Unmittelbar. Das literarische Präsens erzählt

Erzählung zum Thema Zeit

von  EkkehartMittelberg

Hoppla, da bin ich und bin doch schon gleich wieder vorbei. Ich bin ein Tempus von kurzer Dauer, jedenfalls in der Poesie. Deshalb schätzen mich Lyriker besonders, weil ich den Augenblick festzuhalten versuche und mir doch der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens bewusst bin:

Georg Trakl: Verfall
Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
(e 1913)

aus: aus: Conrady, Karl Otto: Das Buch der Gedichte. Cornelsen/Hirschgraben, o. J., S. 355

Doch nicht alle Dichter mögen sich mit dem Verfall abfinden und darum verwenden sie mich, zum Beispiel mit leiser Ironie, als konstatierendes Präsens, um wenigstens ein Kontinuum des Vergänglichen zu behaupten:

Theodor Fontane: Es kribbelt und wibbelt weiter

Die Flut steigt bis an den Arrarat,
Und es hilft keine Rettungsleiter,
Da bringt die Taube Zweig und Blatt -
Und es kribbelt und wibbelt weiter.
Es sicheln und mähen von Ost nach West
Die apokalyptischen Reiter,
Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,
Es kribbelt und wibbelt weiter.
Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,
Es brennen Millionen Scheiter,
Märtyrer hier und Hexen da,
Doch es kribbelt und wibbelt weiter.
So banne dein Ich in dich zurück
Und ergib dich und sei heiter,
Was liegt an dir und deinem Glück?
Es kribbelt und wibbelt weiter.
(e 1889)
aus: Conrady, Karl Otto: Das Buch der Gedichte. Cornelsen/Hirschgraben, o. J., S. 307

Als konstatierendes Präsens bin ich auch für die Kritik an einer Gegenwart zuständig, die sich nicht zu verändern scheint, und gebe doch der paradoxen Hoffnung Ausdruck, dass sie sich ändern könnte:

Ingeborg Bachmann: Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
[...]*
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
(e 1953)

aus: Die gestundete Zeit. München: Piper 1964, S. 26
* Dieser Text wurde wegen des Urheberrechts gekürzt

Immer wieder setze ich mich mit dem Schicksal auseinander, das dem Menschen seine Absurdität aufnötigt, und suche nach Wegen, wie man dem Absurden Sinn verleihen kann:

Ekkehart Mittelberg: Sisyphus

Wieder einmal donnert der Marmorblock
ungestüm zu Tal.
Früher warst du verzweifelt,
wenn er dir entglitten war.
Heute schaust du ihm gelassen nach,
denn du weißt,
dass jetzt der angenehmere Teil deiner Arbeit beginnt.
Du genießt den federleichten Abstieg mit geschickten Schritten,
die du in die Stapfen setzt,
ausgetreten von deinen Füßen in Jahrzehnten.

Du weißt, welche nie endende Mühsal mit dem Felsblock
am Fuße des Berges auf dich wartet.
Deswegen hast du früher ob der absurden Strafe
den unbarmherzigen Zeus verflucht.
Heute lächelst du über ihn;
denn er kriegt dich nicht klein.
Lange Jahre war es eine Schinderei,
heute ist es nur noch schwere Arbeit,
den Marmorblock wieder hoch zu schaffen.

Du weißt genau, wo du zupacken musst,
um die Schwerkraft zu besiegen,
wie du den Koloss schultern musst,
um Luft zum Atmen zu behalten,
wie du die Schritte setzen musst,
um das Gleichgewicht zu bewahren,
in welchem Tempo du aufsteigen musst,
damit der Block nicht vorzeitig zu Tal rollt.

Denn wenn dein Leben schon absurd ist,
soll es eine solide Absurdität sein,
eine, die du im Griff hast und meisterst.
So steigst du heute unendlich trainiert
rhythmisch mit deiner Last bergan.
Nur selten noch rinnt dir der Schweiß in die Augen,
und du hast dich klar sehend
im Gleichmaß des Absurden eingerichtet.
Mit Würde trägst du konzentriert deine Last bergauf.
Nicht Herr deines Schicksals, aber Herr deiner Zeit;
und wenn du, von der Last befreit, absteigst,

lächelst du.

(e Dezember 2012)

Ich erreiche als szenisches Präsens Höhepunkte meiner Erzählkunst. In einer im Präteritum und/oder Plusquamperfekt erzählten Geschichte springe ich, von dem Geschehen fasziniert, in die Gegenwart hinein, um meine Leser das Erzählte als unmittelbar empfinden zu lassen:

Heinrich von Kleist: Mutterliebe

Zu St. Omer im nördlichen Frankreich ereignete sich im Jahre 1803 ein merkwürdiger
Vorfall. Daselbst fiel ein großer toller Hund, der schon mehrere Menschen beschädigt
hatte, über zwei, unter einer Haustür spielende, Kinder her. Eben zerreißt er das jüngs-
te, das sich, unter seinen Klauen, im Blute wälzt; da erscheint, aus einer Nebenstraße,
mit einem Eimer Wasser, den sie auf dem Kopf trägt, die Mutter. Diese, während der
Hund die Kinder loslässt, und auf sie zuspringt, setzt den Eimer neben sich nieder; und
außerstand zu fliehen, entschlossen, das Untier mindestens mit sich zu verderben, um-
klammert sie, mit Gliedern, gestählt von Wut und Rache, den Hund: sie erdrosselt ihn,
und fällt, von grimmigen Bissen zerfleischt, ohnmächtig neben ihm nieder. Die Frau
begrub noch ihre Kinder und ward, in wenig Tagen, da sie an der Tollwut starb, selbst
zu ihnen ins Grab getragen.
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/heinrich-von-kleist-anekdoten-592/10

