Amir und der Knopf

Kurzprosa zum Thema Aktuelles

von  Abuelo

Du bist ein orientalischer Knopf. Losgerissen wie ich.
Nahla, mein Schwesterchen, hielt dich in der Hand, als die Bewaffneten unseren Vater fortschleif­ten. Sie hatte vergeblich versucht, sich an ihn zu klammern, an seiner Kleidung gezerrt, bis sie stürzte.
Sie hat dich aufbewahrt. Für Papa, meinte sie, wenn er wiederkommt.
Er kam nicht mehr.
Dann durftest du mich begleiten. „Nimm ihn mit, großer Bruder“, sagte Nahla beim Abschied zu mir.
Du solltest mir Glück bringen auf der Reise. Mein Onkel, der uns aufnahm, verkaufte unseren Hausrat und sein Motorrad, um die Schlepper zu bezahlen. Er schickte mich in das Land, wo Frie­den herrscht und Fremde geduldet werden. Mutter und Nahla könnten später wohl nachkommen, glaubte mein Onkel. Vielleicht sogar auch seine Familie. Meine Hoffnung, sie wieder zu sehen, ist wie ein Nähfaden, der von dir bis zu ihnen reicht.
Du bist nicht größer als mein Daumennagel. Bei schwacher Beleuchtung könnte man dich für ganz schwarz halten, aber Sonnenlicht verrät dein Geheimnis, ein hübsches silbriges Sternenmuster mit arabischen  Schriftzeichen, die mir sagen, dass Gott bei mir ist. Das erkennt man erst, wenn man dich sehr genau anschaut.
Unterwegs habe ich dich meistens nur gefühlt. In meiner Brusttasche, mit Reißverschluss gut gesi­chert, bliebst du bei mir. Auf dem schwankenden Boot zwischen Asien und Europa, auf den langen Märschen von einer Grenze zur anderen, bei gefährlichen Mitfahrten auf Lastwagen und in überfüll­ten Zügen.
Oft tastete ich nach dir wie nach einem Halt. Warm fühlst du dich an. Rau ist deine gewölbte Vor­derseite, nicht ganz rund, eher oval. Die Öse aus dünnem Draht biegt sich etwas beiseite. Ich ver­spreche dir, dass ich sie immer vor dem Abbrechen bewahren werde.
Du bist sicher nicht älter als Nahla. Ich aber wurde bereits im Jahr des Anschlags auf das World Trade Center geboren. Damals ging es noch ruhig und friedlich zu in unserem Land. Du aber erleb­test nur noch die Zeit der Schüsse, Bomben und Überfälle.
Jetzt sind wir nach Aufenthalten in mehreren Flüchtlingslagern in einer sicheren Unterkunft für el­ternlose Jugendliche.
Gut aufgehoben? Im Land der Christen? Auch hier gibt es Hass und Streit. Die Polizei braucht man  nicht zu fürchten. Aber auch Brandstifter fürchten sie nicht. In den Ämtern wird kein Bestechungs­geld erwartet. Doch sie funktionieren nur sehr langsam. Immerhin sind viele Menschen bereit, den Flüchtlingen das Ankommen zu erleichtern und Hilfe anzubieten.
Man spricht hier von Leuten mit ausländischen Wurzeln. Haben Flüchtlinge Wurzeln?
Du abgerissener Knopf kannst sicher noch einen Halt finden, Halt geben.
Und ich?

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(25.02.16)
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 Dieter_Rotmund (23.10.19)
Ist mir persönlich zu hölzern-pathetisch geschrieben. Aber wer's mag ...
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