Kinderspiele während des Zweiten Weltkriegs und danach

Erzählung zum Thema Krieg/Krieger

von  EkkehartMittelberg

Es wird Sie nicht wundern, lieber Leser, dass der Zweite Weltkrieg, der am Ende in Europa allgegenwärtig war, auch Kinderspiele in Deutschland beeinflusste. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich Ihnen von drei Spielen erzählen.
Das erste Spiel nannten wir Kinder „Silberstreifen“. In meiner Heimat in Hamm (Westfalen) gab es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges (1944/45) den größten Rangierbahnhof Europas, der für die Nationalsozialisten und für ihre britischen und amerikanischen Feinde von größter Bedeutung und deshalb wiederholt Ziel britischer und amerikanischer Bombenangriffe war. Anfangs konnte er von der deutschen Flugabwehr, der FLAK, relativ erfolgreich verteidigt werden, bis sich die Alliierten entschlossen, die Düppel-Strategie zur Störung der deutschen Radarschirme anzuwenden.

http://www.linkfang.de/wiki/D%C3%BCppel_%28Radart%C3%A4uschung%29

Ich erzähle von dieser Strategie jetzt so, wie wir Kinder sie wahrnahmen. Die Bomber warfen stark reflektierende Stanniolstreifen ab, von uns als Silberstreifen bezeichnet. Sie hatten unterschiedliche Formen und reflektierten selbst an dunklen Tagen, verstreut auf den Äckern des Münsterlandes, faszinierend das Licht. In ihrer einfachsten Form glichen sie dem Lametta, das man an Christbäume hängt. Aber es gab sie auch in einer Länge von mindestens einem Meter und einer Breite von mehreren Zentimetern, auf jeden Fall in unterschiedlichen Formationen. Das verlockte uns, eine Sammlung von ihnen anzulegen und sie zu tauschen, um ihre Varianten komplett zu besitzen.
Aber dieses Spiel wurde von allen Müttern und Großeltern (die Väter waren an der Front) verboten, die befürchteten, dass die auf den Feldern nach den Silberstreifen suchenden Kinder zum Ziel von Tieffliegern werden könnten. Mir ist kein einziger Fall bekannt, dass dies geschah. Dennoch war die Befürchtung der Erwachsenen nicht ganz unbegründet, weil Züge mit sog. Hamsterern, die zum Lebensmittelerwerb aufs Land fuhren, tatsächlich von den Alliierten beschossen wurden.
Doch wir waren der Faszination des glänzenden Spielzeugs Silberstreifen verfallen und wussten die Erwachsenen zu täuschen. Wir zogen vor dem Betreten der Äcker unsere Schuhe aus, damit uns nicht Erdkrumen an ihnen verrieten. Einer von uns hatte einen Schlüssel für ein abgelegenes Gartenhäuschen, wo wir die Silberstreifen deponierten und er korrekt das Eigentum jedes Einzelnen verwaltete. Mit der Einstellung der Bombenangriffe im Frühjahr1945 beendeten wir das Spiel, weil es keinen Nachschub an Silberstreifen mehr gab.
Das zweite Spiel hieß „Deutschland erklärt den Krieg gegen...“. Nach Belieben der Spieler wurde Amerika, Russland, England oder Frankreich als Feind eingesetzt. Zwei Einzelspieler oder zwei kleine Gruppen konnten gegeneinander kämpfen. Zu diesem Zweck malten wir mit Kreide ein Quadrat auf den Bürgersteig und halbierten es in die Herrschaftsbereiche von Deutschland und zum Beispiel Russland. Der Spieler, der gerade am Zuge war, warf drei oder vier Knöpfe in die gegnerische Hälfte, die auf einer Linie liegen mussten, damit sie mit Kreide nachgezogen und die erweiterte Fläche als territorialer Gewinn eines Eroberungskriegs verbucht werden konnte. Das Spiel war beendet, wenn der Gewinner das gesamte Gebiet des Feindes eingenommen hatte. Wir spielten noch 1946 „Deutschland erklärt den Krieg“, nachdem der Zweite Weltkrieg längst verloren war. Mit einem Münzwurf wurde entschieden, wer die Rolle Deutschlands übernahm, die trotz oder wegen des verlorenen Weltkriegs sehr beliebt war.
Das dritte Spiel, Schweigemarsch genannt – es war eher ein makabrer Schülerstreich - ereignete sich erst 1953 auf dem Gymnasium. Wir hatten damals einige kriegsversehrte Lehrer, welche den aufgrund ihres langweiligen Unterrichts entstehenden Lärm in den Klasse nicht ertragen konnten und aggressiv versuchten, mit drakonischen Strafen Ruhe herzustellen. Es lag nahe, dass wir unsererseits darauf aggressiv reagierten und unseren Spaß daran hatten, diese Lehrer auf die Palme zu bringen. Ein Mitschüler kämmte damals sein gescheiteltes dunkles Haar wie Adolf Hitler und hielt sich einen kleinen Kamm unter die Nase, um den Schnurrbart des Führers vorzutäuschen. Er verfügte über einige Stereotypen aus den Reden Hitlers, die er in den Pausen zur Einstimmung zum Besten gab. Während des Unterrichts zischte er aus der letzten Bank „Schweigemarsch!“, worauf wir unter den Bänken rhythmisch zu trampeln begannen. Bevor sich der so malträtierte Lehrer erhoben hatte, um die Marschierer zu bestrafen, war es leicht für uns, sofort die Füße ruhig zu halten, sodass keiner von uns als Trampel erwischt wurde. Mit jungen tüchtigen Lehrern auf der Oberstufe verlor der martialische Schweigemarsch seinen Reiz. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir diesen für uns fast risikolosen Streich als Gemeinheit empfanden. Eher genossen wir unsere Macht.
© Ekkehart Mittelberg Mai 2016

