Die Welt ist ein Nachtmensch

Erzählung zum Thema Alles und Nichts...

von  philippjonas

„ All die Dinge machen mich krank, machen alle krank.“, sagt er, „Schau dich doch mal um!“

Alle sind vegane Glücksmenschen, lächeln dich an und hinter der Fassade säuft der Vater, weil er seinen Job bei der Bank hasst, die Mutter hat Depressionen und Selbstermordgedanken weil keiner ihr zuhört. Das Kind wächst mit psychisch kranken Eltern auf, die ihr ganzes Leben nur mit sich selbst beschäftigt sind und ihm so die perfekten Aussichten für ein Leben, geprägt von Einsamkeit, Komplexen und Minderwertigkeitsgefühlen, geben.
Sie muss sich betatschen lassen, der Bruder schirmt sich ab.

Die Mutter traut sich nach mehreren Jahren und etlichen Stangen Zigaretten zum Arzt zu gehen und bekommt Antidepressiva verschrieben, von denen sie abhängig wird. Der Vater fängt an seine Kinder zu schlagen, nachdem er gefeuert wurde und sich nutzlos wie ein Haufen Scheiße fühlt. Wenn er zuschlägt hat er das Bild vor Augen wie der Großvater des Jungen auf ihn eintritt, obwohl er schon am Boden liegt. Die Frau verlässt ihn eines abends. Abende sind da um zu verlassen, sie verlangen danach, betteln und flehen, der Tag dagegen bittet um Vergebung und bereut.

Sie nimmt die Kinder mit, er führt nun ein Leben als Arbeitsloser, lebt vom Staat und wird in den Akten als arbeitsmarktferne Person geführt. Schon einige Zeit im Wechsel, fühlt sie sich ausgelaugt, verbraucht und wenn sie abends von ihrem Job nach Hause kommt und die Kinder schlafen, weiß sie nichts mit ihrer Zeit anzufangen. Sie sitzt da, oft stundenlang und starrt auf den leeren Fernseher. Angst einzuschlafen, Angst aufzuwachen. Zigarette, Feuer, Balkon.
Die Stadt erblickend, aus dem siebten Stock, die Menschen klein und unwichtig, unscheinbar, sinnlos. Erinnerungen an ihn kommen auf, an seinen Bieratmen wenn er besoffen und dreckig über ihr lag und seine Hand auf ihren Mund presste.
An das Ehebett, die Wohnung in der sie lebten. Kein Balkon, kleine Zimmer, ein Kinderzimmer. Die Räume durch flüchtig-wabernden Rauch verbunden.
Aus keinem bestimmten Grund zieht sie an ihrer Zigarette und die hält die Luft an, fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Sekunden, sie zählt bis sie nicht mehr kann und wiederholt die Prozedur. Sie denkt an Krebs. Raucher sterben früher. Depressive Menschen bringen sich öfter um. Sie nicht. Selbstmord geht nur Andere was an, man selbst ist die einzige Person die nie von Selbstmord betroffen ist, denkt sie.

Er sitzt auf der Coach. Eine Bierdose in der Hand, ein gelber Sack in der Ecke. Offen nicht zugeschnürt. Halbvoll. Zigarette in der linken Hand. Gutes Gefühl. Kopf bei den Kindern. Kopf bei seinem Vater. Das bisschen Prügel tut denen nichts, denkt er. Sein Vater habe ihn schließlich auch geprügelt und überhaupt, wie viele Kinder werden wohl jeden Tag verprügelt? Wie viele sterben jeden Tag an Hunger? Wenigstens gab es immer genug zu essen, denkt er, nie hat es an etwas gemangelt, bis diese Nutte mit den Kindern abgehauen ist. Er zieht an seiner Zigarette.
Zigarettenrauch ist nicht blau, Zigarettenrauch ist grau, wie jeder Rauch, denkt er und trinkt einen Schluck lauwarmes Dosenbier.

Nachdem sie aufwacht, blinzelt sie, hebt ihre Hände hoch und betrachtet eine ganze Weile ihre Finger, bis sie merkt, dass sie pinkeln muss. Die Tür gibt nach, als sie mit der Handfläche dagegen drückt, der Boden fühlt sich kalt an ihren nackten Füßen an. Das Licht surrt leise, sie hört das Plätschern und macht das Licht aus, während sie noch auf der Schüssel sitzt und ihre Augen gewöhnen sich allmählich an die Dunkelheit. Sie wäscht sich die Hände, trocknet sich ordentlich ab und huscht auf den Gang. Wenn alles dunkel ist, darf nichts laut sein, denkt sie. Dunkelheit verlangt nach Stille, nach stillen Geräuschen, nach Tapsen und Knarren, nach ruhigen, gleichmäßigen Atmen. Ihr Atem ist nicht ruhig, das viele Denken bringt mich aus der Puste, denkt sie. Man hört tapsende Kinderfüße, ein leichtfüßiger Mädchengang, auf routiniert verlegtem Billigparkett. Ein langer Gang und schemenhafte Dunkelheit, ein kleines Mädchen mit langen braunen Haaren, einen toten Vater, eine rauchende Mutter, es ist halb ein Uhr morgens, gestern war Freitag. Sie bleibt kurz stehen, die Wohnzimmer- und Balkontüre sind offen, sie ist fokussiert, wie jede Nacht, sie hört die Mutter am Balkon stehen.
Das Geräusch wie Tabak verbrennt, wenn man an Zigaretten zieht. Heimat.

Die Bettdecke ist nicht mehr warm, doch liegt sie genau richtig um schnell darunter zu schlüpfen, über ihr nur das Holz vom Hochbett, ihr Bruder schläft und sie hört ihn leise atmen. Nächte, denkt sie, Nächte sind die besseren Tage. In der Nacht hat die Welt Zeit sich meinen Gedanken zu widmen, die Welt schläft am Tag und nachts, nachts da ist sie wach. Die Welt ist ein Nachtmensch, denkt sie, dann schläft sie ein. Ihr Atem ist ruhig, ruhiger als zuvor, gleichmäßiger.
Es bleiben nackte Mädchenfüße auf routiniert verlegtem Billigparkett, ein surrendes Licht, eine rauchende Mutter und ein längst vergessener Vater.


Anmerkung von philippjonas:

Es ist Mittwochabend und ich sollte eigentlich lernen.

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (04.02.16)
[Das Kind wächst mit zwei psychisch kranken Eltern auf, die ihr ganzes ...] Hier sicher gemeint: Mit psychisch kranken Eltern oder ...zwei Elternteilen.

Eine Erzählung, die mich durch ihre Erzählweise fesselt, die mich berührt und nachdenklich macht.

Formulierungen und Satzbau sind beneidenswert vollkommen für eine Lyrikerin wie mich, die sich mit Prosa schwer tut.

Liebe Grüße
Llu ♥
(Kommentar korrigiert am 04.02.2016)
sol (32)
(04.02.16)
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