Finsterland (Teil I)

Roman

von  autoralexanderschwarz

Finsterland (2011)
Alexander Schwarz
Version 1.3 (I-V)



Figuren

Das Dorf

Lara
Pfarrer Anselm
Haushälterin Hedwig
Frau Neumann
Lupus - Reinrassiger Schäferhund
Dorfdoktor
SS-Offizier
Rottenführer
Dorfpolizist
Schüler
Busfahrer I
Pimpf
Dorfschullehrer Kunze
brutaler Mann (Josephs Vater)
fragile Frau (Josephs Mutter)
Joseph
Der Fleischer


Finsterland

Aufseher:
Aufseher Hans
die dicke Lore
die hagere Wärterin
Gestapomann Emil
Gestapomann II
Busfahrer II
Dr. Petersen
Der Heizer
Bomberpilot












Pfarrer Anselm, Haushälterin Hedwig

„Es ist ein Unding, dass sich niemand mehr um dieses arme kleine Mädchen kümmert“, sagte die Haushälterin zum Pfarrer, der gedankenverloren einen Rest Messwein in seinem Glas schwenkte,
„wo ist das Erbarmen, das du jeden Sonntag von der Kanzel hinunter predigst?“
„Hedwig“, sagte der Pfarrer ermahnend in eben jenem Tonfall, in dem er auch sonst seine Schäfchen ermahnte, wenn sie die zugewiesenen Weidegründe verließen, „Hedwig“, und obwohl Hedwig in solchen Momenten sonst immer beschämt den Kopf senkte und einlenkte, war es ihr diesmal ernst. „Es ist einfach ungerecht“, rief sie und scharrte mit dem Fuß, was sie nur in Momenten größter Unruhe und Aufgewühltheit tat, so wie damals, als das Haus des alten Dorflehrers in Flammen aufgegangen war. „Jeder hat sie geliebt und ich bin mir sicher, dass tief in ihrem Herzen die Menschen unseres Dorfes Lara noch immer lieben. Doch mit der Liebe ist das so eine Sache. Jeder hatte sie gern, immer hatte sie ein Lächeln auf ihren Lippen.“
„Hedwig, sie ist stumpfsinnig“, sagte der Pfarrer. „Ihr Gesicht lacht, doch ich bin mir sicher, dass ihre Seele jeden Tag geweint hat.“
„Ach Quatsch“, rief die Haushälterin und für einen Moment wirkte sie unsicher, so durfte sie nicht mit dem Pfarrer reden, die falschen Worte. „Ich meine doch nur… ich meine“, doch sie durfte jetzt nicht die Oberhand verlieren, „alle Kinder haben immer so gerne mit ihr gespielt, niemand kann in ihren Kopf schauen, aber diese Fantasie, diese Fantasie, wusstest du, wie schön sie singen kann, wie lieblich ihre Stimme ist. Man schließt die Augen und man schwebt auf ihrer Stimme, alles verschwindet, nur noch Schönheit, Schwerelosigkeit, man gleitet hinüber in eine andere Zeit und wenn man dann die Augen wieder öffnet, dieses kleine, hilflose Geschöpf mit seinen glänzenden Augen vor der Welt sieht, dann muss man sie lieben und wir alle lieben sie, sonst hätten wir uns doch wohl die letzten Jahre nicht um sie gekümmert, ein Stück Brot dort, eine liebevolle Handbewegung und sie hat es uns tausendfach vergolten.“
„Hedwig.“ Die Stimme des Pfarrers war lauter geworden, unwilliger, so wie eine Autorität sprach, wenn ihr die bekannten Fakten ungenau und unvollständig vorgetragen wurden.
Doch Hedwig war in diesem Moment nicht zu bremsen. Jegliche Hochachtung vor diesem alten Mann, den sie schon geliebt hatte, als sie noch zur Schule ging, den sie hatte heiraten wollen, dessen gottesfürchtige Haushälterin sie geworden war, jene Hochachtung schwand, denn es ging um die gerechte Sache, es ging um eine wichtige Sache, die sooft gedacht, aber niemals ausgesprochen worden war.
„Jeder hat sie geliebt, sage ich Dir und dann kommt dieser kleine Mann mit der bösen Stimme, den nun alle zu ihrem Führer auserkoren haben und der sagt, dass so ein Leben nicht lebenswert, unwert ist. Das man sie erlösen und ihr einen schönen Tod schenken soll, so war es doch, das hat er gesagt, einen schönen Tod, unwertes Leben, wie verkehrt diese Welt doch geworden ist.“
„Hedwig“, schrie der Pfarrer und es lag Angst in seiner Stimme, die sie verstummen ließ, Angst, die sie selbst ängstlich machte, denn wovor konnte sich ein Mann fürchten, der zwischen Gott und den Menschen vermittelte.
„Ich habe das nicht entschieden, doch ich zweifle nicht an dem Willen des Führers. Man kann nicht immer so, wie man möchte, Hedwig, auch das ist Gott, denn er prüft unseren Glauben durch die Welt, die er uns geschenkt hat.“
„Anselm, ich…“
„Und natürlich schreibt die Lehre des Herrn Barmherzigkeit vor, doch heißt es nicht auch, dass seine Wege unergründbar sind. Ich maße mir nicht an diesen Weg in Frage zu stellen und alles, alles ist sein Wille, muss sein Wille sein.“
Hierauf schwiegen beide und Hedwig betrachtete erschrocken den Pfarrer, dachte dass er alt und gebrechlich geworden war, während dieser nervös hinüber zum Fenster blickte, das nur angelehnt war und zur Straße hinausging. Der Verrat hatte überall seine Ohren.
„Jemand muss ihr doch helfen und die Menschen hören auf dich, sie wollen von dir hören, was das Richtige ist, sie brauchen jemanden, der ihnen das Gute zeigt“, flüsterte Hedwig, doch der Pfarrer war mit den Gedanken bereits abgeschweift, manchmal passierte das, gerade dann, wenn aufregende Dinge passierten, er zog sich dann in sich selbst zurück, starrte in eine beliebige Richtung und roch den Duft des frischgemähten Heues aus einem bestimmten Sommer in seiner Kindheit. Noch eine ganze Weile stand Hedwig vor ihm und wartete auf Antwort, dann ging sie hinüber in die Küche, um einen Tee aufzusetzen.


Lara, Frau mit Kind

„Mutter, da ist die Lara“, rief der kleine Joseph, als er das Mädchen mit dem lustigen Grinsen am Straßengraben sitzen sah, „Mutter, die Lara“, doch diese verstand scheinbar nicht und zerrte ihn weiter, die Straße entlang.
„Wir haben jetzt keine Zeit“, sagte sie und schämte sich dabei ein wenig, doch es gab Dinge, die ließen sich halt nicht so einfach erklären.
„Mutter, bitte.“
„Joseph, wir haben dir gesagt, dass du nicht mehr mit Lara spielen sollst. Sie braucht Ruhe, Ruhe vor den Menschen.“
Mit diesen Worten waren sie schon vorbei, so unauffällig wie nur möglich betrachtete sie aus den Augenwinkeln das Kind. Wie es wieder aussah. Die Strümpfe schmutzig und die Haare verfilzt, aber es war ja auch keiner da, der nach ihr sah.
„Mutter, warum braucht Lara Ruhe?“
„Aber Joseph, das musst du doch sehen. Lara ist anders als die anderen Kinder. Sie hat ein ganz schweres Leben. Sie hat eine schlimme Krankheit.“
Sie gingen weiter die Straße entlang, während Joseph über die Worte nachdachte.
„Mutter?“, fragte er schließlich, „warum lächelt Lara andauernd, wenn sie ein so schweres Leben hat? Sie war immer sehr fröhlich.“
„Sie lächelt nicht wirklich“, sagte die Mutter. „Sie hat ein Gesicht, das nur lächeln kann, selbst wenn sie ganz traurig oder wütend ist, muss sie lächeln. Deshalb sieht niemand, was sie für ein schweres Leben hat und deswegen wussten wir auch nicht, dass wir sie besser in Ruhe lassen, damit sie sich erholen kann.“
„Ist die Krankheit denn heilbar?“
„Jede Krankheit ist heilbar, mein Junge, aber jetzt red nicht mehr so viel, wir müssen noch ein wenig schneller gehen, damit ich das Abendessen gekocht habe, bevor der Vater nach Hause kommt.“
Joseph nickte und sie gingen ein wenig schneller, dann noch ein wenig schneller, schließlich hatte Joseph das Gefühl, dass sie liefen, obwohl es erst später Nachmittag war und noch genug Zeit zum Kochen blieb, fast wirkte es so, als würde sie jemand verfolgen, doch immer, wenn er sich umdrehte, war da nur Lara, die in weiter Ferne bald nicht mehr vom Straßenrand zu unterscheiden war.

Fleischerszene

Der Fleischer hatte wie so oft seinen stattlichen Körper mit den Oberarmen auf der Theke abgestützt und dachte gerade, dass sich trotz aller Erfolgsmeldungen die wirtschaftliche Lage spürbar verschlechtert hatte, als Frau Neumann durch die Tür in den Laden trat und ihren reinrassigen deutschen Schäferhund energisch hinter sich herzog. Der Fleischer hasste Hunde, gerade Schäferhunde, die an allem schnüffelten und nur allzu schnell ihre Zähne bleckten, wenn man ihnen drohte, und er hasste Frau Neumann, die er schon als Kind gehasst hatte. Einmal, während der Predigt, als er als Kind heimlich in seinem Buch gelesen hatte, hatte eben diese Frau Neumann aus der hinteren Reihe seinen Arm gepackt und so fest zugedrückt, dass ihm die Tränen in die Augen geschossen waren. „Benimm dich“, hatte sie geflüstert und es war ihm wie eine Todesdrohung vorgekommen. Diese Frau, die scheinbar nicht alterte und die ihm als Kind wie eine Hexe erschienen war, sah er nun als erwachsener Mann nur noch als gehässig an, doch er hatte nie diese kindliche Angst verloren. Es ging das Gerücht um, dass sie für die Gestapo arbeitete.
„Was darf es sein, Frau Neumann?“, fragte der Fleischer und wich ihrem misstrauischen Blick aus.
„Ich bin mir noch nicht sicher“, antwortete Frau Neumann vorwurfsvoll, während ihr deutscher Schäferhund zielstrebig auf den Innereieneimer zuging, und ihre Augen suchten den Laden ab,
– nichts entging ihr –, verweilten dann einen Augenblick auf dem Führerbild über der Fleischtheke.
„Schief“, schrie sie und riss ihren knochigen Finger in die Höhe.„Sie haben das Bild des Führers schief aufgehängt. Was für eine erbärmliche Nachlässigkeit.“
Sie sagte diesen letzten Satz mehr zu sich selbst als zu ihm, doch so ungeheuerlich dies auch war, er konnte sich einfach nicht widersetzen. Schuldbewusst trat er zu dem Bild hinüber, wollte es schon geraderücken, besann sich dann gerade noch rechtzeitig und wischte zunächst seine Hände an der Schürze ab.
„Heil Hitler“, rief Frau Neumann zu dem Bild, das nun wieder gerade hing und dann: „ein Stück Hüfte“,
„Rind“, ergänzte sie und der Fleischer schüttelte bedauernd den Kopf.
Es war noch keine Lieferung gekommen und von dem Schwein, das er an diesem Vormittag geschlachtet hatte, waren nur noch die zwei letzten Koteletts in der Auslage verblieben. Zwei einsame Koteletts, die er eigentlich für sein eigenes Abendessen vorgesehen hatte.
Er verfluchte sich dafür, dass er sie nicht aus der Auslage genommen hatte.
„Kein Rind mehr da, Frau Neumann, nur was Sie sehen, nur was Sie sehen.“
Es blieb einen Moment still, dann fiel ihm das Schmatzen des Hundes auf, der gierig von den Innereien fraß, aus denen sich noch eine gute Brühe hätte kochen lassen. Er hasste Hunde.
„Dann die zwei kümmerlichen Schweinekoteletts da“, rief sie verärgert und für einen kleinen Moment rebellierte alles in ihm. Was, wenn er sie einfach aus dem Laden warf, diesen Drachen, doch da war auch der kleine ängstliche Junge in ihm und darüber hinaus gab es andere gute Gründe, sich nicht mit Frau Neumann anzulegen. Die Zeiten wurden härter, er spürte es, obwohl niemand von den Dorfbewohnern darüber sprach. Seufzend packte er die zwei Koteletts für sie ein.
„Dieses Haus ist eine Schande für die ganze Straße“, rief Frau Neumann auf einmal, während er das Fleisch einwickelte, und der Fleischer, der dies zunächst falsch verstand, blickte erschrocken zu ihr hinüber. Doch Frau Neumann schaute hinaus, durch das Ladenfenster auf die Straße, und sie meinte das Haus, in dem dieses kleine Mädchen wohnte, alleine, seitdem ihre Eltern verschwunden waren.
„Einen Anstrich hätte es bitter nötig“, sagte Frau Neumann, „alles entartet und das Tor, sehen Sie, wie es in den Angeln hängt? Dieses Quietschen macht mich noch wahnsinnig, wenn diese kleine Göre zu den unmöglichsten Zeiten hindurchgeht.“
Ihre Rede hatte sie derart wütend gemacht, dass sie die letzten Worte schrie, hinaus nach draußen, hinüber zu dem kleinen Haus.
„Eine Schande“, schrie Frau Neumann, erst dann beruhigte sie sich langsam wieder.
Der Fleischer, der einigermaßen froh war, dass der Zorn sich in eine andere Richtung gedreht hatte, schwieg zu alldem, nickte aber eifrig mit dem Kopf, um seinen ungeliebten Gast nicht noch wütender zu machen. Es war unmöglich, dass dieses kleine Quietschen, das ihm tatsächlich selbst einmal aufgefallen war, die ganze Straße hinunter bis zu Frau Neumanns Haus drang, doch was sollte das auch alles? Da stand diese dämonenhafte Frau in seinem Laden und er besaß einfach nicht den Mut ihrer Dreistigkeit entgegenzutreten.   
Frau Neumann konnte sehr aggressiv werden und sie hatte einen in jeglicher Hinsicht missratenen und umso brutaleren Sohn, dessen Fäuste er in der Schulzeit oft genug zu spüren bekommen hatte. Der war zwar momentan in geheimem Auftrag abkommandiert, aber er würde zurückkommen, er würde zurückkommen.
Dann bellte der Schäferhund und riss ihn aus seinen Gedanken. Die ganze Zeit hatte dieser aus dem Eimer gefressen, dann gemerkt, wie die Stimme seiner Herrin wütender wurde, wie sie selbst wütender wurde. Als Hund hatte er ein gutes Gespür für Stimmungen und so richtete sich sein unbedingter Beschützerinstinkt gegen den Fleischer, der ängstlich ein Stück zurückwich.
„Lupus“, schrie Frau Neumann und Lupus machte sich klein.
„Ein Parasit ist sie“, schimpfte Frau Neumann, „und es ist eine Schande, dass mein guter Sohn auch für sie kämpft. Nur darum werden die Dinge an anderer Stelle knapp, weil wir die falschen Münder stopfen“, sie war jetzt wieder ganz ruhig, ging hinüber zu ihrem Hund, der noch immer regungslos verharrte und trat ihm hart mit ihrem Schuh in die Seite.
Alles musste seine Ordnung haben.
Dann trat sie hinüber zum Fleischer und flüsterte: „Doch damit wird bald Schluss sein. Ich habe eine Eingabe gemacht.“, und dann verschwörerisch: „Sie werden schon sehen.“
„Darf’s sonst noch etwas sein, Frau Neumann“, fragte der Fleischer vorsichtig, obwohl es ja nichts mehr gab, und wich ein Stück zurück.
„Ein paar Innereien für meinen Lupus“, sagte sie und zerrte wie zum Beweis an der Leine, so als hätte dem Fleischer längst auffallen müssen, dass sie Innereien wollte.
Lupus sprang erschrocken auf, doch ein Blick von ihr reichte aus, um ihn wieder erstarren zu lassen. Er winselte. Totale Herrschaft.
„Ich bringe den Eimer wieder“, sagte sie noch, als sie ihn schon ergriffen hatte und an der Tür war. Keine Fragen, Tatsachen. Nie bezahlte sie und es gelang ihr doch, dass er sich immer schlecht fühlte, wenn sie den Laden verließ.
„Parasit“, schrie sie noch einmal, als sie auf der Straße war, und Lupus bellte böse und bedrohlich.

