Teil 35

Roman

von  AnastasiaCeléste

Am nächsten Morgen war Ave schon früh auf den Beinen. Er wollte zu den Lagerhallen, die am Vortag in die Luft gegangen waren. Nach einer kurzen kalten Dusche war er hellwach. Außer ihm regte sich noch nichts in der Wohnung. Während in der Küche der Kaffee vor sich hin kochte und seinen verführerischen Duft verströmte, kontrollierte Ave seine Waffen. Noch einmal ging er zurück in sein Zimmer, um zusätzliche Magazine  und einen Rucksack zu holen. Er hoffte, dass doch noch etwas zu retten war in den Überresten des Lagers. Seine Munition neigte sich langsam dem Ende entgegen und unter den gegebenen Umständen, wollte er nur ungern ungewöhnlich große Mengen aus dem Innocent holen.
Ave wollte für alles vorbereitet sein. Wer weiß wie lange er noch dort ein und ausgehen würde. Es konnte nie schaden, wenn man in diesen Tagen einen gesunden Vorrat an Waffen und Munition hatte.
Während er sich eine Tasse Kaffee eingoss, tappte Cat in die Küche. „Guten Morgen!“, grüßte sie, noch recht verschlafen.
„Guten Morgen“, erwiderte er. „Kaffee?“ Cat nickte, während sie sich an den Tisch setzte und seine Waffen ehrfürchtig beäugte.
Ave stellt ihr eine Tasse des duftenden Muntermachers hin und setzte sich ihr gegenüber.
Als sie den ersten vorsichtigen Schluck nahm, beobachtete Ave sie dabei.
„Alles gut? Du bist gestern so schnell verschwunden“, hakte er nach.
Cat stellte die Tasse ab und legte ihre Hände darum, als würde sie ihr wie ein Anker Halt geben.
Sie schaute auf die Tasse und schüttelte leicht den Kopf. „Erinnerungen“, sagte sie kurz und knapp. „Unser Gespräch gestern hat mich irgendwie aufgewühlt. Meine Nacht war nicht sonderlich toll. Ein Aus Schalter für den Kopf wäre manchmal nicht schlecht.“
Ave nickte zustimmend. „Ja so einer wäre ziemlich praktisch.“ Er nahm noch einen Schluck Kaffee.
„Ich kann dir nicht sagen, was passieren wird, Cat. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du für Corvin kein Thema mehr bist. Er geht mit Sicherheit davon aus, dass du ordnungsgemäß entsorgt wurdest. Er macht keine halbem Sachen. Wenn er es selbst nicht endgültig zu Ende bringt, wissen seine Leute was sie zu tun haben. Dass du jetzt hier sitzt, verdanken wir vermutlich der Nachlässigkeit seiner Lakaien. Er sucht nicht nach dir.“
Cat klammerte sich noch mehr an ihrer Tasse fest. „Aber wenn mich die falschen Leute entdecken, wird er schnell davon Wind bekommen. Und genau davor habe ich Angst.“
„Ich weiß“, antwortete Ave sanft. „Aber wir können dich, uns, nicht ewig verstecken. Es wird sich in absehbarer Zukunft etwas ändern. Das muss einfach sein. Der Prozess hat schon begonnen. Wir können nur unser Bestes versuchen, glimpflich davon zu kommen.“
Cat sagte nichts dazu und nahm noch ein paar kleine Schlucke Kaffee. Ave stand auf. Er stellte seine mittlerweile leere Tasse auf die Anrichte, bevor er zu seinen Waffen griff, um sie in seinem Holster zu verstauen.
„Ich muss los! Ich will mir das Lager ansehen“, informierte er seine Mitbewohnerin und ließ sie allein in der Küche zurück.
Während er in seinem Wagen Richtung Norden fuhr, dachte er über das Gespräch mit Cat nach. Die junge Frau war ihm noch immer ein Rätsel. Die Umstände über die sie sich kennengelernt hatten, kamen ihm noch immer seltsam vor. Sie wussten so wenig über sie. Vielleicht würde Sie eines Tages mehr preisgeben.
Auf seiner Fahrt erwischte er sich dabei, fast  in jede Seitenstraße zu schauen. Insgeheim hoffte er, dort jemanden zu entdecken, der eindeutig auf ihn wartet.
Nirgends fand er etwas auffälliges, dass sein Interesse weckte. Nur wenig später hielt er an der gleichen Stelle, an der er gestern stand, um das Feuerspektakel zu beobachten. Hier war ihm in der Nebenstraße dieser Mann aufgefallen, der ihn überraschend aus der Entfernung grüßte, bevor er verschwand. 
Bevor sich Ave mit dem Lager beschäftigte, wollte er dieser Begegnung auf den Grund gehen.
Er checkte kurz seine Umgebung, prüfte die Fenster, der offensichtlich leerstehenden Häuser und achtete auf jede Bewegung. Einige Fensterscheiben waren kaputt. Hinter ihnen wehte hier und da eine Gardine im leichten Wind. Entschlossen stieg er aus dem Wagen und näherte sich dem Gebäude, in dem der Mann verschwunden war. Bevor er die Tür erreichte, zog er seine Beretta, auf jede Überraschung vorbereitet.