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Kommentare zu diesem Text


 loslosch (28.05.16)
an die spiele "deutschland erklärt den krieg gegen ..." kann ich mich gut erinnern. sie wurden auch noch ende der 1940er jahre von uns kindern gedankenlos gespielt, und die erwachsenen schauten weg. mein älterer cousin sammelte stoffreste von fallschirmen, die ich zuhause bestaunen durfte. dann gab es noch vor kriegsende den kinderspruch, den ich begeistert nachplapperte: "ende, ende, überm kuhstall kampfverbände." genau genommen ein schöner spruch!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Danke für deinen Kommentar, Lothar. Mir ist deine Bestätigung wichtig, dass "Deutschland erklärt den Krieg gegen..." noch Ende der 1940er Jahre weiter gespielt wurde. Ich war mir meiner Erinnerung daran nicht ganz sicher.

 loslosch antwortete darauf am 28.05.16:
ja, nach dem kriegsende. ab mitte 1945 war ich wegen einer schweren diphtherie außer gefecht gesetzt, dann erst ab 1946 bei den kriegsspielen im "einsatz". ich erinnere mich, dass mutter katharina aus der nachbarschaft ihrem bruno zurief: "net so laut!"

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 28.05.16:
;-))

 TrekanBelluvitsh (28.05.16)
Historische Anmerkung:
Die Düppelstreifen, von den Alliierten "Window" genannt, kamen zum ersten Mal bei der "Operation Gomorrha", einer Reihe von Luftangriffen auf Hamburg im Juli/August 1943 zum Einsatz - mit verheerender Wirkung. jene Angriffe waren sehr viel wirksamer und verlustreicher als jene bekannteren auf Dresden im Februar 1945. Im Hamburg kam e zum ersten Mal im großen Umfang zu dem Phänomen des "Feuersturms".
Die Düppel-/Windowstreifen wurden damals verschieden zugeschnitten, weil sich ihre Länge und breite nach den Wellenlängen der Radargeräte richtete, die gestört werden sollten. Wirklich gelöst konnte das Problem auf technische Weise nie, aber die Radarbediener lernten, Düppel-/Windowwolken von Flugzeugen zu unterscheiden, den die reflektierenden Streifen standen ja in der Luft und glitten langsam zu Boden, während die Bomber mit Geschwindigkeiten zwischen 300 und 400 Stundenkilometern durch die Luft flogen.

Zum Text:
Sehr interessanter Text. Du bist da nicht nur Zeitzeuge, sondern ordnest das Ganze auch gleich ein. Das erhöht das Verständnis. Kinder setzen ihre Umgebung eben um, sehr direkt, in ihr eigenes Leben. Das zeigte ja bereits deine Maikäfergeschichte.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 28.05.16:
Gracie especiale, Trekan, insbesondere für die gut verständliche historische Anmerkung.
Mir bedeutet es viel, dass du meinen Text als Zeitzeugnis verstehen kannst.

