Nicht von dieser Welt

Beschreibung zum Thema Alleinsein

von  ian_grey

Kennt ihr das? Man sitzt abends gemütlich mit seinen Freunden zusammen bei einem Bier, und jeder erzählt Anekdoten aus seinem Arbeitsalltag. Die Stimmung ist gut, alle lachen - und einer schweigt. Man denkt sich: der ist aber still heute. Vielleicht müde, vielleicht krank. Oder schüchtern. Introvertiert.

Tja, ich bin einer von diesen Schweigenden. Klar, ich rede sonst auch nicht viel, aber gerade bei dieser Gelegenheit ist kein Ton von mir zu hören. Denn ich bin auf eine ganz besondere Art anders: Ich bin Informatiker. Software-Entwickler, um genau zu sein. Und ich erlebe jeden Tag so viel Mist, bekomme jeden Tag eine Wagenladung voller Anekdoten vor die Nase gesetzt, ich muss nur zugreifen und sie einstecken. Und dennoch schweige ich. Warum?

Dazu muss ich etwas ausholen. Zu den Anekdoten der Anderen. Da ist zum Beispiel Peter. Peter ist LKW-Fahrer, aus Leidenschaft. Er hat nach dem Abitur beschlossen, lieber eine Ausbildung zu machen, und seine Begeisterung für Kraftfahrzeuge aller Art zu seiner Berufung gemacht. Und Peter erzählt: "Da fahr ich also auf die A8, wie immer. Mir war ja schon bewusst, dass es ein bisschen geschneit hat. Aber was mich auf der Autobahn erwartet hat, hab ich noch nie erlebt: ich fahr also gemütlich um die Kurve, erschrecke, mache eine Vollbremsung, und steh vor einer weißen Wand. Es hat nicht mehr viel gefehlt, dann hätte ich von meiner Fahrerkabine aus einen Schneemann bauen können. Da hilft dann auch nicht mehr viel - ich ruf’ also den Disponenten an und warte auf den Räumdienst." Alle lachen. Weil sich jeder in die Situation reindenken kann.

Oder Timo. Timo hat gerade sein Medizinstudium beendet, und macht die Facharzt-Ausbildung zum Chirurgen. "Und gestern, da war ein Patient da, ich musste mich echt zusammenreißen, damit ich nicht laut loslache... hat der doch glatt eine Bissverletzung im Enddarm. Und erzählt dann, dass er sich aus Versehen auf seinen Hamster gesetzt hat." Noch mehr Gelächter.

Philipp, ein Ingenieur, erzählt: "und ich sitz so da, und baue meine Platine. Ein Widerstand, ein kurzer Leiter, ein Chip, ein Knopf..." - "Ein Knopf?!" - "Jepp, ich Trottel hab einfach mal meinen Hemdknopf auf die Platine gelötet. Macht das nie, Jungs. Das Plastik stinkt wie Hölle, und die Platine ist für’n Arsch." Peter: "Das kann ich mir vorstellen. Ich hatte letztens eine Ladung Tiefkühlfisch, und mitten auf der A6 ist mir dann die Kühlung ausgefallen..." Gelächter. Timo: "Boah, das ist ja sooo eklig. Da hatte ich letztens eine auf’m Tisch, ich glaub, die hat sich ihr Leben noch nie untenrum gewaschen..."

Und dazwischen sitze ich. Schweigend. Ich habe allein an diesem Tag drei Fehler in unserem Produkt beseitigt, Fehler die aus purer Dummheit des Entwicklers entstanden sind, und über die ich mich mit meinen Kollegen noch in einem Jahr lustig machen werde. Ich versuch’s also mal: "Heute hatte ich auch wieder einen tollen Bug... da hielt es ein Kollege für eine tolle Idee einen Pointer zu dereferenzieren, den er erst danach setzt. Und das war seit 7 Jahren im Code." Schweigen. "Ein Pointer ist ein Verweis auf eine Variable. Wenn der auf nichts zeigt kann man ihn nicht dereferenziehren. Das führt zu einer Exception." Schweigen. "Einem Crash." Schweigen. "Meine Güte, bei uns hat vor 7 Jahren jemand einen Crash eingebaut, der nie aufgetreten ist, weil die entsprechende Codestelle 7 Jahre lang nie aufgerufen wurde." Ein lautes "Ahhhh" der Menge führt uns dann wieder zurück zu Philipp, dessen Sensor falsch kalibriert war, und zu Peter, der wegen eines Planungsfehlers von einem Kollegen auf der gesamten Tour verfolgt wurde. Ich schweige. Für den Rest des Abends.