Die Eingangstür war nur angelehnt. Als er sie mit einer Hand aufdrückte, gab sie mit einem Knarren den Blick auf ein dunkles Treppenhaus frei. Auf dem Boden lagen alte Konservendosen und Zeitungen. Er stieg ein paar Stufen hinauf und hielt inne. Er wartete auf ein verräterisches Rascheln, Schritte, irgendein Zeichen auf Leben in diesem Haus. Doch da war nichts. Er stieg die Treppe wieder hinab und folgte dem Hausflur, der hinter der Treppe einen Knick nach Links machte. Nachdem er abgebogen war, sah er, dass der Flur mit einer Tür endete. Womöglich der Zugang zu einem Keller. Ave ging vorsichtig weiter.
Bevor er die Türklinge herunterdrückte, lauschte er nochmal seiner Umgebung.
Die Tür schwang leicht auf und Ave machte einen Schritt mit vorgehaltener Waffe hinein. Er stand auf einem Treppenabsatz, der hinunter in einen, den Treppenstufen zu urteilen, nicht sehr hohen Kellerraum führte. Ave fand keinen Lichtschalter. Das einzige Licht, das zur Verfügung stand, drang durch die  geöffnete Tür. Ave warf einen Blick zurück in den Flur, bevor er hinunterstieg.
Seine Augen benötigten eine Weile, bis sie sich an die dunkle Umgebung gewöhnt hatten. Der Raum war vollkommen leer. Eine Sache jedoch weckte Aves Aufmerksamkeit.
Im Boden war eine Lucke angebracht. Eine schwere Eisenplatte mit einem Griff versperrte den Weg zu etwas m Boden. Er unternahm einen Versuch sie zu heben, doch er scheiterte. Sie musste von der anderen Seite verriegelt sein.
Ave überlegte nicht lange. War das die fehlende Verbindung zwischen dem plötzlichen Auftauchen und Verschwinden dieser Leute? Was verbarg sich dort im Boden? Der Zugang zu einem größeren Tunnelsystem? 
Ist dies vielleicht auch die Lösung für die zerstörten Lagerhallen? Er hatte der Kanalisation nie große Aufmerksamkeit geschenkt. Aber jetzt hatte er endlich einen Anhaltspunkt. Der Gedanke war so simpel wie genial. Ave hatte genug gesehen in diesem Haus.
Er ging zurück zum Wagen und fuhr die letzten paar Meter bis zur noch intakten Umzäunung des Lagergeländes, wo er direkt von ein paar Kollegen durchgewunken wurde.
Er stellte den Impala in sicherer Entfernung ab und winkte den nächstbesten Kollegen heran.
„Wie sieht es aus?“, wollte Ave wissen.
„Das Feuer konnte über Nacht vollständig gelöscht werden. Die kleine Halle am Ende ist weitestgehend intakt. Der Rest ist zerstört worden“, berichtete der junge Wachmann. „Wie hoch ist der personelle Verlust?“ „Zu der Zeit waren neun Leute auf dem Gelände. Drei wurden verletzt, teils schwer. Sie sind im Krankenhaus. Von den sechs übrigens, konnten wir zwei Leichen bergen. Die anderen haben wir noch nicht gefunden.“ „Irgendwelche Spuren?“ wollte Ave wissen. Der Jüngere schüttelte beschämt den Kopf. Ave nickte. „Ich werde mir mal anschauen, ob noch etwas zu retten ist und ob ich etwas Verdächtiges finden kann“, erklärte er und näherte sich dann langsam den Trümmern. Die Überreste der Hallen waren schwarz vom Feuer. Die einzelnen Wandfragmente, die noch übrig waren, erinnerten Ave an die Kriegsgebiete, durch die er zu Armeezeiten gelaufen ist. In der Luft hing ein schwerer Rußgeruch, der ihn im Hals kratzte. Auf dem Boden hatten sich teilweise große schwarze Lachen aus Löschwasser und Asche gebildet. Während Ave vorsichtig einen Fuß vor den Anderen setzte, spürte er an einigen Stellen noch die Restwärme des Feuers, die aus den verkohlten Trümmern aufstieg. Er hatte mehrere Detonationen vernommen. Er konnte sich nicht einmal erklären, wie man es überhaupt schaffen konnte, einen Sprengsatz auf dem Gelände zu installieren, geschweige denn gleich Mehrere.
Ave dachte wieder über seine Theorie nach. Auf dem Gelände gab es mehrere Zugänge zur Kanalisation, die aber seines Wissens nach alle versiegelt waren. Im jetzigen Zustand bestand für ihn keine Chance alle Gullideckel zu kontrollieren, da die meisten verschüttet waren.