Abschließend möchte ich mich Ihnen mit einem unvollständig zitierten  Gedicht (Urheberrecht) vorstellen, in dem ich Ihnen über die Situation des präsentischen Perfekts („wenn das Fenster geöffnet ist...“) noch einmal zeigen kann, wie sehr ich in der Lyrik dem Augenblick und dessen Vergänglichkeit verhaftet bin.

Günter Eich:Augenblick im Juni

Wenn das Fenster geöffnet ist,
Vergänglichkeit mit dem Winde hereinweht,
mit letzten Blütenblättern der roten Kastanie
und dem Walzer „Faszination“
von neunzehnhundertundvier,
wenn das Fenster geöffnet ist
und den Blick freigibt auf Flußhafen und Stapelholz,
das immer bewegte Blattgewirk der Akazie, -
wie ein Todesurteil ist der Gedanke an dich, […]

(aus: Ausgewählte Gedichte, hrsg. Von Walter Höllerer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1960)

© Ekkehart Mittelberg, Februar 2016

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (19.02.16)
Als Freund von Erzählungen kann ich hinzufügen, dass man es mit der Gegenwartsform, in einer Geschichte, die sonst in der Vergangenheitsform erzählt wird, schafft, Dramatik zu erschaffen, den Leser direkt in die Handlung zu ziehen. Diesen ständigen Wechsel habe ich in einer meiner Erzählungen, die nicht hier auf KV einstehen, vorgenommen und es wirkt phänomenal.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Merci, Trekan, du ergänzt den Effekt, den ich unter dem Stichwort "szenisches Präsens" angesprochen habe. Er ist tatsächlich sehr wichtig, wenn man packend erzählen will.

 loslosch antwortete darauf am 19.02.16:
aber, aber, meine herren, was ist mit der "perle der perlen" (thomas mann), nämlich der "Mondnacht" von eichendorff?

 hier.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 19.02.16:
Ja, das ist ein schönes Beispiel für den Konjunktiv.^^

 tulpenrot äußerte darauf am 19.02.16:
Tja, wenn Fachleute zugange sind ....
amüsiert
Angelika

 tulpenrot (19.02.16)
Guten Morgen Ekki,
das sind zum Teil hochdramatische Beispiele - ein bisschen schwere Kost am frühen Morgen. Aber dennoch mit Interesse gelesen.
LG
Angelika

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 19.02.16:
Liebe Tulpenrot,
ich danke dir für dein Interesse und die Empfehlung, egal, ob am frühen Morgen oder späten Abend.
LG
Ekki

 Didi.Costaire (19.02.16)
Mensch Ekki, hier mischt du ja in der 1. Lyrik-Liga mit. :D
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Tja, Didi, in der 1. Lyrik-Liga gibt es keinen Trainer und ich habe das Selbstbewusstsein, mich auch m a l selbst aufzustellen. Merci für das aufmerksame Hinschauen.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 (19.02.16)
Ich weiß schon, warum ich das Präsens so liebe. Du hast es mir noch einmal wunderbar nahe gabracht. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Danke, Armin. Das freut mich sehr.
LG
Ekki

 Lluviagata (19.02.16)
Ich mag es auch sehr.
Trakl ... eins meiner großen Vorbilder.

Vielen Dank für diese sehr interessante Unterrichtsstunde!

Liebe Grüße
Llu ❤

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Gracie, Andrea,
es ist eine schöne Anerkennung, dass du den Text für interessant hältst.
Liebe Grüße
Ekki
Lewin (75)
(19.02.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Merci, Lewin, demnächst schreibe ich wieder etwas Leichteres, hoffentlich nicht zu Leichtes.
Herzlich
Ekki
wa Bash (47)
(19.02.16)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 19.02.16:
Vielen Dank, wa Bash, was gefällt, fällt nicht durch.
LG
Ekki

 TassoTuwas (21.02.16)
Lieber Freund,
nach zwei Tagen ununterbrochenen Nachdenkens über deine eigentlich schlüssigen Ausführungen zu den Feinheiten der deutschen Grammatik, muss ich gestehen, ICH bin GESCHEITERT!!
Will es mir doch nicht gelingen das folgende, typische Straßengespräch:
"Eh boah Alter".
"Du nervst, was willste".
"Manno, voll die Arschkarte".
"Null Bock, du Penner".
in Futur 2 oder Plusquamperfekt zu bringen!
In stiller Verzweiflung
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.02.16:
Du stellst mich vor eine große Herausforderung, mein Freund. Doch bevor ich resigniere, will ich es wenigstens versucht haben.

"Eh boah Alter".
"Du hattest immer genervt, was willste".
"Manno, es wird voll die Arschkarte gewesen sein".
"Null Bock, etwas anderes wirst du nie gehabt haben, du Penner".

Gracie Tasso, wir hatten schon schlechtere Zeiten.

Herzliche Grüße
Ekki
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