Lara

Lara hatte sich an den Straßenrand gesetzt, um sich dort die Zeit zu vertreiben. Nachmittags kamen oft die Mütter des Dorfes mit ihren Einkäufen vom Kramladen, oder einer der Dorfjungen sauste mit dem Fahrrad an ihr vorbei. Lara mochte die anderen Kinder im Dorf und auch die Älteren, die Erwachsenen waren immer nett zu ihr gewesen. Alle hatten sich an das kleine Mädchen gewöhnt und es hatte nichts ausgemacht, dass Lara nicht sprechen konnte, oder vielmehr, dass sie nicht so sprach wie die anderen Kinder. Sie hörte all die schönen Worte und sie verstand, was sie bedeuteten, nur selbst konnte sie diese nicht aussprechen. Stattdessen kamen immer seltsame Geräusche, über die die anderen manchmal lachten. Sie hatte verstanden, dass sie eine andere Sprache sprach, doch sie hatte Hände und Füße, mit denen sie ihre Gedanken übersetzen konnte. In den letzten Jahren hatte sie ein breites Repertoire an Zeichen erfunden, damit die anderen sie verstehen konnten. Niemals war das schlimm gewesen und wenn sie gemeinsam gelacht hatten, war dies eine gemeinsame Sprache gewesen, die alle verstanden. Überhaupt hatten sie viel miteinander gelacht, doch nun hatte sie den Verdacht, dass das Lachen seltener geworden war. Und es war nicht nur das Lachen. Lara begriff, dass sich noch etwas ganz anderes veränderte, dass da ein Schatten war, hinter dem etwas Schlimmes verborgen lag. Morgens, wenn sie aufstand und die Fenster in dem alten Holzhäuschen aufschlug, stand dort fast immer eine Schale mit Obst, eine Suppe zum Aufwärmen, ein Stück Brot, das eine der Dorfmütter dort für sie hingelegt hatte. Manchmal waren dort sogar Süßigkeiten oder ein Stück Kuchen gewesen, doch in den letzten zwei Tagen hatte sie nichts gefunden und es war auch niemand gekommen. Das war schon einmal vorgekommen und es war bestimmt auch keine böse Absicht, dass man sie vergaß, doch neben vielen anderen kleinen Dingen beunruhigte dies Lara und sie hatte ein ungutes Gefühl eine Art Ahnung, die ihr Angst machte. In der kleinen Küche lag noch ein ganzes Brot, das in der Woche davor im Verkauf übrig geblieben und ihr geschenkt worden war, und so hatte sie sich keine Sorgen gemacht. Das Brot war hart gewesen, aber es wurde weicher, wenn man es mit Wasser einrieb.
Sie nahm ein Stück aus der Tasche und begann es mit ihrem Speichel zu befeuchten. Es war ein Landbrot mit dunkler Rinde, Laras Lieblingsbrot, und es schmeckte auch dann noch, wenn es hart war. Eine ganze Weile konzentrierte sie sich nur auf das Kauen, das Gefühl, wenn die Zähne den Widerstand langsam brachen, die verschiedenen Geschmäcke auf der Zunge, dann dachte sie an den kleinen Joseph und dessen Mutter, die es so eilig gehabt hatten. Alle hatten es eilig in den letzten Tagen, alle waren ständig beschäftigt, niemand hatte Zeit, nicht einmal die anderen Kinder, niemand kam die Straße entlang. Gerade wollte sie aufstehen, als sie etwas Schönes hörte, und wie immer, sofort, wenn da eine Melodie war, die an ihr Ohr drang, leuchteten ihre Augen und sie klatschte im Takt in die Hände, fand dann den Rhythmus und wenn sie sang, ohne all diese Worte, in ihrer eigenen Sprache, dann waren das Momente höchster Glückseligkeit. Es war ein Lied, das eine lustige Melodie hatte, eine Melodie, die sie schon einmal gehört hatte.

„Mit meinem Mut und meinem Blut, für Führer, Volk und Vaterland
marschier ich, Kameraden, ho,
und hebe voller Stolz die Hand“

Der Pimpf marschierte die Straße entlang und seine kleinen polierten schwarzen Schuhe schlugen im Takt auf das Pflaster. Erst jetzt hörte er die helle Stimme, die sich unerlaubterweise in sein Lied gemischt hatte, dann entdeckte er Lara, die ihm aufgeregt entgegenschaute.
Sofort hörte er auf zu singen und ließ ihre schöne Stimme noch ein wenig nachschwingen, bevor er sie anschrie:
„Hörst du wohl auf, du Dummkopf“
und sofort war Lara still, weil sie ein sehr gutes Gehör hatte und auch wenn sie manches nicht verstand, immer wusste, ob jemand etwas Nettes oder etwas Böses sagte.
„Du verstehst doch nicht einmal den Text. Es ist ein heiliges Lied und man darf es nur singen, wenn man Pimpf ist.“ Zornig stampfte er mit dem Fuß auf den Boden, so wie er es einmal beim Gruppenführer gesehen hatte.
Gerne hätte Lara gefragt, was er denn damit meine, dass ein Lied heilig sei, in dem nicht einmal Gott vorkam, aber sie kannte nicht die richtigen Laute und so fasste sie sich an den Kopf, um den Heiligenschein mit einem Kreis zu symbolisieren, so wie in den großen bunten Fenstern in der Kirche, doch er verstand nicht, wurde sogar noch zorniger und wieder stampfte er mit dem uniformierten Bein auf den Boden.
„Willst mich wohl für dumm verkaufen, du freche Göre“, rief er, so wie er es von einem älteren Jungen aus der Hitlerjugend gehört hatte.
„Alle arbeiten und sind fleißig, nur du bist faul, solche Leute brauchen wir nicht. Jeder muss mit anpacken für das Vaterland und wer faul ist, ist ein Feind des deutschen Volkes, das hat sogar der Führer gesagt, Heil Hitler“, rief der Pimpf und schlug die Hacken zusammen, so dass es seinem Ausbilder eine Freude gewesen wäre.
„Was hast du da in der Hand?“, fragte der Pimpf und antwortete dann selber, „kannst ja nicht antworten, bist ja zu doof zum Sprechen, Brot hast du da, gutes deutsches Brot mit dunkler Rinde. Gib mir das Brot!“, sagte der Pimpf drohend und ballte die kleinen Fäuste.
Lara gab ihm das Brot, obwohl sie sich fragte, wofür er es brauchte. Seine Eltern hatten einen großen Hof und bestimmt genug eigenes Brot, um davon zu essen.
„Wer nicht arbeitet, hat auch keine Mahlzeit verdient“, sagte der kleine Pimpf und dann warf er es auf den Boden und trat mit seinen kleinen blankpolierten schwarzen Schuhen darauf herum.
Das gute Brot mit der dunklen Rinde und auf einmal wurde sie wütend, richtig wütend und ein wenig fürchtete sie sich vor dieser Wut, aber er hatte ihr das Brot weggenommen, obwohl er gar keinen Hunger hatte und dann hatte er es kaputt gemacht, obwohl sie Hunger hatte und sie kannte Hunger. Hunger machte sie wütend. Sie maß ihre Chancen ab, der Pimpf war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie, aber was spielte das für eine Rolle, er war bleich und schmächtig, die Uniform schlotterte um seine kleinen Schultern.
Auch der Pimpf bemerkte die veränderte Situation. Das kleine Mädchen mit dem ewig dummen Grinsen lächelte auf einmal überhaupt nicht mehr und da war etwas in ihren Augen, das ihn zurückschrecken ließ, etwas Entschlossenes, Kompromissloses, ein Wille, der dem seinen überlegen war. Außerdem kannte er sich nicht mit Krankheiten aus, vielleicht war das, was sie hatte, ansteckend, vielleicht würde er wie sie, wenn sie ihn biss, so wie in einer dieser Vampirgeschichten. Er trat einen kleinen Schritt zurück und allein diese Geste kam einer Kapitulation gleich, er wich einen zweiten Schritt zurück, drohend sah sie ihn an und dann lief er fort, so wie kleine Jungen rennen, den Weg nach Hause, um dem Vater von dem Erlebten zu berichten.

Dorfschullehrer

Der Dorfschullehrer war ein gebildeter Mann, der in seinen jungen Jahren begeistert Schiller, später, als der Enthusiasmus verflogen war, hauptsächlich Schopenhauer gelesen hatte. Ernst blickte er vom Katheder hinunter auf die Schulklasse, die mit ebenso ernstem Gesicht zurückblickte, Lauerstellung, ein Heer kleiner Denunzianten und pflichtschuldiger Menschheitsverräter, kleine Nationalsozialisten mit kleinem Geist und neuerdings großen Manieren. Ein ganz neuer Hauch von Disziplin war in die Klasse eingezogen und dies nicht in Form preußischer Erziehung oder wissbegieriger Konzentration; allein die paramilitärische Ausbildung, der die Schüler jeden Nachmittag mit ihrer Fahne entgegenmarschierten, hatte aus den zuvor oftmals bäuerlich einfältigen und viel zu oft inzestuös geschädigten, unkonzentrierten Dorfschulkindern eine kleine Armee gemacht, die dem Tag entgegenfieberte, an dem sie endlich selbst mit der Waffe in der Hand für ihr Vaterland sterben durfte. Eine ganze Generation von willigen Märtyrern, die nicht einmal begriffen, wofür diese große Idee, dieser neue Patriotismus stand.
Wie sollten diese kleinen durch die neue Zeit geprägten und so früh infizierten Köpfe verstehen, was nicht einmal Heidegger begriff, der sich für einen klugen Menschen hielt.
„Wir schreiben ein Diktat“, sagte er und ohne eine Spur von Unwillen packten die Schüler ihre Griffel heraus, Diktate schreiben für das Vaterland, besser als dafür zu sterben.
„Erich Kästner“ sagte er, jedes Wort unnatürlich in die Länge gezogen, damit die kleinen Gehirne die Silben besser entschlüsseln konnten.
„Erich Kästner ist verboten“, rief da auf einmal Jonathan, der in den letzten Jahren vom Außenseiter zum Anführer geworden war. Dann: zustimmendes Gemurmel. „Erich Kästner ist verboten“, wiederholte Martin, der sonst nur selten ungefragt etwas sagte, ein geborener Bauer, der niemals würde lesen oder schreiben müssen, der es nur lernte, um den Standard einer Gesellschaft zu erfüllen, den er wie alles in seinem Leben akzeptierte, ein geborener Mitläufer.
„Ruhe!“ Seine Stimme hatte noch immer Autorität, er kannte den Klang, in dem sie ihre Befehle bekamen. Sie waren still.
„Bestimmte Bücher von  Erich Kästner sind verboten, aber nicht sein Name, nein, Namen sind noch nicht verboten“, sagte er und schlug auf das Pult.
Er war nicht wütend, dafür schon viel zu lange resigniert, aber solche hektischen und bedrohlichen Bewegungen erhöhten die Aufmerksamkeit. Autorität war die beste Lehrmeisterin.
„Erich Kästner“, wiederholte der Dorfschullehrer und eifrig schrieben diese missratenen Kinder auf ihre Tafeln, den Kopf hinunter über den Schiefer gebeugt malten sie ihre Buchstaben.
„hat“,
sagte der Dorfschullehrer,
„viele Bücher geschrieben, Komma“,
sagte der Dorfschullehrer,
„die zur Reinigung“,
er spuckte dieses Wort auf die Klasse,
„unserer deutschen Kultur“,
alle schrieben sie das Wort „deutsch“ richtig und mit großem D,
er machte eine kleine Pause, damit auch die Langsamsten ihre Tafel füllen konnten,
„verbrannt wurden“,
sagte der Dorfschullehrer.
„Punkt“, sagte der Dorfschullehrer.

