Das Familienessen begann damit, dass Onkel Kurt anrief, um zu sagen, er sei knapp bei Kasse. Leider, so erläuterte er, können wir deshalb nicht in das fünf-Sterne Restaurant, sondern müssten uns nach einer preiswerten Alternative umsehen.
Nachdem ich dies telefonisch erfahren hatte, ging ich zu Mutter hinunter.
Sie saß im Salon auf einem der dick gepolsterten Stühle und zog sich, in einen Kosmetikspiegel blickend, die roten Lippen nach.
„Kind“ singsangte sie elitär, „das Botox ist auch nicht mehr das, was es mal war.“
Ich murmelte Zustimmung und fragte im Plauderton, ob denn die Möglichkeit bestünde, dass wir das alljährliche Familienessen ausrichten könnten.
Doch diese Option war für Mutter von Anfang an indiskutabel.
Onkel Kurt wäre dieses Jahr mit dem Essen dran, und so pleite könne er ja wohl nicht sein.
Zur Not, merkte Mutter an, während sie in ihrer Dior Clutch nach Taschentüchern fummelte, würden wir ja auch mit einem Vier-Sterne-Plus Restaurant vorlieb nehmen.
Mir war es egal, weshalb ich mich auf mein Stockwerk verzog, die Golfkleidung anlegte und mich auf den Weg zur hauseigenen Tiefgarage machte.
Dort kletterte Großmutter gerade aus ihrem Range Rover, die neunzig Jahre sah man ihr kaum an, der Guten.
Während ich meine Golftasche eigenhändig in den Kofferraum des Porsche Cayenne lud, kam sie kurz zu mir herüber. Sie erkundigte sich wie immer, ob denn das Geschäft gut lief, was ich freundlich bejahte. Auf ihre Frage, warum neulich so viel Lärm durch die dick verglasten Scheiben des Salons drang, reagierte ich mit gepflegtem Überhören.
Nachdem Vater ein paar Hundert der Angestellten entlassen hatte, war es zu kurzzeitigen Ausschreitungen vor den Toren gekommen.
Aber diese Nichtigkeiten sollten weder Großmutters noch meinen Tag vermiesen.
Nobel geht die Welt zugrunde, flüsterte ich.
Die Kiesauffahrt knirschte unter den Reifen und während ich den Porsche beschleunigte, aus den Bang & Olufsen-Lautsprechern Katy Perry erklang und das Anwesen im Rückspiegel immer kleiner wurde, hatte ich das Familienessen längst wieder vergessen.
Damit gerechnet, dass Onkel Kurt jenes Essen an den Klapptisch einer Metzgerei mit angeschlossenem Bistro verlagerte, hatte ich natürlich nicht.
Mutter gab an jenem entscheidenden Morgen die Adresse, die uns Kurt genannt hatte, in das Navigationssystem der S-Klasse ein.
In der Erwartung, es würde uns zu einem jener High-Class-Restaurants führen, wie sie im Westen der Stadt lagen, begab sich unser Konvoi auf den Weg.
Doch beim Anblick des Bistros in der Fußgängerzone wurde uns schon mehr als mulmig.
Weil uns die Halteverbotsschilder wenig kümmerten, waren wir bis vor gefahren und beratschlagten nun hinter den getönten Scheiben, wie wir auf diese neue Situation reagieren könnten.
Schließlich entschied Vater, dass uns nichts andere übrig bliebe, als hineinzugehen, denn wenn Kurt einlädt, müsse man nicht selbst bezahlen.
Zudem, brachte er als zweiten Grund vor, könne man sich so ein Bild von der Lebenssituation des Volkes machen.
Wie erfrischend das doch wäre gurrte Großmutter vom Rücksitz aus.
So gingen wir hinein, Ich, Vater, Mutter, Großmutter und Großvater.
Onkel Kurt saß bereits an einem der beiden Klapptische, hatte seinen Burberry-Mantel über die Lehne gehängt und begrüßte uns aristokratisch.
Nachdem wir alle ein Gericht am Tresen ausgewählt hatten, saßen wir auf den metallischen Hockern im Kreis und schwiegen vornehm.
Der Metzger bediente normalerweise nicht, aber beim Anblick jener höher gestellten Klasse in seinem Geschäft ließ er sich doch dazu ermutigen, die Teller persönlich zum Tisch zu bringen.
Wir hatten uns alle für ein fremdartiges Gericht entschieden, das aus einer geschnittenen Bockwurst, roter Sauce, Curry und frittierten Kartoffeln bestand.
Nach den ersten Bissen, die wir wohlwollend zur Kenntnis nahmen, ergriff Onkel Kurt das Wort.
Wie wir alle wissen, sei er pleite. Völlig pleite.
Er hätte wohl nicht auf den Anlageberater aus Namibia hören sollen, jetzt könne man aber nichts mehr ändern.