 Didi.Costaire (28.05.16)
Obwohl geschichtlich interessiert, hatte ich von den beschriebenen Spielen vorher nichts gehört. Daher ist dieser Erfahrungsbericht, wenn auch inhaltlich ein bisschen makaber, sehr wertvoll.
Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 28.05.16:
Danke, Didi, das freut mich sehr.
Das zweite und dritte Spiel sind tatsächlich ein bisschen makaber. Aber ich verstehe dich so, dass du dies dem Erzähler nicht anlastest.
Liebe Grüße
Ekki

 Jorge (28.05.16)
Interessant, wie in einigen Klassen vor uns der Krieg die Kinderspiele beeinflusste.
Wir sammelten in den Wäldern in und um Berlin Stahlhelme, Handgranaten und Munitionshülsen. Noch lange bis Ende der 50er Jahre konnte man in alten Schützengräben fündig werden.
LG
Jorge

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Danke, Jorge, auch meine Generation sammelte Handgranaten und Munitionshülsen. Als es dabei in meiner Nachbarschaft zu einer gravierenden Handverletzung kam, wurde das Spiel abrupt eingestellt.
LG
Ekki
Melisande (59)
(28.05.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Merci, Melisande, man könnte wirklich an Hoffnungsträger denken mit Blick auf die Tatsache, dass in meiner Region keines der die Silberstreifen sammelnden Kinder durch Tiefflieger angegriffen wurde.
Liebe Grüße
Ekki
chichi† (80)
(28.05.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Ich denke, Gerda, dass du es dennoch wichtig findest, dass diese Spiele festgehalten werden.Merci.
LG
Ekki
(Antwort korrigiert am 28.05.2016)

 AZU20 (28.05.16)
Sehr interessant. Ich war vermutlich noch zu jung für diese Spiele oder auf dem Land fanden sie nicht statt. LG in den Tag

 loslosch meinte dazu am 28.05.16:
das hat was mit der strategischen lage zu tun. ich lebte auf dem land nahe einem eisenbahnknotenpunkt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Merci, Armin. Lothars Antwort trifft zu. Auch unser Silberstreifen- Spiel war der strategischen Lage in der Nähe des bedeutenden Rangierbahnhofs in Hamm (Westf.) geschuldet.
LG
Ekki
Graeculus (69)
(28.05.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Danke, Graeculus. Ich vermute, dass Kinderspiele zum Teil die Produktionsverhältnisse widerspiegeln und in in diesem größeren Rahmen auch die Rüstungsproduktion. Siehe dazu auch die Anmerkung von Jorge in diesem Thread.
wa Bash (47)
(28.05.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 28.05.16:
Ja, ich stimme dir zu, wa Bash. Die beliebten Indianerspiele waren sicher nicht nur der Originallektüre Karl Mays, sondern auch den DEFA-Pdoduktionen geschuldet.
Ich vermute, dass heute aufgrund der durch Computer massenhaft verbreiteten Kriegsspiele martialische Spiele sogar noch mehr verbreitet sind als während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Danke.

 TassoTuwas (29.05.16)
Hallo Ekki,
in Not und Elend erfinden Kinder sich im Spiel ihre eigene Welt.
Deine Erzählung trägt Erinnerungen im Gepäck.
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 29.05.16:
Gracie, Tasso, wir hielten es für unsere eigene Welt und merkten gar nicht, dass wir beeinflusst waren.
Herzliche Grüße
Ekki
Festil (59)
(30.05.16)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.05.16:
Gracie, Festil, das stimmt: Martaialische Kinderspiele sind in jedem Falle eine Denkaufgabe für Erwachsene.
Liebe Grüße
Ekki

 RainerMScholz (10.03.22, 15:32)
Einer meiner Lehrer in der Eifel, das Fach weiß ich nicht mehr, hatte eine fingerkuppengroße Vertiefung in der Stirn; ein netter und sanftmütiger Mann; doch im Sommer erhitzte sich wohl das aus dem Krieg zurückgebliebene Metall hinter dieser Narbe und er bekam schlimme Tobsuchtsanfälle in Juni und Juli, die uns Schüler sehr verstörten und ihn wiederum zum Angriff bösartiger Nachrede machten. Im Herbst wurde es dann wieder besser.
Grüße,
R.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 11.03.22 um 18:51:
Merci, Rainer, ich habe für diese kriegsversehrten Menschen immer Mitleid empfunden.
LG
Ekki
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