Aussetzer

Es gab etwas, an das Lara nicht gerne dachte und über das sie niemals gesprochen hätte, selbst wenn sie jemanden gekannt hätte, der ihre Sprache verstand. Es war ein Geheimnis, von dem niemand im Dorf wusste, ein Geheimnis, vor dem sie Angst hatte. Es hatte mit jenen Momenten zu tun, in denen Lara ins Leere starrte, in denen ihre Augen glasig wurden, jenen Momenten, in denen sie aufhörte zu lächeln, jenen Momenten, in denen Lara ein böses Mädchen war.
Als es das erste Mal geschehen war, hatten sich die Dorfbewohner erschrocken, sogar der Arzt war gerufen worden und mit Brotkrümeln im Bart auf die Straße geeilt, alle hatten sie umringt und auf sie eingeredet, nur Lara selbst war nicht da gewesen. Ganz weit weg war sie gewesen. Inzwischen hatten sich die meisten an ihr merkwürdiges Verhalten gewöhnt, die Regelmäßigkeit hatte das Außergewöhnliche zur Banalität gestempelt, so wie es wohl mit allen Wundern war, die diese Welt noch zu bieten hatte.
Doch niemand sah gerne in ihr Gesicht, wenn sie starrte, wenn sich irgendwo in ihrem Antlitz eine unsichtbare Linie verschob und aus dem kleinen, dürren und so dümmlich grinsenden Mädchen etwas anderes und irgendwie Böses wurde, das sich nicht mit Worten beschreiben ließ, etwas Unsägliches, das ein Stück ihrer Sprachlosigkeit in sich konzentrierte und auf die ahnungslosen Menschen zurückschleuderte. Niemals hätte sie auch nur angedeutet, dass sie ihren Körper in solchen Momenten verließ und wie hätte sie ohne Worte etwas beschreiben können, für das es niemals Worte gegeben hatte. „Finsterland“, dachte sie manchmal, wenn sie an diesen Ort dachte, wohl wissend, dass dies mehr verbarg als enthüllte, „Finsterland“, weil es dort immer finster war und ihr kein besseres Wort einfiel, das beschrieben hätte, was sie fühlte, wenn sie dort war. Abends, wenn sie in ihrem Bett lag, dachte sie manchmal daran und dann wurde es kalt unter ihrer Decke. Der Eingang zum Finsterland war ein einfaches Loch in einem einfachen Zaun zwischen Bäcker und Kramladen, wo beide Geschäfte so nah aneinanderrückten, dass nur ein schmaler Pfad blieb, der dunkle Pfad, der direkt nach Finsterland führte. Wenn sie die Augen schloss, sah sie die Stelle genau vor sich, das wuchernde Gras, das langsam mit dem Zaun verwuchs, die Schlingpflanzen, die nicht von ihm zu unterscheiden waren, alles miteinander verwachsen, nur das Loch war immer da, kreisrund, so als hätten alle Pflanzen Angst sich dieser Stelle zu nähern. Oft dachte sie an den Eingang zu Finsterland und doch war sie niemals wirklich dort gewesen. Sie machte einen großen Bogen um diesen Teil des Dorfes, sie ging nicht, sie dachte den Weg von dort aus, wo sie gerade stand, wenn ihr Blick zu Eis erstarrte und sich der Geist irgendwie von dem Körper löste. In ihren Gedanken ging sie immer sehr langsam, dachte sich durch die vertrauten Straßen bis zu jener Ecke, an der sie eine Gänsehaut bekam, bis dorthin, wo es auf einmal kalt wurde. Meistens blieb sie dort stehen, wartete, weinte und schrie Schreie, lautlos und gewaltig in die aufziehende Dämmerung, denn immer begann es gerade zu dämmern, wenn sie sich auf den Weg nach Finsterland machte. Weinen und Schreien im Abglanz von Licht und dann kam immer jener Moment, in dem sie aufgab, in dem fast hörbar etwas zersprang, ein Knirschen wie wenn Porzellan reißt, immer ein Stückchen tiefer, wenn sie sich vorwärts dachte, auf die Knie hinunter, immer war das Loch zu eng, zu klein, so dass es über die gedachte Haut und den gedachten Körper schabte, dunkler und dunkler wurde es, dann war sie in Finsterland.

Reflexion des Fleischers

Der Fleischer aber atmete tief durch, als Frau Neumann den Laden verlassen hatte. Noch immer hing der Dunst ihres ewigen Parfums in seinem Laden, den er schon als Kind gefürchtet hatte. Kölnisch Wasser und Schweiß, mehr Schweiß als Kölnisch Wasser. Als Kind. Vielleicht war es diese kindliche Angst, aus der heraus er nun eine gewisse Sympathie für die kleine Lara empfand, die in ihrem kleinen Haus auf der anderen Straßenseite nichts von der bösen Frau wusste, die alle Hebel in Bewegung setzte, um ihr zu schaden. „Ich könnte sie warnen“, dachte er, doch je länger er darüber nachdachte, desto unsinniger erschien ihm dieser Gedanke. Was wäre das für eine Warnung und wozu sollte sie nützen? Was sollte er diesem Kind sagen, das nicht einmal sprechen konnte, und würde es ihn überhaupt verstehen? Wieder stützte er die Ellenbogen auf der Theke ab, so konnte er besser denken, von je her.
Er dachte an Laras Eltern, eigentlich ein nettes Paar, Hackfleisch hatten sie öfters gekauft oder die kleinen gewürzten Frikadellen, die seine eigene Erfindung waren und bereits über die Dorfgrenzen hinweg Berühmtheit erlangt hatten. Niemals hätte er gedacht, dass sie einfach verschwinden und ihr Kind dabei zurücklassen würden. Schon damals hätte die Dorfgemeinde aktiv werden müssen, und wenn er zurückdachte, verstand er nicht, warum sich niemand darum gekümmert hatte. Sie war ein Kind, ein behindertes Kind dazu. Sie konnte nicht alleine wohnen. Was waren das für Umstände? Sie konnte nicht älter neun Jahre alt sein. Schon damals hätte sie in ein Heim gehört, doch niemand der Dorfbewohner hatte auch nur einen Finger gerührt, um die Behörden zu verständigen. Das Leben war einfach weitergegangen. Sie hatte niemanden gestört. Nicht einmal die alte Frau Neumann. Im Gegenteil. Oft hatte er eine der Dorfmütter durch das quietschende Tor gehen sehen, und obwohl er nie verstanden hatte, was so interessant an einem kleinen dummen Mädchen war, hatte sie oft Besuch bekommen, damals, damals war es anders gewesen. Das Mädchen warnen. Er zögerte. Es war einfach zu gefährlich in einer solchen Situation Stellung zu beziehen. Er blickte wieder hinüber zu dem kleinen Haus. Frau Neumann war das Problem. Sie war nicht nur gehässig, sie war auch geschwätzig. Bestimmt war er nicht der erste, dem sie ihre Geschichte erzählt hatte, und wenn einer der Nachbarn ihn auf der anderen Straßenseite sah, würde er sofort wissen, was er dort vorhatte. Stellung beziehen. Sollte das doch ein anderer tun.
Sein Magen rumorte. Er hatte Hunger. Er dachte an Fleisch, an das alte Pferd eines Bauern, das auf einem Bein lahmte, dann an Sauerbraten. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und er vergaß das kleine Mädchen, vergaß sogar die alte Frau Neumann, als er seine Jacke anzog, um zum Bauern hinüber zu gehen. Er brauchte Lorbeerblätter und er brauchte Essig.


Brief

Das Tor quietschte leise, als Joseph hindurchging und er zuckte zusammen, weil er sich wie ein Einbrecher vorkam. Der Vater hatte ihm verboten, dass er mit Lara spielte, und obwohl er große Angst vor ihm hatte, war er trotzdem losgegangen. Heimlich hatte er einige Kartoffeln aus der gutgefüllten Speisekammer und noch einige getrocknete Pflaumen aus der großen Messingdose genommen und gerade in dem Moment, als er mit eiligen Schritten das Treppenhaus durchquerte, war ihm die Mutter entgegengekommen. Beide waren sie erschrocken gewesen, dann war die raue Stimme des Vaters aus dem Wohnzimmer zu ihnen hinübergedrungen, hart und befehlend, und sie hatte ihn mit ihren Blicken aus dem Haus gescheucht. Er glaubte, dass sie wusste, dass er zu Lara ging und obwohl sie nichts sagte, war er sich sicher, dass sie ihm nicht böse war. Den ganzen Weg über hatte er darauf geachtet, dass ihn niemand sah und dann solange an der Straßenecke gewartet, bis die alte, schimpfende Frau Neumann in ihrem Haus verschwunden war. Erst dann, als der Fleischer im gegenüberliegenden Laden in eine andere Richtung geschaut hatte, war er durch das Tor geschlüpft. Vor Laras Tür lag ein Brief, ein richtiger Brief mit Briefmarke, darauf ein Führerportrait in Braun, gestempelt mit einem Adler, und er betrachtete ihn eine Weile, bevor er ihn einsteckte. Lara konnte nicht lesen und was immer in dem Brief stand, er würde es ihr sagen müssen. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein.

Lara hatte auf ihn gewartet, sie wusste es immer, wenn er kam und sie hatte ihn noch nie enttäuscht. Wie immer, wenn er eintrat, saß sie in dem alten Ohrensessel im Wohnzimmer, den sie so zurechtgerückt hatte, dass sie genau geradeaus zur Tür schaute. „Es ist wahr, was die Mutter gesagt hat“, dachte er, als er sie dort in dem fahlen Licht sah, immer lächelte sie, doch wenn man Lara kannte, konnte man hinter das Lächeln blicken. Lara hatte Hunger, das sah er sofort und als er die Pflaumen auf den Tisch legte, griff sie gierig zu.
„Es ist ein Brief für dich gekommen“, sagte Joseph und winkte mit dem Kuvert.
Doch Lara hörte gar nicht zu. Sie hatte sich eine Pflaume in den Mund gesteckt, die Augen geschlossen und versuchte die vielen süßen Geschmäcke zu ordnen.
„Ein Brief, Lara“. Er riss ihn vorsichtig auf und zog ein blütenweißes Blatt hervor.
Joseph war kein guter Leser, er war noch sehr klein, aber er kannte inzwischen bereits alle Buchstaben, wenn auch nicht alle Worte, zu denen man sie zusammensetzen konnte.
Es war ein einziges maschinengeschriebenes Blatt, auf dem unten mit einem blauen Füllfederhalter unterschrieben war. Rasch überflog er die Zeilen und suchte nach Wörtern, die er bereits kannte, die erste Zeile – „Lara“ stand dort –, die zweite Zeile ohne ein vertrautes Wort, die dritte Zeile: „Doktor“ stand dort.
Sofort begannen seine Augen zu leuchten, weil sich nun alles zusammenfügte.
„Jede Krankheit ist heilbar“, hatte die Mutter gesagt und wahrscheinlich war die Medizin für Laras Krankheit einfach noch nicht gefunden gewesen.
„Vielleicht macht der Doktor dich gesund“, flüsterte Joseph und seine Augen leuchteten.
Er hatte sich schon recht genau ausgemalt, wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen würde, ein kleines Haus, mit Garten, so ähnlich wie das seiner Eltern, nur friedlich würde es dort sein.
Sie würden dann eigene Kinder haben, zu denen sie immer nett sein würden.
Alles konnte man den Kleinen natürlich nicht erlauben, das sah er schon ein, aber sie würden nie böse zu ihnen sein, so wie sein Vater oft böse gewesen war.
Immer, wenn er sich dies vorstellte, das gemeinsame Frühstück im Garten und die vielen herumtollenden Kinder, hatte er nur ein Problem gesehen, das sich nicht wegdenken ließ. Lara konnte nicht sprechen und auch wenn sie beide sich ohne Worte verstanden, würde es schwierig werden den Kindern alles zu erklären, was sie wissen mussten. Er selbst würde dann ja auf der Arbeit sein, um das Geld für die Familie zu verdienen und Lara würde auf die Kinder aufpassen müssen. Sein kleiner Traum war immer an dieser Stelle zerbrochen. Lara konnte nicht sprechen, das war die eigentliche Krankheit, und wenn in dem Brief von dem Doktor die Rede war, dann bedeutete das, dass man Lara endlich helfen konnte.
„Doktor“, sagte Joseph noch einmal, ganz aufgeregt und dann nahm er sie in den Arm, nahm eine von den Pflaumen, die sie ihm hinhielt und träumte eine ganze Weile von der gemeinsamen Zukunft.


