Der große Knall

Satire

von  Reliwette

„Wer schief liegt spottet jeder Beschreibung“


Weihnachten war vorbei, eine Dekorationsbeleuchtung nach der anderen verschwand aus dem Städtebild. In den Hafen war Ruhe eingekehrt. Auf Bitten des Smutje hatte Hornblewer ein riesiges  Notstromaggregat heranschaffen lassen, denn die Kochstelle in der Kombüse war ohne Feuerungsmaterial: der abgefaulte Besanmast war längst in handlichen Stücken durch den Schornstein verraucht. Kaltes Essen mochten die lieben Piraten aber nicht. Duch Einnahmen aus Schiffsführungen war genügend Betriebskapital vorhanden, um sich die neue Technik dienstbar zu machen.  Leider verbrauchte das Notstromaggregat  eine Menge „Futter“, welches die Piraten an der Tankstelle beschaffen und in Kanistern zum Schiff schleppen mussten. Seeleute sind aufgrund ihres „Watschelganges“ schlecht zu Fuß. Aber was tut ein Seeräuber nicht alles für ein warmes Mittagessen?
Der Kapitän der Cara Mia, Hornblewer, hatte seine Mannschaft überdies neu einkleiden lassen, so dass sie in der Öffentlichkeit nicht mehr so auffielen. Tätowiert waren inzwischen auch die Zivilisten der Stadt Leer. Sie fielen mehr auf als die lieben Piraten, denn inzwischen wurden die Tattoos auch farblich gestaltet. Das Zeitalter der Hauttätowierungen war angebrochen! Es gab einmal ein Zeitalter der Aufklärung in Europa, weshalb nicht auch ein Zeitalter der Hauttätowierung?  Hornblewer hatte seiner Mannschaft befohlen, die übergroßen Ohrringe aus Ohren und Nasen zu entfernen. Er befürchtete, dass die Leeraner Bevölkerung dem Gesetz der Nachahmung folgend  eine geistige Stampede auslösen könnte und er selbst als Verursacher an den Pranger käme.

Wenige Tage nach Weihnachten hörte die Besatzung der Cara Mia vereinzelte Schüsse aus dem Stadtgebiet. Mal waren sie weiter entfernt, mal näher. Deshalb berief Hornblewer eine Mannschaftssitzung ein. Sie fand wie immer im Speiseraum unter Deck statt.  Amos, das Piratenschaf, hatte Sonderurlaub erhalten und befand sich nicht unter den Piraten. Amos war über Weihnachten zu Opa Hermann aufs Land gezogen. Außerdem wollte es  seine geliebte Linda besuchen, die es auf einem der angrenzenden Weideflächen vermutete.

Hornblewer hatte nur einen einzigen Tagesordnungspunkt zur Beratung vorgegeben, und der bezog sich auf die „Schießerei“ in der Umgebung des Hafengeländes. Er hatte bereits zwei Piraten als Späher ausgeschickt, um Einzelheiten eines vermutetetn Aufstandes oder eines Kriegsgeplänkels in Erfahrung zu bringen. Doch die Kundschafter kehrten ohne greifbare Ergebnisse zurück an Bord.
„Es knallt mal hier – mal dort“, hatten sie berichtet, „es ist derzeit kein Zentrum als Ursache  eines Krieges oder einer Revolte auszumachen.“
„Wir verhalten uns ruhig und abwartend“, mahnte Käpten Hornblewer. Soweit wir nicht direkt angegriffen werden, betrachten wir uns als auf neutralem Boden. Allerdings wollen wir Vorbereitungen für den Fall eines Angriffs treffen. Das bedeutet, dass jeder von euch den Zustand seiner Waffen überprüft und vorsorglich seine Schusswaffen lädt. Wer kein Schießpulver mehr vorrätig hat, beschafft sich  Pulver für 20 Ladungen beim  Ersten Kanonier, Säbel und Entermesser werden geschärft. Ich nehme heute Abend einen Waffenappell ab, sagen wir um 7 Glasen, aber dass mir keiner besoffen erscheint, klar?“ Mit diesen Worten schloss er die Sitzung.

Je näher der Jahreswechsel kam, desto heftiger waren Detonationen hörbar.  Sie schienen vermehrt aus südlicher Richtung zu kommen, aber im Grunde knallte es mal hier mal dort, mal lauter mal leiser. Das ging so weiter bis zum 31. Dezember. Die lieben Piraten hatten sich in der Mensa eingefunden und spielten Mau Mau. Ein Pirat hatte eine Fidel hervor geholt und spielte
ein Tanzlied zum Gaudi der anderen. Es lautete „15 Mann auf des toten Mannes Kiste, Jo ho ho  und ne Buddel voll Rum“. Bis auf die Mau Mau Spieler hüpften sie auf den Holzplanken herum – mit und ohne Holzbein oder Glasauge. Doch jäh begann ringsumher eine fürchterliche Knallerei, ein Jaulen, Pfeifen und Zischen. Hornblewer kam in die Mensa gestürzt und schrie
wirre Befehle in den Raum: „Alle Mann in die Wanten, setzt Segel, hievt Anker, dreht das Schiff
steuerbord von der Mole, Luken auf! Kanonen laden, Lunten bereit!