Wir Informatiker, Programmierer, Software- und Datenbankjunkies kommen prima klar mit uns. Aber unser Job ist inkompatibel zum Rest der Welt. Wir sprechen eine andere Sprache, eine Sprache, für die es oft keine Metaphern aus der realen Welt gibt. "Mein Kollege hat heute ein Refactoringprojekt einer der Kernklassen eingecheckt, und dabei den Gluecode vergessen, und ist dann in den Feierabend gegangen..." ist für uns völlig verständlich. Einen "Muggel" habe ich dabei spätestens bei dem Wort "eingecheckt" verloren: Dein Kollege ist Lehrer? Eine Klasse eingecheckt? In ein Hotel?

Refactoring bedeutet, dass Code umgeschrieben wird, sodass er danach strukturierter ist, leichter nachvollziehbar, aber immer noch das gleiche tut. Das ist noch einfach. Bei Klassen wird es schon schwieriger: In einem Programm gibt es jede Menge an "Objekten". Ein Objekt ist dabei eine Ansammlung von zusammengehörigen Informationen. Die Art dieses Objekts nennt man "Klasse". So kann zum Beispiel die Klasse "Auto" die Informationen "Hersteller", "Typ" und "Sitzplätze" beinhalten. Für jedes Objekt Auto sind also dann Hersteller, Typ und Sitzplätze eindeutig zuordenbar gespeichert.
Schon etwas komplizierter, oder? Und jetzt der Hammer: "eingecheckt". Es gibt für uns Entwickler Tools, die sich "Versionsverwaltung" nennen. Das kann man sich vorstellen, wie einen Schrank, in dem unser Quelltext liegt. Jeder Entwickler hat eine oder mehrere lokale, nur für ihn selbst zugängliche Kopien dieses Originalschranks, in denen er arbeiten kann, und wenn er eine Änderung so gemacht hat, dass er zufrieden damit ist, kann er (Teile seiner) Änderungen wieder veröffentlichen. Dazu stellt er eine Kopie seiner Kopie des Schranks vor den Originalschrank, was dann die Kopie seiner Kopie zum Originalschrank für alle anderen Entwickler macht. Abgefahrene Sache, das. Aber wenn das alles bei jedem Erzählen einer Anekdote von neuem Aufrollen muss, wird aus einem einfachen Satz ein halbstündiger Vortrag, und keiner möchte mehr zuhören.

Ich würde an der Unterhaltung so gerne teilnehmen. Aber die einzigen allgemein verständlichen Versionen des obigen Satzes, ohne die lange Erklärung, sind: "Ein Kollege hat heute kurz vor Feierabend den ganzen Betrieb blockiert." Und: "Ein Kollege hat heute etwas ganz dummes gemacht, und ich durfte es ausbaden." Und während alle anderen ihre Anekdoten anreichern mit Beschreibungen, Metaphern, Adjektiven und Bildern, kann ich nur stupide diesen einen Satz wiederholen.

An solchen Abenden fühle ich mich genau so: nicht von dieser Welt. Ich sitze da, schweige, und wünsche mich nach Hause. Denn so sehr ich die Zeit mit meinen Freunden auch genieße - wenn ich daran nicht teilnehmen kann, kann ich mich auch einfach mit einer Flasche Wein in die Badewanne setzen, und dabei Musik hören.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (04.06.16)
Nun, die ITler sind - wie der Protagonist - so etwas wie die notorisch überbezahlten, aber gleichsam unterforderten Arbeitnehmer unserer Gesellschaft. Fragt man einen ITler, was seine Arbeit ist, was er tut, kommt nur wirres Gestammel. In dem Gestammel immer enthalten: "Support", "Content" und "Indien" (dort sitzen die wahren Arbeitstiere, der deutsche ITler füllt nur eine überflüssige Hierachieebene aus).

Netter Text, hat aber Längen...!

 ian_grey meinte dazu am 04.06.16:
Natürlich kommt von dem ITler nur wirres Gestammel. "Ich entwickle ein Client-Client-Server-System auf Basis von TCP/IP, welches I/O zwischen zwei Computersystemen vermittelt" versteht ja auch keiner. Nur: übersetzen ist nicht immer so einfach. Und wenn, dann kommt eben sowas heraus, bei dem jeder denkt "ja der tut ja nix".  Ich habe vor einiger Zeit mal einen Text von Peter Welch übersetzt, der ziemlich gut schildert, was "wir ITler" denn eigentlich so genau arbeiten.