Schlafzimmer des Pfarrers

In der Nacht presste Hedwig wie zufällig ihre Brüste gegen den Rücken des Pfarrers.
„Hedwig, es ist spät“, antwortete dieser, so als ob sie nicht wüsste, dass es Nacht war,
„und es ist eine Sünde“, setzte er verschlafen hinzu, halbwach, so als ob sie das nicht wüsste.
Vorsichtig ließ sie ihre Finger über seinen Rücken nach vorne, erst auf den Bauch, dann zwischen die Beine gleiten, jederzeit bereit sie zurückzuziehen, doch der Pfarrer schwieg dazu und veränderte seine Position, so dass sie ihn besser berühren konnte. Wenn es dunkel war, fiel es ihr einfacher seine Amtswürde zu vergessen und wenn sie die Augen ganz fest zusammenkniff, glaubte sie manchmal für einige Momente den Mann vor sich zu sehen, den sie einmal geliebt hatte. Es waren kurze Momente innerer Wonne, das Gefühl es geschafft zu haben, auch wenn er immer nur so ruhig dalag und sie niemals berührte, schon damals nicht, als sie noch jung und dabei schön gewesen war.
Vorsichtig rieb sie mit ihrer Hand über seinen Unterleib, ganz langsam, so wie er es mochte, warm war er da unten, doch dann wurde ihr auf einmal kalt und sie musste wieder an das Mädchen denken, Sorgen machte sie sich und während ihre Hand weiter auf und ab wogte, glaubte sie für einen kurzen Moment in die Zukunft sehen zu können, das kleine Mädchen, wie es in einer schlammigen Ecke lag, ausgemergelter Körper, knochige Finger und sie hatte ihr Gesicht verborgen, dann ein Schatten, der sich über sie schob und obwohl man ihr Gesicht nicht sah, wusste sie, dass sie weinte, bemerkte es an dem unmerklichen Zittern dieses in sich gekrümmten Körpers und der Schatten schob sich weiter, nahm Beine und Körper in Beschlag, ein Dämon, der sich vor die Sonne schob. „Hilf ihr, Gott, hilf uns allen“, flüsterte sie, unbemerkt vom Pfarrer, der die Hand über das Gesicht gelegt hatte und in den Ärmel seines Nachthemdes stöhnte, so als könne jeder hörbare Laut alles verderben.
Doch Gott half nicht. Er gab dem Schatten eine Gestalt, einen Rang, Uniform, Orden und Stiefel, eine Pistole, die er spielerisch um die Hand wirbelte. „Singen, du sollst singen“, schrie er und seine Stimme schraubte sich mit seiner Entrüstung in die Höhe und er richtete die Mündung seiner Waffe auf das kleine Leben. „Willst also nicht singen?“
Er würde nicht abdrücken, dafür hielt er die Waffe nicht fest genug, er drückte ab, ein lauter Knall, der die Fenster in dem kleinen Zimmer erschüttern ließ, nur der Pfarrer hörte es nicht, der lauter und gepresster atmete.
Sie sah keine Kugel, es ging zu schnell, sie sah nur ein Loch, das sich von innen heraus selbst aus dem Körper riss und sich wie eine Eruption durch das raue Häftlingskleid hinausbohrte, der Geruch nach Pulverdampf und Tod, und sie sah, wie vorne, unter dem Mädchen, etwas heraus auf den Boden spritzte und dann schrie Lara, und ihre eigene Hand war nass, nass vom Sperma des Pfarrers, der sich im Bett aufbäumte, sie zitterte heftig am ganzen Körper.
„Das war schön“, flüsterte der Pfarrer und drehte sich zur Seite, schlief mit unreinem Gewissen, während sie bis zum Morgen wachlag und darüber nachdachte, was sie tun konnte und warum Gott – wenn es ihn denn gab –  gerade für sie diese Prüfung ersonnen hatte.   


Lara, Doktor

Der Doktor dachte gerade an den letzten Urlaub, Strand, bunte Schirme und die Ostsee, als er das Papier unterzeichnete, das Lara in den Tod schicken sollte. Diese Tage, das Beine-am-Steg-Baumeln-Lassen, wie lange war all dies her. Lore, seine Frau, war da noch jünger gewesen und gemeinsam mit ihm so weit hinausgeschwommen, dass der Strand nur noch eine schmale Linie am Horizont gewesen war. Frei hatte er sich in diesem Moment gefühlt, nur er, sie und das Spiel der Elemente. Dann blickte er hinüber zu dem schmächtigen Mädchen, das auf der Untersuchungsliege lag und misstrauisch in die Untersuchungslampe blinzelte.
„Lara“, sagte er und seine Stimme hatte einen freundlichen Klang.
„Du wirst bald an einen anderen Ort gebracht werden, an dem man sich besser um dich kümmern kann. Verstehst du mich, Lara?“, fragte der Doktor und Lara nickte, um zu zeigen, dass sie verstand.
„Ein Ort, an dem alle so sind wie du, wo du nicht mehr alleine bist.“
Hier dachte Lara, dass dies so nicht stimmte, dass sie ja gar nicht alleine war, doch wegen der seltsamen Vorkommnisse in den letzten Tagen schwieg sie und sie wollte auch den Doktor nicht unterbrechen.
„Eine Reise wirst du machen“, sagte der Doktor,
„ein wenig beneide ich dich, Strand, bunte Schirme, Meer, mit dem Zug wirst du fahren. Bist du schon einmal mit dem Zug gefahren, Lara?“
Lara nickte.
„Interessant, interessant“, murmelte der Doktor und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf seine Unterschrift.
„Kannst du mir sagen, wieviel 3 und 3 ergeben, wenn man sie zusammennimmt?“
Lara strahlte, weil sie kleine mathematische Rätsel besonders gerne mochte. Manchmal hatte ihr Joseph kleine Aufgaben gestellt, die er in der Schule gelernt hatte. Dieses Rätsel war besonders einfach und mit einem kleinen Glücksschrei streckte sie sechs Finger empor.
„Interessant“, sagte der Doktor, während es in seinem Kopf arbeitete. Sie verstand, was er sagte und besaß zumindest einen, wenn auch sehr kleinen, Verstand. Es waren schwierige Zeiten, das sagte er sich immer, wenn er eine Entscheidung treffen musste, bei der ihm unwohl war. Was war lebenswert? Das war eine philosophische, keine medizinische Frage. Er verstand, dass es zuweilen notwendig war Grenzen zu ziehen, die, so ungerecht sie vielleicht auch im Einzelfall waren, einem größeren Ganzen dienten, das dann wiederum durchaus Sinn machte. Doch war seine prinzipielle Zustimmung zur Veredelung der menschlichen Spezies durch die Ausrottung ihrer Entartungen etwas anderes, als dieses kleine Mädchen umzubringen. Sie verstand, was er sagte, doch es war auch mehr als eine einfache Sprachstörung, schwierig eine Grenze zu ziehen, hauptsächlich ihr provozierend fröhlich grinsendes Gesicht sprach gegen sie. Wäre sie wenigstens Jüdin gewesen, das hätte es einfacher gemacht.
Er riss sich aus seinen Gedanken und blickte wieder zu ihr hinüber. Die ganze Zeit hatte sie geschwiegen, aber sie konnte ja auch nicht sprechen und wie sollte sie zurechtkommen in dieser komplizierten Welt. Jetzt als Kind fiel es vielleicht noch einfacher auf Unterstützung zu hoffen, aber was brachte die Zukunft, was brachte die Zukunft?
Er billigte seine Entscheidung.
„Lara, es wird ein Wagen kommen, der dich abholt, morgen oder übermorgen. Sei bitte vormittags zuhause.“
Lara nickte.
„Du kannst dich jetzt wieder anziehen, Lara“, sagte er noch und später, bei der Verabschiedung, dass es bestimmt eine schöne Reise werden würde.   


Hedwig, Lara         

Ein Schmetterling hatte sich durch das angelehnte Fenster in das Zimmer verirrt und flatterte traurig gegen das Fenster, als Lara nach Hause kam. Der Arme konnte nicht erkennen, dass das durchsichtige Glas eine Gefängnismauer war, wie lange flog er wohl schon dagegen. Vorsichtig hielt sie ihm den Finger hin und achtete darauf seine Flügel nicht zu berühren. Schmetterlinge waren wie kleine Elfen, auf ihren Flügeln war Staub, damit sie fliegen konnten. Man musste ganz vorsichtig sein, ganz vorsichtig. Der Schmetterling saß auf ihrem Finger, vielleicht spürte er etwas von der Ruhe und dem Frieden, den Lara ausstrahlte, vielleicht war er auch einfach erschöpft und wollte sterben, er fügte sich einfach und wartete ab, was dieser fremde Menschenfinger wohl machen würde.
Lara öffnete vorsichtig das Fenster und pustete ihn sanft ein Stückchen weit, bis er seinen Schreck überwunden hatte und selbst weiterflog, verträumt blickte sie ihm eine Weile nach und entdeckte Hedwig erst, als sie das Fenster wieder verriegelt hatte und sich umdrehte.
Sie war in Laras Stuhl eingeschlafen und vor ihr auf dem Tisch stand eine offene Flasche, aus der ein süßlicher Geruch in die Küche strömte. Eierlikör, obwohl sie Hedwig noch nie welchen trinken gesehen hatte.
Gedankenverloren strich sie mit dem Finger über das alte, strenge und doch liebevolle Gesicht, so viele verschiedene Linien und Falten, so vieles erlebt. Wie klein und unwirklich ihre Finger neben dieser Haut wirkten.
Hedwig erwachte.
Sie musste etwas Schlimmes geträumt haben, denn sie schrak vor Laras Hand zurück, bevor sie diese erkannte und an ihre Wange drückte.
„Kalte Hände“, sagte sie und dann, so wie man sich einer wichtigen Nachricht besinnt,
„du musst fliehen, meine Kleine“.
Lara verstand nicht, fliehen, vor wem und wohin?
„Komm in meine Arme, meine Kleine“, sagte Hedwig und dann lag sie einfach eine Weile da in diesen weichen, warmen Armen, fühlte sich wohl und wäre beinahe eingeschlafen.
„Lara, du musst flüchten“, wieder sagte Hedwig diesen Satz, diesmal bestimmter, sie meinte es ernst. „Du warst beim Doktor, Lara, das weiß ich und er ist kein schlechter Mensch, er ist einfach schwach, verstehst du, ein schwacher Mensch, der nicht den Mut hat das Gute in sich zu suchen. Er denkt, er hat keine Wahl, Lara, er hat selbst Angst, deswegen tut er, was er tut, aber das ist nicht wichtig. Hör mir jetzt genau zu, Lara. Es werden Männer kommen, es sind immer Männer, böse Männer in dunklen Uniformen und mit blitzenden Knöpfen, sie werden vielleicht nett und freundlich tun, Lara, Witze erzählen, lachen, aber sie sind böse und sie wollen, sie wollen…“
Lara hörte genau zu, erlebte die Worte geradezu mit, was wollten sie, die Männer mit den blitzenden Knöpfen, doch Hedwig schwieg, fand wohl nicht die richtigen Worte und die brauchte es auch nicht, weil Lara verstand, dass es etwas Schlimmes war.
„Ich weiß nicht wohin, meine Kleine, aber du musst es versuchen, du musst in die Stadt, hier kannst du dich nicht verstecken.“ Hedwig zog einen  Umschlag mit klimperndem Geld aus der Tasche. Sie besaß selbst nicht viel, doch sie hatte, ohne ein schlechtes Gewissen, die Kollekte vom vergangenen Sonntag dazugelegt. Kleine Sünden waren wohl nötig, wenn man etwas Gutes tun musste.


Fackelszene

Es war bereits tief in der Nacht, als auf einmal Fackelschein die Straße vor Laras Haus beleuchtete und zunächst war es nur der Pimpf, der aus der Dunkelheit trat, dann noch einige weitere Pimpfe und Hitlerjungen, die sich zu dieser nächtlichen Aktion zusammengefunden hatten. Es waren Schreie, die Lara weckten, brutale, laute Schreie, hinter denen so viel Wut steckte. Das Schlafzimmer hatte keine Fenster und so konnte sie nicht sehen, was sich dort draußen abspielte, aber sie hörte jedes Wort durch die dünnen Wände.
„Schweinekind“, riefen sie dort draußen und Lara verstand, dass sie sie meinten, „Hurentochter“, riefen sie und wohl auch das galt ihr. Der Schreck hatte sie innerlich erstarren lassen, sie war allein, niemand da, der ihr helfen konnte. Sie zitterte am ganzen Körper. Jeden Moment würden sie gegen die Tür poltern und hineinstürmen und sie würden grausame Dinge tun. Dann ein lauter Schlag gegen die Wand, sie warfen Steine, dicke Steine, die töten konnten, wenn sie einen am Kopf trafen und Lara nahm das Kissen und presste es sich auf den Kopf, sie wollte fort, weg von diesem Ort und sie hatte Angst, furchtbare Angst.

