Reisen im Elfenbeinballon (1) - Bei den Gräbern vergessener Expressionisten

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

In der Dämmerung sind wir noch einmal zurückgekommen,
um die Gräber vergessener Expressionisten mit roter Farbe zu beschmieren,
- wir dachten uns nicht viel dabei -
doch bereits am Friedhofstor versperrte uns eine mächtige Stimme den Weg.

Erst schrien wir ungeordnet gegen sie an, erst war alles hoffnungslos,
bis wir erkannten, dass nur Gesänge sie durchdringen konnten.

Also sangen wir gemeinsam:
   
Die traurigste aller Geschichten,
Die kanntest du damals noch nicht:
Du kannst dich nur physisch vernichten,
Dein Leiden beendest du nicht.


Im Kanon konnten wir bis zur Leichenhalle robben
und weil wir jung und naiv waren,
klemmten wir uns Messer zwischen die Zähne.
Jedes Wort sollte wie in Blut getränkt klingen.
Tief schnitten die Plosive in die Mundwinkel.

_

Erst viel später erheben wir uns
und weil wir die Farbe
nur tröpfchenweise transportieren können,
bilden wir eine Ameisenstraße.
Wir sind so unendlich zu viele.
Es ist Ekel, Ekel in Reih und Glied zu marschieren.
"Hat jemand vielleicht ein Sauerstoffmolekül für mich?",
tönt es aus den hinteren Gräberreihen,
"ich will endlich, endlich wieder selber bluten".

_

In der Ferne hört man bereits die ersten Detonationen.
Mit Kopflampen suchen wir die Gräber der vergessenen Expressionisten,
bis uns die Stimme einholt und einen zweiten Gesang fordert:

"Denn singt ihr nicht", donnert die Stimme,
"so hat es euch niemals gegeben."

Also singen wir erneut,
singen,
bis sich irgendwo
ein Sesam
öffnet.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

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Kommentare zu diesem Text

Absinth (62)
(04.09.16)
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 04.09.16:
Vielen Dank.

LG
AlX
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