Onkel Kurt: „ich kann doch bestimmt zu Euch ziehen, ja?“
Vater, das Holzstückchen, das als Gabel dienen soll, betrachtend: „unmöglich“
Mutter: „ach, das Botox“
Großmutter: „was? wo ist mein Hörgerät?“
Onkel Kurt: „ihr werdet doch eine der Suiten für mich herrichten können!“
Großvater, hustend, mürrisch: „wie lange geht das denn noch?“
Großmutter: „ruhig jetzt!“
Vater: „ich muss Euch etwas sagen“
Ich kratzte die restliche, rote Sauce, die nach Curry schmeckte, aber köstlich war, auf dem Teller zusammen.
Während ich überlegte, ob ich unbemerkt die Ohrstöpsel meines Iphone einstecken konnte um die Langweile erträglicher zu machen, sah Mutter demonstrativ auf ihre goldene Rolex.
Mutter, snobistisch: „ich habe auch etwas zu sagen“
Vater: „was willst Du denn jetzt?“
Mutter: „die Scheidung“
Großmutter: „Gott sei dank, endlich!“
Ich: „was?“
Onkel Kurt: „wie bitte?“
Vater blickte, als hätte er am Lack seines Aston Martin einen Kratzer entdeckt.
Großvater: „wo bleibt denn der Wein?“
Der Metzger, hinter dem Tresen, hielt mit dem Hackbeil in der Hand inne und beteuerte, dass er eine PET Flasche Rotwein da habe.
Großvater: „na dann hopp, hopp!“
Großmutter: „jetzt gehts aber los! Besäufnis! Am helllichten Tage!“
Vater: „wir waren bei der Scheidung“
Mutter: „wie teilen wir das Vermögen auf?“
Vater: „Du kriegst nichts“
Mutter schrie neben mir künstlich schrill auf.
Während sie weiterdiskutierten, wurde mir klar, dass ich mit den Golfschlägern, die ich im Augenblick besaß, mein Handicap niemals verbessern konnte.
Ich überprüfte in meinem Louis-Vuitton-Organizer, wann Zeit wäre, um neue zu kaufen. Nebenan polterte es und der Inhalt von Mutters Hermes-Tasche ergoss sich über den Tisch.
Vater: „bist Du völlig durchgedreht? Schlägt sie mit der Tasche nach mir!“
Mutter „das hast Du verdient!“
Onkel Kurt: „ja, wenn ihr Euch trennt, dann wird Doch Platz im Haus frei, oder?“
Vater: „Kurt, wir wollen Dich nicht bei uns, versteh es endlich“
Kurt, knurrend: „undankbares Pack! Der Wein! Man bringe mir Wein!“
Großvater: „Zustände sind das hier, wie damals im Krieg…“
Großmutter: „fang ja nicht damit an, ich warne dich!“
Der Metzger brachte fünf Plastikbecher und füllte sie mit Wein.
Mutter: „nein, geben sie mir die ganze Flasche!“
Während sie die PET Flasche an ihren überdimensionierten Lippen ansetzte und sich gluckernd daran machte, den Inhalt zu leeren, erinnerte ich mich an Vaters Worte:
Ich: „Vater, Du wolltest vorhin auch etwas sagen?“
Vater: „Ich? Vorhin?“
Großmutter: „ich habe es auch gehört! Sag es!“
Mutter, die Flasche absetzend, rotes Rinnsal das Kinn entlang, aufstoßend: „umpf!“
Großvater: „sag schon, Du Lusche“
Großmutter: „so! Redest Du über deinen Sohn!“
Großvater: „sind wir nicht bei der neunten Kavallerie?“
Großmutter: „Valerie? Sag bloß Du hast mich betrogen!“
Da haut Vater auf den Tisch. So viel Durchsetzungsvermögen hatte ich ihm nicht zugetraut. Fasziniert blickte ich zu Mutter hinüber, deren weiße Chanel-Bluse rotweinbesprenkelt war.
Vater: „die Firma ist pleite!“
Onkel Kurt: „eure auch?“
Mutter: „meehrrrr Weiinnnnn biddddee!“
Ich fischte nach meinem iPad und nutzte die Zeit, die die anderen mit Debattieren verbrachten, schnell noch zwei Millionen aus der Insolvenzmasse auf mein Offshorekonto zu transferieren.
Parallel checkte ich das Wetter auf dem Cayman Islands und gab per WhatsApp der Sekretärin im Büro durch, ein Ticket für den nächsten Flug zu buchen.
Großvater: „alle pleite oder was?“ er leerte seinen PET-Wein-Plastikbecher in einem Zug.
Der Metzger rief hinter der Theke, dass wir spülen müssten, wenn wir nicht zahlen könnten.
Vater: „das wars dann wohl“
Onkel Kurt: „depressiv?“
Ich: „oh, ich glaube mein Taxi kommt!“
Großmutter: „ich werd euch doch alle überleben!“
Großvater: „lieber Rotwein als tot sein, hicks!“