Draußen aber stand der Pimpf und konnte trotz grimmiger Maske nicht das Lächeln verbergen, das sich in sein Gesicht gestohlen hatte. Es war nicht nur der Umstand, dass diese kleine Göre nun endliche eine Abreibung bekam, er fühlte sich stark und vielleicht zum ersten mal wirklich Teil dieser Gruppe, die ihn oft genug gehänselt hatte. „Judensau“, schrie er gegen die Hauswand, weil er trotz aller Indoktrination noch immer nicht begriffen hatte, was ein Jude war. Er war außer Atem, den ganzen Weg war er vorgerannt, hatte ihnen die Richtung gewiesen. In seiner Hand hielt er einen Stein, den er auf dem Hinweg am Wegesrand aufgelesen hatte, weit holte er aus, um ihn gegen das verhasste Haus zu schleudern, so wie es ihm der Gruppenführer beim Weitwurf gezeigt hatte, und dabei das Gleichgewicht zu halten. „Du hast einen guten Wurfarm“, hatte der Gruppenführer gesagt, der durch den Glanz der Veranstaltung gerührt, ein paar nette Worte für den mageren Jungen vor ihm gesucht hatte. Oft fühlte er seitdem heimlich nach seinen kleinen und harten Bizeps, später würde er Granaten auf die feindlichen Truppen werfen.
Dann warf er, so hart wie er konnte, der Stein nahm eine perfekte Flugbahn, flog und flog, schlug dann hart und dröhnend gegen die Wand, ungefähr dort, wo Lara ihren kleinen Kopf unter dem Kissen versteckte.

„Sollen wir rein und das Schweinchen abstechen?“, fragte eine Stimme auf der Straße, dann johlender Beifall, „das Schweinchen abstechen“, Jubelrufe und in diesem Moment begriff Lara, dass es ernst war, todernst, ernster als böse Träume, vielleicht sogar ernster als Finsterland. Sie sah es vor sich, wie sie hineinstürmen würden, Klingen in der Hand, die sie in ihr Bettchen stoßen würden, sie dachte, dass sie fort, sich verstecken musste, doch die lähmende Angst hielt sie fest. Ihr Herz schlug immer schneller, dröhnte im Kopf, sie musste etwas tun, weg wollte sie von diesem Ort und sie wünschte sich nach Finsterland, dachte an den kleinen Weg, dachte an den Zaun, doch es half nichts.
Immer noch lag sie in ihrem Bett und jetzt hörte sie das Klappern von Stiefeln, die sich näherten, anfeuernde Rufe, dann ein Poltern an der Tür, harte Schläge, dröhnendes Holz, das Schweinchen abstechen. Und Lara sprang auf, rannte in den kleinen Toilettenraum, den man mit einem Riegel von innen verschließen konnte, weinte, zitterte, dann barst die Tür und sie waren in Laras Haus, kamen polternd auf sie zu, gleich würden sie sie finden, abstechen und dann…

„Was glaubt ihr eigentlich, was ihr hier tut“, schrie auf einmal eine Stimme, die noch viel lauter und brutaler als die anderen Stimmen, die erwachsen war. Der Pimpf fuhr herum, verwirrt und erschrocken und nahm Haltung vor dem Dorfpolizisten an.
„Wer ist dafür verantwortlich?“
Der Pimpf wusste, dass Kameradschaft und Mut bei den Pimpfen sehr hoch angesehen waren und er hatte auch gehört, dass man immer wieder geprüft wurde und somit in jeder Situation des Lebens richtig handeln musste. Auch war er überzeugt, dass sie das Richtige taten, wenn sie den Feind in ihrer Mitte schwächten.
Er trat vor.
„Ich…“
Mit zwei schnellen Schritten war der Dorfpolizist bei ihm und schlug ihm ins Gesicht, so fest, dass er auf die Knie fiel und Tränen, für die er sich schämte, in seine Augen schossen.
„Hat euch jemand gesagt, dass ihr diese Göre verprügeln sollt?“
Der Pimpf traute sich nicht zu antworten.
„Ein Offizier von der SS macht extra wegen ihr einen Umweg auf seiner geplanten Route, um sie aufzulesen, mitzunehmen. Ich weiß nicht wofür, aber sie wird gebraucht, versteht ihr das, ihr dummen Blagen.“
Wütend trat er mit dem Stiefel nach dem Pimpf, der nicht wusste, ob er aufstehen durfte oder liegen bleiben sollte.
„Wenn nun der Herr von der SS hier eintrifft und den Grund seines Umweges nicht mehr vorfindet, oder nicht so vorfindet, wie er es erwartet hat, was meint ihr dummen Kinder, wen er dafür verantwortlich macht?“
Er griff nach dem Ohr des Pimpfs und zog ihn schmerzhaft nach oben.
Ganz nah zog er ihn an sein Gesicht.
„Dich merke ich mir“, sagte er und stieß ihn wieder zurück.
Lara hörte, wie sich seine polternden Stiefel entfernten und dann leiser und vorsichtiger die der Jungen, die nun nicht weiter auf sich aufmerksam machen wollten. Irgendwann war es dann wieder still in dem kleinen Haus, doch Lara blieb noch einige Stunden auf dem Boden sitzen, lauschte in die Dunkelheit und glaubte nicht, dass es vorbei war.

Als Lara am nächsten Morgen erwachte, erschien ihr die letzte Nacht wie ein böser Traum, der sich nicht wirklich fassen ließ. Sie lag in ihrem Bett, wie jeden Morgen, und erst nach und nach
kam die Erinnerung zurück. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie dort gesessen hatte, nur noch, dass jeder einzelne Moment furchtbar gewesen war. Was, wenn alles nur ein gemeiner Trick gewesen war, was wenn sie gar nicht gegangen waren. Sie lauschte in die Dunkelheit, doch da war nur ihr pochendes Herz. Was wenn sie alle dort draußen warteten, den Atem anhielten, um sich auf sie zu stürzen, wenn sie hinauskam. Mit der Angst war die Verzweiflung immer mehr gewachsen und wie immer in solchen Momenten hatte sie begonnen sich selbst die Schuld dafür zu geben. „Doof bist du, Lara“, hatte der Vater gesagt, weil sie nicht sprechen konnte, „doof, doof, doof“, hatte er geschrien, und einmal hatte die Mutter zu ihr gesagt, dass sie sich gewünscht hätte ein normales Kind zu haben. Wenn sie anders gewesen wäre als sie war, wären die Eltern wohl nicht verschwunden, hätten sie nicht alleine gelassen. Alles wäre anders gekommen, nichts so wie es jetzt war. Wie oft hatte sie versucht zu sprechen, doch es gelang einfach nicht, weil sie doof war, so wie es der Vater gesagt hatte. Der Pimpf hätte ihr nicht das Brot weggenommen und er wäre auch nicht in der Nacht wiedergekommen. Mit einem Mal war die Verzweiflung verschwunden und hatte etwas anderem Platz gemacht, Wut spürte sie, sengende Wut auf sich selbst, weil sie an allem schuld war. Sollten sie doch dort draußen warten, hatte sie gedacht und sie hatte sich gefreut, dass da jemand war, der sie bestrafen würde.
Ohne weiter zu zögern war sie aufgesprungen, hatte die Tür aufgestoßen und war nach draußen gerannt, die Augen geschlossen, das Schlimmste erwartend und begrüßend. „Stecht das Schweinchen ab“, hatte sie gedacht, „doch stoßt feste und tief, damit es auch sicher verblutet.“ Sie hatte auf die Stiche gewartet, die Tritte, die Beschimpfungen, doch es war still geblieben und als sie die Augen öffnete, war sie allein und die Sonne sandte ihre ersten Strahlen durch die aufgebrochene Tür. Alles war kaputt, das kleine Wandschränkchen mit den Porzellanfiguren, sogar den Wasserhahn hatten sie aus der Wand gerissen, schmutzige Stiefelabdrücke überall, doch die Eindringlinge waren verschwunden, einfach gegangen und hatten sie mit ihrer Schuld alleine gelassen. Eine Weile hatte sie die zertretenen Porzellanfigürchen betrachtet, die auf dem Boden lagen, auf die Knie war sie gegangen und hatte den Kopf von dem kleinen Keramikhasen aufgehoben.
Tränen waren ihr in die Augen gestiegen und dann hatte sie sich abgewandt, war in das Schlafzimmer gegangen und hatte sich auf das Bett fallen lassen.
Nun war sie wach, es war bereits später Mittag und hässliches Wetter hinter den trüben Scheiben. Der Kopf des Osterhasen lag auf dem Nachttisch.
Als sie sich erhob, schmerzte ihr Rücken und sie erinnerte sich, wie sie gekrümmt auf dem Boden gesessen hatte, ein blauer Fleck in ihrem Nacken, dort, wo das unterste Regalbrett in die Haut gedrückt hatte. Obwohl sie großen Hunger verspürte und auch der Bauch bereits weh tat, fühlte sie auch etwas anderes, das jeden dieser Gedanken verdrängte. Etwas passierte und sie kannte dieses Gefühl. „Finsterland ruft“, hatte sie einmal in einem solchen Moment gedacht und wenn sie ganz genau hinhörte, dann war da auch das leise aber dröhnende Geräusch der Maschinen, die gedämpften Schreie der Aufseher, tief in ihrem Kopf, und sie sprang auf, weil sie fliehen wollte, rannte, obwohl sie wusste, dass diese Stimmen in ihrem Kopf mitrannten. Dann war sie auf der Straße, draußen, spürte den kalten Wind nicht, rannte und rannte, so als könne sie fliehen. 
 
Dicke Lore

„Da bist du ja wieder“, sagte die dicke Lore und obwohl Lara noch niemals Freude in den kalten und gefühllosen Augen gesehen hatte, war da nun doch so etwas wie Zufriedenheit darüber, dass sie Lara nun bestrafen konnte. Ihre Uniform stand faltenlos wie eine Rüstung um ihren Körper und in ihren rauen Arbeiterhänden hielt sie einen Stock, mit dem sie dreimal auf den Boden klopfte.
„Wie heißt du?“, fragte die dicke Lore und musterte den kleinen dürren Körper voller Geringschätzung.
„Lara“, antwortete Lara und ihre Stimme war klein und fest, hing einen Moment in dem kleinen Raum mit der rostigen Tür, dann schlug die dicke Lore zu, blitzschnell und hart, niemals hätte Lara gedacht, dass sie sich so schnell bewegen konnte, legte ihr ganzes Gewicht in den Schlag
und hart und klatschend traf der Stock ihr kleines Gesäß, eine Explosion aus Schmerz, die um einen Moment verzögert in die restlichen Körperteile schoss. Sofort hatte sie Tränen in den Augen, dicke, klebrige Tränen, Angst, dass die böse Frau wieder zuschlug und zugleich die Gewissheit, dass sie es tun würde, wartete voller Angst auf den nächsten Schlag, keuchte.
„Faule Mädchen leben hier nicht lange“, sagte die dicke Lore wieder ganz ruhig.
„Merk dir das gut“, sagte sie sanfter, fast vertraulich und dann hieb sie wieder zu, wieder überraschend und mit aller Gewalt, unnachgiebiges hartes Holz auf zuckendes Fleisch.
Lara schrie vor Schmerz und Schrecken, dann wurde es für einen Moment schwarz vor ihren Augen, so heftig brannte es.
„Faules Miststück“, rief die dicke Lore, überlegte einen Moment und verzichtete dann darauf noch einmal zuzuschlagen. Die Botschaft war verstanden, jetzt musste sie nur noch in den Körper getrieben werden. Sie kannte andere Mittel, die den hübschen Stock schonten und mit ihrer kräftigen Hand griff sie Laras Oberarm, zog sie brutal zu sich, so nah, dass Laras Kopf ihre riesigen bedrohlichen Brüste berührte.
„Das tut jetzt weh“, sagte die dicke Lore, fast mütterlich die Stimme, und Lara spürte die Versuchung auf den guten Ton hinter den Worten zu vertrauen, doch die dicke Lore war böse und würde ihr noch schlimmer weh tun. Und eben, als sie dies dachte, grub die dicke Lore ihre Fingernägel in ihren Oberarm, kniff und packte zu, riss an der Haut und drehte, während Lara in den furchtbarsten Tönen schrie, ihre Stimme gegen die rostige Tür schleuderte.
„Ich weiß, wie weh das tut, ich weiß es selbst“, sagte die dicke Lore und drückte noch einmal, besonders heftig, zu, dann ließ sie plötzlich los und Lara sank wimmernd zu Boden.
„Ich könnte dir jetzt deinen kleinen dummen Kopf zerstampfen“, sagte die dicke Lore, die nicht einmal ein bisschen außer Atem schien und den Stock wieder in die Hand genommen hatte,
„aber du sollst arbeiten, arbeite, kleine Lara, sonst werde ich dir die Finger ausreißen.“
Dann wandte sie sich ab und ging durch die rostige Metalltür nach draußen.