Den Seitenhieb mit "Indien" empfinde ich als ein unangebrachtes Vorurteil. Die wenigsten großen Firmen lassen in Indien entwickeln. Und wenn, dann ist das meist nur eine billige Machbarkeitsstudie - die Software, die an die Endanwender raus geht, wird üblicherweise "zu Hause" im eigenen Land entwickelt. Denn was man bei einer externen Entwicklung bei der Erstentwicklung spart, zahlt man beim Upkeep drei bis vierfach...

Längen soll der Text ja auch haben, aber an den richtigen Stellen. Die Erklärung von "Refactoring", "Objekt", "eingecheckt" - die soll lang sein.
(Antwort korrigiert am 04.06.2016)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 05.06.16:
Kurioserweise kenne ich einen ITler, der insoweit seine Arbeit doch beschreiben kann, nämlich als Übermittler von IT-Problemen seiner Kunden an Inder in Indien, diese lösen dann das Problem und schicken es an den (deutschen) ITler zurück, der die Lösung dann dem Kunden präsentiert.

Ich wollte Dich jedoch keinesfalls entmutigen, sondern bin hier um jeden Prosa-Schreiber froh, der halbwegs verständlich schreiben kann! Möchtest Du mal eine Gastkolumne für das Donnerstags-Team schreiben? Wir würden uns freuen!
(Antwort korrigiert am 05.06.2016)
(Antwort korrigiert am 05.06.2016)

 ian_grey schrieb daraufhin am 05.06.16:
Diesen Job würde ich eher ganz frech als IT-Dolmetscher bezeichnen... Braucht man auch, an einigen Unis wird dazu im Informatikstudium auch ein Nebenfach vorgeschrieben, damit man eben auch "ein bisschen was" von anderen Fachbereichen kann, und versteht, was die so von sich geben...

Eine Gastkolumne? Das ehrt mich. Gerne!

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 07.01.20:
Wir sitzen weiterhin mit den Gesichtern zu den Bildschirmen und warten.

 Coschi (10.06.16)
Das Problem liegt in meinen Augen nicht im beruflichen Vokabular. Jede Berufsgruppe hat ihre Fachausdrücke, der Mediziner, der Psychiater, der Mathematiker, ja selbst die Klo-Putz-Tante hat bestimmt einen Wortschatz, der meinen komplettieren würde. Für uns sind Klobürsten einfach Klobürsten.
Das Problem liegt in meinen Augen einerseits daran, dass sich gewisse Menschen nur über ihren Job definieren. Ist man dann berentet, aus welchen Gründen auch immer, ist man niemand mehr. Zum anderen brauchen Metaphern doch ziemlich Phantasie und das Bild muss dabei nicht politisch korrekt und mathematisch logisch sein, es muss nur zeigen was es soll - ein Bild eben, ein Verständnis, nichts mehr. Gerade sehr sachliche, eher bescheiden-kreative Menschen haben damit ihre Mühe. Und gerade bei Informatikern erlebe ich oft, dass sie tatsächlich in ihrer computatibeln Welt leben und unserer Welt komplett fremd sind. Wieviel arbeitet ein durchschnittlicher Informatiker? Und was machen die meisten, wenn sie nach Hause kommen? Richtig, sie sitzen an den PC. Und wenn sie dann doch beim Bier sitzen, was dann? Richtig, sie denken an den eben erstellten Algorithmus und warum er ins Leere führt.

Übrigens ist das auch das Problem von Ärzten, die diesen Metaphern nicht ausweichen können, denn wenn ich wissen will, warum mein Hirn völlig durchgeknallt ist, dass nützen mir irgendwelche Parolen über Neurotransmitter, Sulc und Furchi wenig. Nicht jeder Arzt kann das gleich gut. Bei einem gebrochenen Bein mag es einfach sein, als bei innerm Organversagen, bei einem Virus einfacher, als bei einer Autoimmunreaktion. In jedem Fall aber muss er kreativ genug sein, damit es der andere versteht. Denn der Arzt kann eben nicht nur in seiner Welt leben.

So long. Etwas lang erstens, und etwas fade zweitens. Das Schweigen in der Bar war zumindest vielversprechender, als sich wieder stur auf die Materie zu konzentrieren. Er kam, sah und programmierte? Jedem das Seine.
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