Nacht

Kurzgeschichte zum Thema Beobachtungen

von  StillerHeld

Es ist Nacht. Im großen Haus ist’s finster. Fast. In einem Zimmer brennt noch Licht.

Kati arbeitet gern bis spät. Wenn es finster wird und andere Menschen schon zu ihren Lieben zurückgekehrt sind, sitzt sie noch vor ihrem Bildschirm und widmet sich der Arbeit der nächsten Woche. Dabei muss sie nicht zu viel über sich nachdenken. Daheim wartet nur Routine. Vielleicht ein Freund, Fernsehen, stilles Verlangen nach einem anderen Leben.

Kati sieht nicht perfekt aus. Sie ist eher klein und kämpft mit Taille und unreiner Haut. Aber sie hat schöne tiefgründige Augen und ein liebes Lächeln. Kati ist eine unauffällige, sympathische junge Frau. Ihre Nervosität könnte man leicht übersehen. Wie auch die Andeutung von stiller Trauer an ihren Mundwinkeln. Wenn sie dünne Bluse mit kurzem Rock kombiniert, möchte man ihre Blöße bedecken. Sie wirkt dann richtig unanständig. Und gleichzeitig so verletzlich.

Für die andern Kollegen hat sie eine dünne Fassade jovialer Höflichkeit aufgebaut. Im kleinen Kreis kann sie manchmal sogar lachen. Im Grunde genommen ist Kati aber stets nervös, voller Anspannung. Sie weiß nicht, warum. Nur wenn Kati arbeitet, kann sie ihre Anspannung in Konzentration umwandeln. Das tut gut, lenkt ab.

Es dämmert, es wird dunkel. Der Schreibtisch verwandelt sich in eine Lichtinsel inmitten eines feindlichen Universums. Wie ein wärmendes Lagerfeuer, an das sich die wilden Tiere nicht herantrauen. Manchmal aber kippt diese Behaglichkeit. Da rücken die Wände näher, ungeladene Gäste kriechen aus den finstern Ecken und drohen sich auf sie zu stürzen. Plötzlich steht sie hilflos ihren Ängsten gegenüber, die sie im Büro nicht erträgt und schon gar nicht nach Hause einladen will. Sie ringt nach Luft. Kommt kurz zur Besinnung. Macht sich Tee. Der soll beruhigen. Mit zittrigen Händen klammert sie sich an die heiße Tasse, die ihr ein Stück Sicherheit zurückgibt.

Es wird unanständig spät. Was macht Kati noch im Büro? Das Leben wartet draußen auf sie. Doch sie hat den Eindruck, dass es ihr entgleitet, drinnen wie draußen. Kati macht finster im Büro und geht. Sie kennt den Weg nach Hause. Den Weg zu sich selbst kennt sie nicht.

Im großen Haus ist’s nun ganz finster. Kati verschwindet im Dunkeln.

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Kommentare zu diesem Text

Festil (59)
(29.01.17)
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 StillerHeld meinte dazu am 30.01.17:
Hallo Festil! Ich habe diesen Text zwei- oder dreimal geringfügig überarbeitet. Der letzte Satz war schon in der ersten Version enthalten. Danke für deine positive Rückmeldung! LG StillerHeld

 drmdswrt (02.02.17)
Interessanter Schreibstil hier. Er zieht in Katis Inneres. Hat mich mehrfach lesen lassen. Gelungen!

 StillerHeld antwortete darauf am 05.02.17:
Danke!
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