Dorfschullehrer

Der Dorfschullehrer dachte gerade, dass die gesamte neuzeitliche Philosophie auf einer Lüge aufgebaut war, als er das kleine Mädchen durch die rußigen Scheiben des Klassenzimmers entdeckte, das zugleich auch sein Arbeitszimmer, direkt neben der kargen Schlafkammer, war.
„Rußige Scheiben und ein kleines Mädchen“, dachte er und dann, dass dies ein lyrischer, ein künstlerischer Gedanke war. Er betrachtete sie genauer, kniff die Augen zusammen und kompensierte damit eine sich ausbreitende Erkrankung der Netzhaut, die ihn – so der Doktor – in wenigen Jahren wohl vollständig erblinden lassen würde. Irgendetwas war an ihr seltsam und dann fiel ihm auf, dass sie sich keinen Zentimeter bewegt hatte, während er sie betrachtete.
Das war etwas, was nicht zu ihrer Größe passte, er kannte Kinder, kannte Dorfkinder, die allesamt gierig nach Bewegung und sinnloser Energieverschwendung waren. Immer rannten sie, wo sie hätten gehen können, schrien, wo einfache Worte gereicht hätten. Alles an ihnen war unruhig, wenn sie nicht ihre Lieder sangen oder exerzierten oder Steine durch das Fenster des Juden schleuderten. Er hatte seine eigene Theorie zu dieser verlorenen Generation missratener Menschlichkeit entwickelt, die darauf hinauslief, dass der Bewegungsapparat dieser kindlichen Geschöpfe sich immer schneller entwickelte, während das Gehirn zu schrumpfen begann. Diese Dorfkinder, die er mit der gleichen Intensität wie das Dorf und die Zeit hasste, hatten ihn auf die Idee eines Zenits der Evolution gebracht, der soeben überschritten die Menschheit zurück zu den Affen führen würde, bis alle wieder Schimpansen waren und einen neuen Anlauf unternehmen konnten. Alles bildete Kreise, die Menschheit bildete einen Kreis, er musste diesen Gedanken notieren, doch dieses Mädchen stand dort draußen ungeachtet seiner durchdachten Theorie, ihr Bewegungsapparat trieb sie nicht hüpfend, singend und den Körper verachtend kreuz und quer durch die Gassen, sie schrie nicht, spuckte nicht, behielt die kleinen Eruptionen ihres degenerierten Intellekts für sich. Abgerissen waren ihre Kleider, doch alle Dorfkinder sahen verlumpt aus, der Schmutz von der Arbeit auf den Feldern und die elterliche Nachlässigkeit fielen niemandem auf, weil sie alle schmutzig waren, doch dieses Mädchen trug nicht einmal Schuhe, dabei war es draußen kalt, selbst drinnen neben dem Ofen war es kalt. Er klopfte gegen das dünne Fenster, mehr aus dem Drang heraus die Ordnung auf der Straße wiederherzustellen als aus wirklichem Interesse, erst leicht, dann energischer, bis ihn das Ächzen der so dünnen und zerbrechlichen Scheibe innehalten ließ. Dann warf er sich den Mantel über und trat hinaus. Verächtlich streifte sein Blick über die ewig geschmückten Fassaden, in den nationalsozialistischen Farben, gefärbte Bettlaken, in denen die Dorfbewohner nachts schliefen, ständig bereiteten sie irgendeine Parade vor, marschieren, das konnten sie alle, einreihen konnten sie sich und mit den Anderen im Takt ihre Stiefel auf das Pflaster schlagen.
Das kleine Mädchen aber, immer noch stand es da, nahm kein bisschen Haltung an, kein Kind aus seiner Klasse, den Kopf fast unnatürlich überbogen nach unten gesenkt, wie ein krummer Stock, den jemand in den Boden gerammt und dann vergessen hatte.
„Was soll denn das?“, fragte er, doch sie antwortete nicht, diese freche Göre, so als wäre sie tot und mit den Füßen auf dem frostigen Boden festgefroren, vielleicht war dem wirklich so.
Vorsichtig senkte er selbst den Kopf, zögerte einen Moment, dann ging er langsam in die Hocke, um in das kleine Gesicht zu blicken.


Schlingerkurs

„Ihre Eltern sind nicht tragisch verstorben, wie es der Pfarrer in seiner Rede gesagt hat, sie sind geflüchtet, das weißt du genau, nicht vor den Nationalsozialisten, nicht vor den Kommunisten, sie sind vor Lara geflüchtet, also erzähl mir doch nicht immer und immer wieder diese Geschichte, wenn wir über sie sprechen.“
„Sie sind tot“, sagte er „und jeder Tod ist tragisch. Ich begreife nur nicht, warum wir wieder und wieder über dieses behinderte Kind, diesen entarteten Geist reden müssen. Wäre sie damals mit ihren Eltern gefahren, wäre sie auch tot und so hatte sie ein bisschen mehr von ihrem behinderten Leben, ob es jetzt unwert, unwürdig oder was auch immer war. Sie hat ein wenig länger dumm und sinnlos in die Gegend gestarrt, was sieht sie denn, sie grinst ja nur, sie würde noch ihrem Schlächter ins Gesicht grinsen.“
„Genau das tut sie“, sagte sie, „sie grinst ihrem Schlächter ins Gesicht. Wir alle sind ihre Schlächter. Ich habe sie auf der Straße gesehen, ganz zerlumpt mit einem Kanten Brot, wie ein Tier, das ein Stück Wild geschlagen hat.“
„Aber was, gottverdammt noch mal, was hat das mit uns zu tun, mit dir, mit mir?“
Er hob die Stimme, sprach nun lauter, brutaler, es war jetzt egal, was er sagte, der Tonfall war wichtig, sie musste in ihre Grenzen zurückgewiesen werden, musste ihre Grenzen beachten.
„Sie ist fremd, sie gehört nicht hierher, hat noch nie hierher gehört, sie interessiert mich nicht!“
Sie ahnte die Eskalation, viel zu spät, obwohl sie ihn so gut kannte, sie spürte, dass etwas in der Luft lag und sie dachte an Joseph. Wahrscheinlich lag er im Bett und schlief, aber vielleicht kauerte er auch auf dem Treppenabsatz, auf dem sie ihn zuletzt ertappt hatte, den Kopf auf die Dielenbretter gedrückt, so dass er durch einen schmalen Schlitz die Wohnküche übersehen konnte, einlenken, sie musste einlenken und hoffte, dass es noch nicht zu spät war. Warum machte sie sich eigentlich Sorgen um dieses fremde Kind, es gab Schlimmeres, viel Schlimmeres, er durfte sich nicht in seiner Männlichkeit verletzt fühlen, es musste ein demütiger Rückzug sein und sie hasste sie, diese Demut. Sie durfte widersprechen, aber der Gedanke ihn zu überzeugen war grotesk, wahnwitzig. Sie durfte widersprechen, aber sie musste rechtzeitig einlenken, bevor das Boot auf einen Schlingerkurs kam und womöglich außer Kontrolle geriet.
„Du hast ja recht“, sagte sie, doch sie sagte es zu leichtfertig, vielleicht mit einer Spur zuviel Trotz, weil sie es so oft gesagt hatte, „du hast ja recht“, noch einmal mit viel mehr Ernst und dabei Schrecken, doch es war zu spät, sie spürte es, das Boot war auf einem Schlingerkurs.
„Machst du dich etwa über mich lustig?“,
fragte er und sie wusste keine Antwort.



Dorfschullehrer nimmt Lara auf

„Gefrorenes Grauen“, dachte der Dorfschullehrer, als er in Laras Gesicht blickte und so sehr erschrak, dass er fast nach hinten auf den Boden gefallen wäre. Das Leben hielt Bilder für den Menschen bereit, die sich nicht vergessen ließen, die bis an das Lebensende im Gedächtnis herumspukten und das Schlimmste war, dass sich nie voraussagen ließ, wann man einem solchen Bild begegnete. Gefrorenes Grauen. Er war wie erstarrt und obwohl er sich in diesem Moment nicht bewegen, nicht atmen konnte, die Luft in der Lunge dünn wurde, rasten seine Gedanken, hetzten von einem Winkel des erschrockenen Gehirns zum nächsten, verloren kam er sich vor. So musste sich Odysseus gefühlt haben, als die ersten Klänge der Sirenen an sein Ohr drangen. Wachs, dachte der Lehrer, doch auch dieser Gedanke ließ sich nicht fassen, lief ins Leere, da war nur dieses Gesicht, das sich nicht einordnen ließ, das alles sprengte, was er bislang gesehen hatte. Ein Kindergesicht, dessen Alter sich nicht schätzen ließ, erschrockene Augen und ein aufgerissener Mund, Zähne und zugleich das sichere Gefühl, dass dies alles nur ein Symbol war und für etwas anderes stand, das sich nicht in Worte fassen ließ. Wie schwer war es, diesem Blick standzuhalten, der Kopf schmerzte und dann fiel er tatsächlich, plumpste dumpf auf das Gesäß und lag einige Momente einfach da, blickte in den Himmel und zu den Zugvögeln, die vor dem nahenden Winter flüchteten. Dann fand er die Kraft sich aufzustützen, der Bann war gebrochen. Was mochten die anderen denken, wenn sie ihn so sahen. Gehetzte Blicke über die Straße, doch sie waren allein, er und das Mädchen, die Sphinx, der er in die toten Augen geblickt hatte. Immer noch stand sie dort, immer noch regungslos. Endlich konnte er atmen und erhob sich.
Von oben betrachtet war es wieder nur ein kleines Mädchen, das den Kopf gesenkt hielt, wie um ihn vor dem kalten Wind zu schützen. Doch er wusste, dass es keine Einbildung gewesen war, spürte den Atemhauch des Schicksals, der sie umwehte, Schicksal, an das er nie geglaubt hatte. Immer hatte er es geleugnet, dieses Schicksal, das manchem Zeitgenossen nach der Machtergreifung so leichtfertig über die Lippen gesprungen war, Schicksal, Vorsehung, Auserwähltheit. Für ihn waren das immer Begriffe gewesen, mit denen sich die Menschen vor dem Wahnsinn des Zufalls zu verstecken suchten, Religion war so eine Idee, ebenso wie der Nationalsozialismus. Belustigt hatte ihn das Morgengebet der Schüler, sein Wille geschehe, ob Führer oder Gott, die Verlagerung von Verantwortung. All dies, seine Prägung, sein scharfer, manchmal schneidender Verstand liefen ins Leere, denn in diesem Moment spürte er das Schicksal und er wusste, dass er sich entscheiden musste und dass es gleichzeitig keine Entscheidung war. Wieder wanderte sein Blick über die leere Straße. Er dachte, dass er dem Mädchen helfen musste und dann dachte er, dass er dabei sterben würde.
Vorsichtig griff er nach ihrem Körper, nur nicht in das kleine Gesicht blicken, kalt fühlte sie sich an, als er sie auf seine Schulter hob. Fast mechanisch trug er sie zu sich ins Haus und erst als er die Tür hinter sich zuzog, bemerkte er, dass er weinte.     


Reisebus

Am späten Vormittag hielt ein alter Reisebus vor dem kleinen Haus, in dem Lara wohnte. Es war ein schönes Gefährt, groß, rot und blankpoliert und jemand hatte zudem eine Sonne auf die rechte Seite gemalt, jener Seite, die vor Laras Tür zum Halten kam. Durch die Fenster konnte man sehen, dass der Busfahrer auf seiner Route bereits viele Kinder eingesammelt hatte. Alles musste so effizient wie möglich durchgeführt werden und so hatten ihm die Begleitfahrer aus dem Gestapowagen eine Landkarte mit einer roten Linie gegeben, der er folgte und Kind um Kind einsammelte. Jedes Mal, wenn er vor einem der betreffenden Häuser hielt, hoffte er innerlich, dass die Bewohner geflüchtet und ihr armes unschuldiges Kind mit sich genommen hatten, doch zumeist waren es die Eltern selbst, die verschämt hinaus auf die Straße traten und ihren Nachwuchs in den Bus verabschiedeten. Nahezu allen Kindern waren Lügen erzählt worden, denn sie tobten fröhlich durch die schmalen Gänge, unterhielten sich angeregt, genossen diese unverhoffte Reise mit Gleichaltrigen, nur manche sahen verträumt durch die Fensterscheiben hinaus und es waren jene, die den Abschied als endgültigen begriffen hatten. Jedes Kreuz auf der Karte war bisher ein Kind gewesen, manchmal auch Geschwister, die auf die verschiedensten Arten den gängigen Normen der Gesellschaft nicht entsprachen. Manche waren wirklich sehr stark beeinträchtigt, konnten nicht hören, waren blind oder hatten hässliche Deformationen an ihren geschundenen Kinderkörpern, anderen sah man nicht an, was sie auf jene Liste gebracht hatte, nach der die Kreuze in der Karte des Busfahrers gezeichnet worden waren, akkurat gezeichnet, denn wirklich glich ein Kreuz dem anderen, so als wäre eine Schablone verwendet worden. 
Der Begleitwagen hatte ein Stück weit abseits gehalten.


