Stufen nach oben. Mancher bewegt sich da irgendwo im Mittelfeld, eine Gratwanderung, die manchmal sehr gefährlich ist. Was jetzt nichts darüber aussagt (oder aussagen soll), wo ich in einer möglichen Skala stehe...
starfish8305 (55)
(30.01.16)
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 keinB meinte dazu am 01.02.16:
Oder du machst ein Glasmosaik draus. Hervorragend als Kerzenglas. :)
Liebe Grüße und danke
KB
starfish8305 (55) meinte dazu am 01.02.16:
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TaigonGonzales (26)
(30.01.16)
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 keinB meinte dazu am 01.02.16:
Geht auch ohne was intus. ;)

 Judas (01.02.16)
Oh! Dieser Text ist zurück. Ich mochte ihn damals. Mag ihn immer noch. Hab ihn schon vermisst.

 keinB meinte dazu am 01.02.16:
:)
Danke.
plyzylus (17)
(06.03.16)
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Marjanna (68)
(16.04.18)
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 keinB meinte dazu am 16.04.18:
Ich danke (auch für‘s Projekt). :)
matwildast (37)
(16.04.18)
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 keinB meinte dazu am 16.04.18:
Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du mit distanzierter Haltung meinst.
matwildast (37) meinte dazu am 16.04.18:
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 keinB meinte dazu am 16.04.18:
Ich hatte den Text hier schon mal drin. Damals hat jemand (ich weiß nicht mehr, wer) kommentiert, dass der eigentliche Kranke hier ja der Erzähler sei, mit seiner völlig empathielosen kommentierenden Beobachterei. Ich fand das ziemlich klug.

Mir ging es nie darum, mit diesem Text zu berühren. Mir selbst geht ‚sie‘ mit ihrem Dauerdrama so dermaßen auf den Senkel, dass ich gar nicht anders konnte, als zynisch zu schreiben. Dass es nich nur zynisch wurde, sondern auch Mitgefühl mitschwingt, liegt am immer noch verhandenen Wohlwollen des prosaischen Ichs.
matwildast (37) meinte dazu am 16.04.18:
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 keinB meinte dazu am 16.04.18:
Die Erläuterungen seitens des habe ich unter den ersten Kommentar geklatscht. Eventuell liegt da auch der Hase im Pfeffer, warum ich diesen Text gar nicht anders schreiben konnte als distanziert. :)
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