„Soll ich auch in die Wanten, Käpten“, schrie Ibrahim, der erste Kanonier, „oder soll ich das Schiff klarmachen zum Gefecht?“
„ Du doch nicht in die Wanten!“ regte sich Hornblewer auf, “jeder auf seinen Platz!“
O je, war das ein Durcheinander.
Mittlerweile glühte der Nachthimmel von Raketenexplosionen, Kanonenschlägen und Leuchtmitteln. Dichte Rauchschwaden standen über der Stadt.
Und dann geschah es: eine Rakete war in das Vorschiff „eingeschlagen“ und zerbarst mit lautem Knall, rote, grüne und gelbe Explosionsherde auslösend. Das war für Hornblewer zu viel.
Er schrie seinen  ersten Kanonier an:“ Bllödmann, worauf wartest du noch? Feueeeeeer!“

Ibrahim hielt die Lunte in der Hand. Sie zitterte. Er hatte die Kanonen gut geladen mit viel Pulver, dass er selbst gemischt hatte und mit viel Vogelkacke angereichert, die er selber gesammelt hatte.
Im Volksmund nennt man das „Chile-Salpeter.“ Er hielt die Lunte in das Zünddloch. Die Kanone wurde vom Rückschlag quer über das Schiff geschleudert. Sie entlud sich mit einem fürchterlichen Knall. Vorne erschien eine seiner blankgeputzten 8 Pfünder-Kugeln, gefolgt von einem riesigen Feuerschweif. Wo die Kugel einschlug erfuhren weder  Ibrahim noch Hornblewer. Auch keiner sonst von den lieben Piraten. Die Cara Mia, die gerade noch am Pier des Leeraner Hafenbeckens geankert hatte, war von einer Sekunde zur anderen von der Bildfläche verschwunden. Kein Teeverkauf, keine Liegegebühren, kein Amos, keine Cara Mia –
Alles futsch wie ein surrealer Traum.
Die Leeraner Bevölkerung erfuhr davon nichts. Das getroffene Sparkassengebäude wurde einfach durch eine Neu-Erweiterung ersetzt. Die verantwortlichen Bauherren hätten niemals aus anderen Gründen in diesen Zeiten einen Neubau in Auftrag gegeben!

Was war geschehen? Die  Ladung  Schwarzpulver, die der 1. Kanonier Ibrahim gemischt und wieder einmal mit zu viel Vogelkacke angereichert hatte, war die Ursache für eine Raum/Zeitverschiebung, welche die Cara Mia samt Besatzung an einen anderen Ort und in eine  andere Zeit geschleudert hatte. Unter Wissenschaftlern wird von einem Zeit-Raum-Kontinuum gesprochen. Nun, die lieben Piraten hatten dies nicht das erste Mal erlebt. Wie sollten sie sonst aus dem 18. Jahrhundert in die heutige Zeit und ausgerechnet in die Nordsee gelangt sein?

Der dicke Tenbrat wurde als erster wach. Sein  voluminöser Körper hatte das Raum/Zeitkontinuum am besten vertragen. Er fand sich auf dem Fußboden seiner Kombüse liegend wieder. Er schüttelte seinen  mächtigen Kopf auf seinem mächtigen Hals. Dann versuchte er das Geschehen der Reihe nach in sein Gedächtnis zu rufen. Er befreite sich von Töpfen und Geschirr, und rappelte sich auf. Was hatte der Käpten noch befohlen? „Jeder bleibt an seinem Platz!“
Fluchend mühte sich der beleibte Koch auf  und untersuchte zunächst das Unterdeck, dann auch das Oberdeck. Überall lagen seine besinnungslosen Kumpane herum. Gerade rappelte sich Hornblewer, der Piratenkapitän, hoch. Er stierte wie ein blödes Kalb vor sich hin und brabbelte undefinierbare Laute vor sich hin.
„Aye, Käpten“, krächzte Tenbrat, “melde mich zum Dienst! Soll ich Spiegeleier zubereiten?“
„Gack, gack“, sagte Hornblewer. In  seinen Schädel  kehrten langsam die Lebensgeister zurück. Er begann zu fluchen: “Hol mir einer die Großmutter aus dem Sack, welch eine Explosion! Wo  sind der Schiffsingenieur und der Rudergänger, ich muss die Position bestimmen?“

Der Nebel hatte sich verzogen! Das ¾ Vollschiff, die „Cara Mia“, dümpelte voll aufgetakelt einsam inmitten einer  windstillen Wasserwüste.

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