Rottenführer, SS-Offizier

„Es ist schon eine Schande. Manchen ist die Blödheit ins Gesicht geschrieben, aber aus dem einen oder anderen wäre vielleicht doch ein hübscher Soldat geworden. Ich hasse Verschwendung“, sagte der Rottenführer, dem das Schweigen unangenehm geworden war.
Der SS-Offizier spuckte auf den Boden und er tat es mit Geringschätzung.
„So weit müsste es kommen. Ein entarteter Geist in einer deutschen Uniform. Überlegen Sie mal, was Sie da sagen. Wo ist denn in diesen Gesichtern auch nur der kleinste Funke von Treue, Pflicht und Vaterland.“
„Selbst schwache Arme können eine Waffe halten und selbst ein stumpfer Geist kann einen Abzug durchreißen. Ressourcen, mein lieber Albert, Ressourcen muss man zu nutzen verstehen.
Warum unser Gas verschwenden, wenn wir sie gegen die Gegner nutzen können und es gibt derer viele. Meinen Sie, ein behindertes deutsches Kind schießt nicht besser als ein unterernährter Russe oder ein vollgefressener Franzose?“
Lachend klopft er an die Tür und seine kameradschaftliche Stimme wurde von einer Sekunde auf die andere kalt, offiziell, brutal.
„Lara“, schrie er ihren Namen.
„Öffne die Tür!“
„Hat sie keine Eltern? Sie kann doch nicht allein wohnen?“
„Eltern verstorben, steht hier.“
„Werden wir wohl die Tür aufbrechen müssen.“
„Zeitvergeudung, ich hasse Verschwendung und das Holz, deutsche Eiche, eine schön gearbeitete Tür, noch Wertarbeit.“
Beide zögerten einen Moment, dann strich der SS-Offizier mit dem Finger über kleine Verzierungen im Holz. Die Tür sprang auf, wich zurück.
„War wohl schon jemand da.“
Derweil hatten sich die Kinder im Bus hinter dem Fenster versammelt, blickten hinaus, wer wohl die Neue sein würde und bewunderten die Uniformen und die blinkenden Knöpfe in der Sonne.
„Nach Ihnen“, sagte der SS-Offizier, dem ein kultiviertes und gepflegtes Miteinander immer besonders wichtig war und „sehr freundlich von Ihnen“ entgegnete der Rottenführer. Dann traten sie ein.
Ein böser Geruch schlug ihnen entgegen, verdorbene Lebensmittel und Kot, der saure Geruch von Urin, die gesamte Einrichtung zertrümmert.
„Sauerei“, brüllte der SS-Offizier, „hier riecht’s ja wie im KZ.“
Beide standen eine Weile ratlos auf den vollgesogenen Bohlenbrettern, beide hielten sie eine ganze Zeit die Luft an, ließen ihre Blicke über die kargen Habseligkeiten gleiten.
„Nicht einmal ein Fenster zum Lüften“, presste der SS-Offizier hervor und trat wieder einen Schritt zurück, der Raum war verlassen, leer, niemand da, den man in den Bus stecken konnte.
„Diese kleine Göre ist abgehauen“, sagte er im Flur, wo sich die verdorbene Luft mit einer kalten Brise von der Straße mischte.
„Wir müssen Nachricht an die Zentrale geben.“
„Haben wir noch Zeit diesen Doktor aufzusuchen, der sie gemeldet hat? Vielleicht weiß er was und zumindest soll er uns erklären, warum wir den weiten Weg umsonst gemacht haben. Ein kleines dummes Mädchen, wie viel Liter deutsches Benzin hat uns dieser Bogen gekostet, ich war von Anfang an dagegen.“
„Etwa 30 Minuten.“
„Dann werden wir mit dem Kerl sprechen.“



SS-Offizier beschließt zu bleiben

Der SS-Offizier stand vor der offenen Bustür und dachte nach. Seine Stirn lag in Falten und wie immer, wenn er mit der Situation unzufrieden war und aus der Unzufriedenheit langsam Zorn wurde, atmete er gepresst durch die Nase, wobei ein kleines Pfeifen entstand, das unter anderen Umständen vielleicht lustig gewirkt hätte. Er hasste solche Situationen, wenn ein detaillierter Plan von der Wirklichkeit über den Haufen geworfen wurde. Er hasste Unzuverlässigkeit und überall schlug sie ihm entgegen. Wenn jeder so wie er seine Pflicht erfüllt hätte, wäre der Sieg der deutschen Rasse über all das sonstige schwache europäische Blut längst Wirklichkeit gewesen. 38 Kreuze waren auf seiner Karte und jedes Kreuz stand für einen Auftrag, eine Aufgabe, einen Befehl. Wenn er nun in diesen Bus stieg und die Verfolgung des Kindes einem dilettantischen Dorfpolizisten überließ – denn alle Dorfpolizisten waren Dilettanten –, würde sie vielleicht überleben und das ärgerte ihn, nicht wegen diesem kleinen Leben, allein, weil er seine Aufgaben immer zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt hatte. Er blickte hinüber zum Busfahrer, der im kalten Zug der offenen Tür fror, aber sich nicht traute darauf aufmerksam zu machen. Ein Feigling war der, kein Herrenmensch, gerade gut genug, um diesen traurigen Bus zu steuern. Konnte er ihm die alleinige Aufsicht über den Bus und seinen Inhalt überlassen?
Er fluchte in den Wind.
Wie er es auch machte, war es falsch und so galt es herauszufinden, was das kleinere Übel war. „Analytisch denken“, hatte der preußische Lehrer damals in der Schule gesagt. „Strategisch denken.“
Auch der Arzt war ein Feigling gewesen und um ganz sicher zu gehen, dass dieser die Wahrheit sagte, hatte er ihm die Pistole eine Weile unter die Nase gehalten, hatte ihn geohrfeigt, bis er geweint hatte wie ein kleines Mädchen.
„Jemand versteckt sie, jemand muss sie versteckt haben“, hatte der Doktor gesagt und sein Gesicht war ganz fahl und voller Schweiß gewesen.
„Alleine wäre sie nie geflohen“ und
„Ich war immer ein treuer Nationalsozialist“ und
„Heil Hitler“.
Er hatte ihm einen Tritt mit dem Stiefel gegeben, wohlplatziert und hart, in den Unterleib, aber er hatte ihm geglaubt. Niemals hätte der Doktor gewagt ihn zu belügen, selbst wenn er ihn nach der Fotze seiner Frau gefragt hätte.
„Strategisch denken.“
Es ging nicht nur um eine Leiche mehr oder weniger, der Ofen würde schon nicht abkühlen, es ging um einen Vaterlandsverräter, einen Widerständler, der sich irgendwo hinter einer der gedrungenen Häuserwände versteckte.
Er spuckte auf den Boden.
Widerständler hasste er noch mehr als er Feiglinge hasste, all diese linken Verschwörer und ihre zionistischen Kumpane, die frech und dreist und erbärmlich ihre Löcher in das stolze Staatsschiff bohrten, Würmer waren sie und das Schlimmste war, dass sie sich ausbreiteten und vermehrten, wenn man sie nicht schnell und entschlossen genug zertrat. Ungeziefer waren sie, die gerade in Momenten, wo man als Volk zusammenstehen musste, ihre Dolche in die Rücken der braven Nachbarn stießen. Wenn er nun gehen würde, dann wäre das wie ein Sieg dieses Verräters und die anderen Dorfbewohner würden glauben, dass man ungestraft das Gesetz brechen und den Führer verraten durfte.
Er würde ein Exempel statuieren müssen.
„Wir bleiben“, sagte er ganz ruhig zu dem Rottenführer, der dies erwartet hatte und sich bereits abwandte, um eine geeignete Wohnung zu requirieren.



Busfahrer fährt

Der Busfahrer blickte über das Lenkrad auf die Straße und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass es in seiner Macht lag, all diese kleinen Mädchen vor dem sicheren Tod zu retten. Im Bus war es still geworden, viele von ihnen schliefen.
„An dieser Stelle“, hatte der SS-Offizier gesagt und mit seinem Finger auf das nächste Kreuz auf der Karte gewiesen, „dort wird ein Gestapowagen warten, der die weitere Eskorte übernehmen wird. Alles verläuft weiter nach Plan. Sie werden jetzt diese Tür schließen und erst dann wieder öffnen, wenn sie dieses Ziel erreicht haben. Keine Ausnahmen“. Der Befehl war eindeutig gewesen und er hatte bereits den Schlüssel in die Zündung gesteckt, als der SS-Offizier doch noch einmal in den Bus und mit dem Gesicht ganz nah an sein eigenes gekommen war.
„Halten Sie unter gar keinen Umständen den Bus an“, hatte er geflüstert und sein Atem hatte nach Pfefferminz gerochen, „egal was passiert.“
Er hatte ihm seinen eisigen Blick in die Augen gebohrt, solange bis es wehgetan hatte und der Busfahrer wegschauen musste, Angst hatte er gehabt.
„Ich werde Sie persönlich bestrafen“, hatte der Mann geflüstert und sich dann abgewandt, zum Abschied gegen die Tür geklopft, die er rasch, fast panisch, geschlossen hatte. Noch immer saß ihm der Schock im Nacken, dieser Blick, der alles wusste, und obwohl der Motor längst lief und das Dorf weit in ihrem Rücken lag, zitterten seine Hände, sobald er sie vom Lenkrad nahm. „Persönlich bestrafen“, hatte der SS-Offizier gesagt und er glaubte ihm.
Doch was war mit den Kindern?
Immer wieder wanderte sein Blick in den Rückspiegel, den er so eingestellt hatte, dass er den Bus überblicken konnte. So viele kleine bleiche Gesichter, teils am Fenster, teils aufeinander gestützt, müde, erschöpft, ahnungslos. „Ein Gespensterbus“, dachte er und aus jedem der kleinen Gesichter glaubte er den Vorwurf lesen zu können, dass er es war, der sie in den Tod fuhr. Doch was sollte er auch tun? Da war zunächst wirklich dieser strahlende und unsinnige Einfall gewesen einfach mit ihnen zu fliehen, fortzufahren, doch wohin. Deutschland war überall und es wuchs und wuchs, überschwemmte Europa, irgendwann wohl die Welt. Kein sicherer Ort, der sich erreichen ließ, und der Tank war nur noch halbvoll. Es gab keine Rettung für die Kinder, nur sich selbst konnte er retten, wenn er die Befehle befolgte, nicht dauernd nachdachte, zweifelte. Dann: ein anderer Gedanke. Einfach den Bus stoppen, die Kinder wild schreiend und zu ihrem Besten in die Wälder treiben. Viele würden dort verhungern, doch was, wenn nur ein einziges von ihnen überlebte, vielleicht das kleine Mädchen aus der dritten Reihe, die mit so traurigen Augen aus dem Fenster blickte.
„Persönlich bestrafen“, dachte der Busfahrer, dann an die kalten Augen des SS-Offiziers und während er dachte und grübelte, fuhr er auf das Kreuz zu, auf das der SS-Offizier gezeigt hatte, fuhr und fuhr, bis er irgendwann vor dem nächsten Haus hielt, ein Stück weit hinter dem Gestapowagen, der schon eine ganze Weile auf ihn gewartet hatte.   
 

Väterliche Gefühle

Der Moment, in dem der Dorfschullehrer vom vorsichtigen Kritiker des tumben NS-Regimes zum aktiven Widerständler wurde, war ein seltsamer und unvorbereiteter Moment. Er hatte sich über sich selbst gewundert, dass er das fremde Mädchen so bereitwillig in seiner Stube aufgenommen hatte; dass er nun für sie log und damit letztendlich den Tod riskierte, war eine Handlung, die ihn noch eine ganze Weile beschäftigte. Es war auch mehr Unwille als entschlossenes Handeln, mehr Geringschätzung als Idealismus gewesen. Selbst Kant hätte das Mädchen verraten.
„Wir suchen ein entstelltes Kind“, hatte der SS-Offizier gesagt, nicht gegrüßt, nicht die späte Störung entschuldigt, herrisch und selbstbewusst hatte er mit seiner Faust gegen die Tür geschlagen. „Haben Sie etwas gesehen?“
„Du blonde Bestie“, hatte der Dorfschullehrer voller Verachtung gedacht, keine Kultur, keine Manieren; „die Masse hasst, was nicht ist wie sie“, hatte Ortega y Gasset geschrieben. Niemals hätte er diesem Barbaren in Uniform zu einem neuen Orden verholfen, niemals auch nur ansatzweise dessen Bestrebungen unterstützt, „ich habe nichts gesehen“, hatte er gesagt, während Lara in der Küche die Suppe geschlürft hatte.
Misstrauisch wie ein wilder Eber, dem man unvorbereitet auf einem Waldspaziergang begegnete, prüfte ihn der SS-Offizier mit seinen kleinen kalten Augen, dann war er gegangen. Er selbst hatte noch einige Momente an der Tür gestanden und dem dunklen Wagen nachgeblickt, der in einem akkuraten Bogen auf dem Schulhof wendete und auf die Straße schoss, irgendwann sah man nur noch kleine Lichter. Seine Knie wurden auf einmal ganz weich. Was, wenn der andere um Einlass gebeten hätte, was, wenn er das Kind entdeckt hätte. Es war etwas anderes mit den Schülern ein Gedicht von Erich Kästner zu lesen, obwohl der verboten war, als aktiv die Staatsmacht herauszufordern, indem man ihre Feinde versteckte. Ihre Feinde. Er trat hinüber in die Küche und setzte sich zu dem kleinen Mädchen.
„Ist wohl gerade noch mal gut gegangen“, sagte er, doch sie antwortete nicht, lächelte nur einfältig, so als würde sie nicht begreifen, was soeben geschehen war, löffelte ihre Suppe, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, scheinbar auf dem geistigen Stand einer Dreijährigen und sie stank, ungewaschen wie sie war. Seufzend setzte er den großen Kessel auf die Herdplatte.
„Wie alt bist du“, fragte er über die Schulter zurück und Lara öffnete einmal beide Hände und verbarg dabei den kleinen Finger.
„Neun Jahre bist du alt?“, und dann, um sicherzugehen:
„Und wie alt warst du vor sechs Jahren?“
Drei Finger schossen in die Höhe. Lara mochte Zahlenrätsel, mit denen die Erwachsenen ihre Intelligenz prüfen wollten.
„Interessant“, sagte der Dorfschullehrer, doch er sagte es anders, als es der Doktor gesagt hatte.
„Kannst du schreiben?“, fragte er und zog einen Papierbogen aus einer Ablage hervor, „schreiben, weißt du, wie das geht?“
Lara wusste, dass die vielen verschiedenen Symbole, die sich die Menschen gegenseitig auf Papiere zeichneten, irgendeine Bedeutung haben mussten, doch es war ihr nie gelungen diese Symbole zu verstehen, da sie in immer wieder anderen Kombinationen zusammengesetzt waren, die jeder Voraussage oder Wahrscheinlichkeit widersprachen. Manchmal tauchte das gleiche Symbol sogar zweimal hintereinander auf. Sie schüttelte den Kopf und griff dennoch nach dem Bleistift, den er ihr hinhielt. Sie hatte noch nie eines dieser Papiere bemalt, aber manchmal hatte sie mit einem Stock Figuren in die Kaminasche gezeichnet. Lara zeichnete einen Kreis.
„Eine gute Federführung“, sagte der Dorfschullehrer.
Lara zeichnete ein Quadrat.
„Bemerkenswert.“
Lara zeichnete ein Hakenkreuz und sah ihn ernst an, zumindest kam es ihm so vor. Wenn man nicht in das Gesicht, sondern nur in die Augen blickte, dann wirkten sie traurig und sie waren so tief, man konnte sich in ihnen verlieren.
„Wo kommst du her?“, fragte er sie und sie malte ein kleines Haus, energische Striche, überhaupt nicht verspielt, ein Haus mit vier Fenstern, einer kleinen Tür und einem Schornstein.
„Wer sind deine Eltern?“
Sie malte grinsend und doch traurig zwei Grabhügel vor das Haus, die sie mit zwei Kreuzen versah, dann, nach einigem Zögern malte sie einen dritten kleineren Hügel und versah ihn mit einem kleinen Kreuz.
„Hast du Verwandte?“, sie schüttelte den Kopf, „Freunde“, fragte er und sie malte einen kleinen Jungen, ganz klein, oben in die rechte Ecke des Bildes, dorthin, wo die Dorfkinder sonst ihre alberne Sonne zeichneten, klein und verloren, so als wäre er weit weg und einsam.
Dann kochte das Wasser und er trug es hinüber zu dem Waschtrog, wo er es mit kälterem Wasser mischte.
„Sauber machen“, er rieb sich mit den Händen über den Körper, dann fiel ihm ein, dass sie ja verstand, was er sagte.