Damit würde er sich also später befassen müssen. Während er sich seinen Weg durch diese Verwüstung bahnte, versuchte er sich ein Bild davon zu machen, was wo gelagert war. Dort wo er das Ende der ersten Halle vermutete, fand er nach und nach immer mehr Waffen aus Corvins Arsenal. Kleinkaliber und große automatische Waffen lagen wild verstreut und größtenteils stark demoliert zwischen Aschebergen und Metallkonstruktionen. Ein paar Meter von ihm entfernt entdeckte Ave einen zerbeulten Metallschrank, in dem diverse Munition gelagert wurde. Äußerlich war der Schrank ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Die Wucht der Detonationen hatte ihn scheinbar einige Meter von seinem eigentlichen Standort weg katapultiert. Aber es machte den Anschein als, wenn er vom Feuer verschont geblieben wäre. Die Chance intakte Munition in ihm zu finden, war also recht groß.
Ave griff zu einer krummen Eisenstange und machte sich daran den Schrank aufzuhebeln, was ihm recht schnell gelang.
Zwar durcheinandergeschmissen, aber völlig unversehrt fand er Unmengen an Munitionspakete und Magazine. Mit geübtem Blick fand er schnell wonach er suchte. Er füllte alles, was er brauchte in den schwarzen Rucksack und seine Jackeninnentaschen. Nachdem er den Schrank wieder geschlossen hatte, setzte er seinen Gang fort.
Der Übergang zur zweiten Halle war kaum noch zu erkennen. Nackte Stahlträger ragten wie knorrige Bäume aus dem Boden empor. Reste des Daches hingen gefährlich herunter und drohten jederzeit abzustürzen.
Dort wo es durch die Explosionen bereits eingestürzt war, war nicht mehr viel von dem, was einst hier gelagert wurde, zu erkennen. Hier und da sah er die ausgebrannten Wracks einiger großer Transportfahrzeuge. Auch kleinere Fahrzeuge für Corvins Truppen waren hier nicht zu knapp stationiert gewesen. Der Verlust war immens. 
Ave stieg auf einen der Schutthügel und verschaffte sich so einen kleinen Überblick über das Chaos.
Hier noch etwas Brauchbares zu finden, glich der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er hielt Ausschau nach dem großen Tresor, in dem Corvin seinen Bargeldvorrat für größere Geschäfte hortete. Es war nichts zu sehen. Er musste irgendwo unter dem Schutt verborgen liegen.
Zwar war auch das Innocent bestens mit Waffen, Drogen und Fahrzeugen ausgestattet, aber das zerstörte Lager machte schon einen enormen Anteil seiner wirtschaftlich wichtigen Besitztümer aus.
Vorsichtig kletterte er wieder hinunter und setzte seinen Weg fort.  Der Geruch nach verbranntem Allerlei kratzte ihn so stark im Hals, dass er ein paar Mal husten musste. Während er noch mit seiner Atmung kämpfte, fiel ihm plötzlich ein angesengter Schuh auf. Als Ave sich ihm näherte, wurde ihm klar, dass es nicht nur ein verlassener Schuh war. Er erkannte ein regloses Bein, welches unter einer Lawine aus Metallgestängen und einem Teil der Dachkonstruktion hervorschaute. Die Kleidung und die darunter liegende Haut war stark verbrannt und miteinander verschmolzen. An dieser Stelle schien das Feuer nicht so stark gewütet zu haben. Sonst wäre von seinem Fund weitaus weniger übriggeblieben.
Ave Pfiff einmal laut durch die Finger, um die Wachen auf sich aufmerksam zu machen.
Es dauerte eine Weile, bis sich sie sich zu ihm vorgekämpft hatten.
Ave zeigte auf das Körperteil und gab eine knappe Anweisung: „Holt ihn da irgendwie raus und seht zu, dass die Aufräumarbeiten schnellstmöglich beginnen.“ Er ließ die Wachen mit ihrer Aufgabe allein, da er vorerst mit seiner Besichtigung fertig war. Zurück am Wagen sah er sich noch einmal um. Das Ausmaß dieser Zerstörung hinterließ eine merkwürdige Stimmung bei ihm. Hohe gesicherte Zäune, Überwachungskameras, Wachen rund um die Uhr. All das konnte niemand umgehen, der sich irgendwo in der Kanalisation herumtrieb und aus Gullis herauskletterte.
Ave musste sich eingestehen, dass er Ahnungslos war. Vielleicht war die Verbindung, die er zwischen dem Anschlag und seinen Beobachtern sah, die völlig falsche Richtung.
Ave stieg in den Wagen und verließ das Gelände. Er brauchte Antworten. Antworten und  Erklärungen. Es hämmerte wie ein Mantra in seinem Kopf. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, bis Corvin ungeduldig wurde.
Während er ziellos durch die Stadt fuhr, dachte er an die Möglichkeit, dass sich unter den Wachen jemand befunden haben könnte, der genau wie er selbst ein falsches Spiel getrieben hatte. Hat sich jemand in Corvins Mannschaft eingeschleust, um so den Anschlag durchzuplanen? Er musste die Datenbank im Innocent überprüfen, Personaldaten auf Neuzugänge kontrollieren, die Überlebenden befragen. Ein Haufen Arbeit.

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