Die unerklärlichen Gewaltphantasien des Individuums P. (1)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

„Ich mache heute eine Ausnahme“, sagt der Schaffner P. und öffnet seine Uniformjacke, „heute schreibe ich keinen Namen mehr auf. Stattdessen werde ich Ihnen etwas zeigen. Ob Sie es glauben oder nicht: ich werde mir vor Ihren Augen das Herz aus der Brust schneiden.“

Er streift die Jacke ab und beginnt sein Hemd aufzuknöpfen, routiniert und präzise gleiten die Finger über den Saum, niemand sagt etwas, bis sein Oberkörper gänzlich frei liegt, es bleibt still, nicht einmal die Kinder lachen.

„Aufgrund einer Fehlbildung meines Brustkorbs fehlen mir zwei Rippen, hier, genau über dem Herzen“, erklärt der Schaffner P. den Fahrgästen. „Wenn ich mit dem Finger hier entlangfahre“, er streicht sich mit dem Finger über die Brust, „kann ich es fühlen, fast umfassen, wenn ich wollte vielleicht sogar quetschen. Schon als kleines Kind habe ich mich gefragt, wie es wohl aussieht, mein kleines Herz, das da so unablässig pocht. Oft schon habe ich es in der Hand gehalten.“

Er greift in die Tasche der Uniformhose und zieht ein Skalpell hervor, das er – fast ein wenig wie ein Zauberer auf der Bühne – seinem Publikum präsentiert. „Das wird ein Kunststück“, sagt er, „wie Sie es nur ein einziges Mal erleben werden.“

Vorsichtig setzt er das Messer an, „es tut gar nicht weh“, sagt er beruhigend in Richtung der Kinder und dann zu den Erwachsenen: „ich habe mir ein Betäubungsmittel in den Muskel gespritzt.“ Er beginnt zu schneiden und umkreist mit ruhiger Hand den Brustmuskel mit dem Skalpell, Blut umspült den Schnitt, so als würde er ihn auf die Haut malen, tiefer und tiefer schneidet er, dann löst sich mit einem Mal ein großes Stück Fleisch aus der ursprünglichen Form, gleitet einfach hinab und macht den Blick frei in den Brustkorb, wo man nun tatsächlich das Herz sieht, wie es schlägt und pumpt, ruhig und gleichmäßig, fast beruhigend, wenn da nicht all das rote Fleisch wäre und die tiefe, offene Wunde. „Das muss doch wehtun“, sagt eine Frau, die bis zu diesem Moment aus dem Fenster geschaut hat.

Er hält für einen Moment inne, betrachtet sein Publikum und seine blutigen Hände, ohne Reue, ohne Zögern, lediglich aus Interesse und dann schneidet er, schneidet durch Venen und Arterien und das Blut spritzt an die Wand, über das Gepäck und in die Gesichter der staunenden Fahrgäste, dann – endlich – hält er es in der Hand, dieses kümmerliche Etwas, das nun nicht mehr schlägt und nun ein für alle Male kaputt ist. Nur ein Stück Fleisch. Nur ein Muskel. Dann fällt alles in sich zusammen.

„Ich kann da keine Ausnahme machen“, sagt P. zu dem brüskierten Fahrgast und knöpft – obwohl es in dem Abteil sehr heiß ist – die Uniformjacke nicht auf. Die Finger schweben regungslos über dem Saum. Der Fahrgast hat sich von seinem Platz erhoben und steht ihm mit gebücktem Hals unter der schrägen Zugdecke gegenüber, weiß nicht, wie hilflos er ihm eigentlich ausgeliefert ist. Mit der bloßen Hand könnte er ihn am Kopf fassen und diesen Schädel dann an der spitzen Kante des Tischmülleimers zertrümmern, aber er darf keine anderen Menschen verletzen, nie wieder, „jeder möchte eine Ausnahme“, sagt P. mit einem Lächeln, das nicht provozierend gemeint ist, „es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen da nicht entgegenkommen kann.“
Erst jetzt blickt er dem Fahrgast in die Augen. Es ist Mittwoch.
Es ist viel zu warm in dieser Uniform.
Es ist ein Julitag.
„Du kümmerliches Etwas“, ruft irgendwo irgendjemand, „du Hure des Kapitalismus!“
„Ich müsste mir Ihre Personalien notieren, Sie bekommen dann Post von uns.“
Er zieht einen Kugelschreiber aus der Uniformhose.
„Du kümmerliches Etwas“, wieder, von irgendwoher.
Er darf einfach nicht hinhören.
„Hier, hier müssen Sie unterschreiben.“
„Wenn Sie sich beschweren möchten, empfehle ich Ihnen unsere Beschwerdehotline, die Sie werktags von 9:00 bis 18:00 Uhr erreichen. Dort wird man Ihnen bestimmt weiterhelfen können.“
Er gleicht die Daten mit dem Personalausweis des Mannes ab.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, sagt P.
„trotzdem“, sagt er.
Dann verlässt er das Abteil, steht im Gang und öffnet eines der Fenster. Viel zu heiß ist es in der engen Uniformjacke. Er blickt hinaus. Überall brennen Scheiterhaufen und das Fleisch steigt in dicken, beißenden Qualm in den Himmel. Der Gestank ist unerträglich. An den Bahnübergängen haben sie Menschen aus Pfähle gespießt. Alles verwest dort draußen. Alles ist schon lange tot. Er schüttelt den Kopf. Das ist nicht real, denkt er sich, schließt das Fenster. Dann geht er weiter in das nächste Abteil.

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