Die Anderen II

Erzählung zum Thema Vergangenheit

von  RainerMScholz

Und dabei wollte ich nur leben. Als wir Wolfgang Schwind überraschten, da saß er gerade in der Badewanne, und wir klingelten an der Haustür, die gar nicht abgeschlossen war. Der mochte mich noch nie richtig leiden, aber du, mein bester Freund, wolltest da hin. Überraschenderweise stand er plötzlich nackt und nur spärlich mit Badeschaum bedeckt im Fenster neben der Tür, an der wir gerade geklingelt hatten. Das Fenster reichte bis zum Boden. Da war er nun mit seinem Urwaldpenis, gebückt und mit langen Armen und starrte uns verständnislos an, weil wir nach dem ersten erfolglosen Klingeln nicht verschwunden waren, sondern uns lautstark auf den Stufen unterhalten hatten. Aber mir war das nicht peinlich, das war irgendwie Kindheit. Daher kannten wir uns schließlich alle. Nur, dass wir uns jetzt nicht mehr kannten. Von früher eben. Und das schien wirklich lange her zu sein. Und dann saßen wir auf der kaputten Couch in dem heruntergekommenen engen Wohnzimmer und glotzten uns mit einem die Verlegenheit überspielenden Lachen an. Armin kam dann auch noch, und zwar durch die ebenfalls unverschlossene Hintertür, um bei Wolfgang etwas abzuholen, und da saßen wir dann. Er erkannte uns wenigstens, den verqueren Jungen, der bei seinen behinderten Großeltern aufgewachsen war und seinen besten Freund, mit dem keiner spielen wollte, weil er seine Popel fraß und weil seine Eltern im Neubaugebiet ein Haus hatten. Er schien sich zu freuen. Im Gegensatz zu Wolfgang, der sich, mit dem Handtuch um die Hüften, ein Königsbacher aus dem Kühlschrank holen ging. Stefan, der Popelfresser, dessen Idee dieser Besuch gewesen war, stellte mich unsinnigerweise vor, wo wir uns doch alle kennen sollten, da wir die Kindheit miteinander verbracht hatten, dachte ich. Betretenes Schweigen ist die Quintessenz allen Lebens, so wie ich es kenne. Jedenfalls auf Dauer betrachtet. Fragende Gesichter, Hilflosigkeit und stupide Ablehnung. Ich bin in der falschen Straße geboren. Ohne Anleitung, Eltern, Geld oder einen Namen. Ein Schandfleck. Eine Lächerlichkeit.
Stefan lachte. Ich weiß nicht, weshalb. Gepresste Luft aus einer spasmodisierenden Lunge an den Stimmbändern vorbei durch den geöffneten Rachen ausstoßen und dabei alle Zähne zeigen. Wolfgang ging zum Kühlschrank und brachte Armin ein Königsbacher mit. Schweißwasser perlte am Glas auf den fleckigen Nierentisch. Alle schienen auf etwas zu warten, von dem wir wussten, dass es nicht mehr kommen würde. Armin grinste. Ich grinste. Stefan grinste. Wolfgang starrte auf das Etikett auf der Bierflasche. Stefan und ich standen auf. Die Couch rutschte ein Stück nach hinten. Wir gingen die wenigen Schritte zur Tür. Es schien ewig zu dauern. Ich spürte die Blicke im Rücken. Mein Nacken kribbelte. Wir drehten uns um und winkten. Es fielen Worte. Nichtssagend. Die Tür fiel ins Schloss und wir stiegen die wenigen Stufen hinab.
Ich weiß nicht, weshalb wir diese Sache unternommen haben. Alles ist hin. Ich sah Stefan von der Seite an. Ich sah auf seine Nase. Irgendetwas hing da, bildete ich mir ein. Wir würden uns nie mehr wiedersehen. Es scheint nichts zu bedeuten. Ich weiß nicht, weshalb es nichts bedeutet, aber das scheint das schreckliche zu sein. Es ist so. Wir sind neue Menschen. Andere.



© Rainer M. Scholz

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