Die nächsten Wochen waren eine Zeit der Erholung für Lara und auch der Dorfschullehrer erholte sich, indem er den Grund seiner Erschöpfung überhaupt erst entdeckte. Er war einsam gewesen, so schlicht und einfach war die Erkenntnis, einsam, so wie Schopenhauer einsam gewesen war. Er hatte nie besonders viel von den Menschen gehalten, doch dieses kleine Mädchen strahlte etwas aus, das ihn freier atmen ließ, eine Art innerer Ausgeglichenheit, die scheinbar auch die großen Schläge des Lebens nicht zerschmettern konnten. Die anderen Menschen plapperten unentwegt, plapperten einander nach, dann überschrieen sie sich mit ihren Meinungen, immer mit diesem selbstherrlichen Gefühl, an der Spitze der Evolution zu stehen und dem Ungeahnten, dem Neuen, ihre Fahne entgegenzutragen, sie besaßen keine Demut, sprachen neuerdings vom „Tausendjährigen Reich“, ohne auch nur zu ahnen, was tausend Jahre für den Menschen bedeuteten. Das Mädchen war ganz anders, besaß die Demut, die den Anderen fehlte. Sie füllte eine Leere, die er nicht gekannt hatte, und ihre Art der Sprachlosigkeit reichte vollkommen aus, um seine minimalen Gesprächsbedürfnisse zu befriedigen. Recht schnell kam ihm der Einfall ihr das Schreiben beizubringen und sie war die gelehrigste und fleißigste Schülerin, die sich ein Dorfschullehrer wünschen konnte. Manchmal wenn er vormittags seinen Blick über die verdorbene unausgegorene Dorfjugend schweifen ließ, dann musste er an sie denken, wie sie mit ihrem Kopf zwischen den Bücherstapeln verschwand, und ein Lächeln stahl sich auf sein ernstes Gesicht. Voller Begeisterung sog sie die Buchstaben und die Regeln ihrer Verwendung in sich auf, geschriebene Worte übten eine unglaubliche Faszination auf sie aus und er dachte sich, dass dieses Kind jedes andere bei weitem überflügelt hätte, wenn es nur früh genug gefördert worden wäre. Nachts wenn er sich zur Ruhe begab, las sie noch im Kerzenschein, suchte das Bekannte zwischen den fremden Zeichen und stieß immer wieder einen kleinen, glucksenden Laut der Freude aus, wenn sie ein Wort fand, dessen Bedeutung sie kannte.

Die Fähigkeit zu schreiben war ein unglaublicher, ungeahnter Schatz für Lara, den sie gar nicht schnell genug einsammeln und verstehen konnte. Geschriebene Sprache war wie eine Brücke, denn sie bot einen Weg, all die gedachten Wörter in eine Form zu bringen, welche die anderen Menschen verstehen konnten, und zugleich war es das größte und geheimnisvollste aller Rätsel, denen sie sich je gestellt hatte. Die Erkenntnis, dass die Symbole Lauten entsprachen, die man zu einer Bedeutung zusammensetzen konnte, gab ihr die Möglichkeit zunächst recht ungeschickt, dann Tag um Tag routinierter und exakter Wörter aufzuschreiben, die sie bereits kannte. Irgendwann begann sie Sätze zu bilden. „Das Essen ist fertig“, war ihr erster vollständiger Satz, den der Dorfschullehrer mit einigem Stolz eines Nachmittags auf dem Esstisch vorfand. Sogar den Artikel hatte sie richtig verwendet. Ein wenig fühlte er sich so, wie er sich das Vatersein immer vorgestellt hatte, der wärmende Gedanke, dass etwas blieb, wenn man selbst nur noch Knochen und Verwesung war.

Es gab strenge Regeln, nach denen der Alltag funktionierte, und Lara begriff schnell, dass es darauf hinauslief, dass keiner der anderen Dorfbewohner sie entdecken durfte. Irgendwie waren all die vertrauten Gesichter zu Feinden geworden, so hatte es der Lehrer erklärt und alles hatte irgendwie mit diesem Hakenkreuz zu tun, dem sie sich alle nun verpflichtet fühlten. Das erste Mal hatte sie es bei dem Vater von Joseph gesehen, der bestimmt ein guter Vater war, aber vor dem sie Angst hatte. Joseph hatte von seinen gefährlichen großen Händen erzählt und das neue Symbol hatte sie so direkt irgendwie mit Gewalt verbunden. Irgendwie war es dann auf die anderen Menschen übergesprungen, alle hatten auf einmal dieses Symbol gehabt und hatten es sogar begrüßt, wenn sie unter ihm hindurchmarschierten. Mit Ruß hatten manche es auf ihre Bettlaken gezeichnet und den Stoff mit dem Blut von Schweinen gefärbt. All das hatte dazu geführt, dass die Menschen nun böse auf sie waren, böse, weil sie anders war, vielleicht auch, weil sie als einzige nicht begriff, was es mit diesem Kreuz auf sich hatte, das so ähnlich war wie das Kreuz in der Kirche, aber bei dem die Enden verbogen waren. Der Dorfschullehrer war der Einzige, der kein solches Kreuz hatte und sie ahnte, dass die anderen auch dies nicht wissen durften.
Wenn der Dorfschullehrer morgens den Wohnraum verließ und hinüber in das Klassenzimmer ging, das sich bald mit lärmenden Kindern füllte, musste sie ganz leise sein, das war die oberste Regel und sie durfte unter keinen Umständen den Raum verlassen. Wenn es von außen an die Tür klopfte, versteckte sie sich unter dem Bett und hielt den Atem an, so lange, wie sie nur konnte.
All dies ging eine ganze Weile lang gut und vielleicht wäre es bis zum Ende des Krieges, von dem man nun täglich in den Zeitungen las, gutgegangen, wenn Lara sich an die Regeln gehalten hätte.         

Joseph

Joseph saß auf dem Treppenabsatz und spürte, wie die Stimmung gefährlich wurde. Sein Vater bekam diese böse Stimme, die so tief und unheimlich klang, gnadenlos, so als wären sie gar keine Familie, sondern Feinde, die keine Schonung verdienten.  „Weil du deine verdammte Nase andauernd in anderleuts Angelegenheiten stecken musst, diese verfluchte Neugier.“
Joseph wusste, was jetzt passieren würde, sein Vater würde lauter und lauter schreien, schließlich den Tisch beiseite stoßen und aufspringen, immer sprang er auf und meistens fiel dabei etwas hin, irgendetwas klirrte immer und dann konnte man bis zum Treppenabsatz hinauf seinen schweren Atem hören.
„Manchmal bin ich nicht ganz bei mir“, hatte der Vater einmal gesagt, als sie gemeinsam Angeln gewesen waren, „ich meine das dann nicht böse“, hatte er gesagt und ihm den Arm um die Schultern gelegt, oft dachte er an diesen Moment, doch es stimmte nicht, manchmal wurde sein Vater böse und dann vergaß er die Mutter zu lieben, sagte böse Dinge und seine großen, gefährlichen Hände begannen dann ein eigenes Leben zu führen.
Es waren vor allem diese großen Hände, die Joseph fürchtete, Hände, die brutal und schnell waren, die einen einfach packen konnten, ohne dass man sich dagegen zu wehren vermochte.
Er hörte, wie der Tisch zurückgestoßen wurde und wie sein Vater sich ruckhaft aufrichtete.
Durch den schmalen Spalt konnte er sein Gesicht sehen, das immer so rot anlief, als würde der Kopf jeden Moment platzen.
Was jetzt kam, war am schlimmsten, denn er würde sich auf die Mutter stürzen und in seiner Wut konnte er schlimme Dinge tun. Die Mutter würde versuchen wegzulaufen, aber er kriegte sie immer, sie konnte gar nicht weglaufen, denn er war so schnell und hatte diese großen Hände und dann, dann kam das Schlimmste, die Mutter schrie, nicht um Hilfe, keine Worte, unartikulierte Laute, dazwischen immer wieder das Klatschen, wenn er sie ohrfeigte.
Joseph bemerkte nicht, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten und dann hinunter über die Wangen rannen. Er schämte sich, weil er der Mutter nicht helfen konnte, weil er zu schwach war und weil der Vater diese großen Hände hatte. Er wollte nicht mehr hinsehen, aber er konnte sie auch nicht im Stich lassen. Trotzdem stand er auf und schlich mit zitternden Beinen die Treppe hinunter. Die Tür zur Wohnküche stand weit offen und er würde daran vorbei schleichen müssen, aber alles war besser, als dazubleiben. Als er auf der untersten Stufe angekommen war, schrie die Mutter besonders laut, so dass er erschrocken zusammenzuckte und obwohl er nicht wollte, musste er hinsehen, sah seinen Vater, der mit hochrotem Kopf und seltsam wässrigen Augen genau in seine Richtung starrte und ihn nicht sah. Seine großen Hände nestelten wie aufgeregte Schlangen an seinem Gürtel und in der Aufregung versagten seine fleischigen Finger bei dem Versuch das Leder durch die schmalen Schlaufen zu ziehen. Die Mutter lag am Boden und auch sie sah zu ihm hinüber, sie sah ihn und blickte gebannt in die Augen des Kindes, das sie aus ihrem Körper in diese Welt gepresst hatte. Er erstarrte innerlich und dann, dann dachte er auf einmal an Lara, Lara, seine Freundin und der Gedanke gab ihm die Kraft loszulaufen, gerade in dem Moment, als der Vater mit einem reißenden Laut und einem triumphierenden Schrei den Gürtel befreit hatte. Joseph rannte, dann war er an der Tür, öffnete sie, schrie leise auf, als seine nackten Füße den frischgefallenen Schnee berührten, zog die Tür vorsichtig zu und dachte, dass er erst zurückkommen würde, wenn er ein Mann war und seine Hände groß genug, um die Mutter zu beschützen, dann rannte er, rannte und rannte so schnell wie er nur konnte.


Abwasch

Der Dorfschullehrer stand in der Küche regungslos vor dem Spülbecken. Es war still, nur das Wasser tropfte klangvoll in die überlaufende Schüssel, die unter dem Hahn stand. Alles hatte sich verändert, seit das kleine Mädchen Teil seines Lebens geworden war, sein Alltag, seine Gewohnheiten, seine Gedanken. Es war so, als wäre ein neuer Stern in seinem Universum aufgetaucht, der abrupt alle Konstellationen verändert und in seine Umlaufbahn gezwungen hatte. Alles drehte sich um Lara. Seine Studien waren vergessen und mit einer Leichtfertigkeit beiseite geschoben, die ihn selbst erschreckt hatte, fast so, als hätten sie ihn nie interessiert. Nachts wachte er manchmal auf und dann sah er Laras Gesicht vor sich, gefrorenes Grauen an jenem verhängnisvollen Tag, an dem er sie gefunden hatte. Nacht für Nacht hatte er die Kälte jenes Momentes gespürt, unerklärliche Panik, die sich nicht begründen ließ. Sooft hatte er an jenen Moment zurückgedacht und mehr und mehr akzeptiert, dass sie nicht wirklich da gewesen war, der Körper auf der Straße nur eine leere Hülle, das Gesicht aber ein schwacher Abdruck der Wirklichkeit, durch die der kleine Geist gerade schritt, „Hölle“ war eines dieser Wörter, an die er immer wieder dachte. Das war die eine Seite, das unergründbare Mysterium dieses Momentes, wo war sie gewesen und der Schrecken einer Ahnung. Die andere Seite war dieses kleine wissbegierige Wesen, das mit einer Schnelligkeit lernte, die er sich nicht erklären konnte. Warm ums Herz war ihm, wenn sie gemeinsam in der Wohnstube am Kamin saßen und Lara verschnörkelte Buchstaben auf die Schiefertafel zeichnete. Längst hatte sie ein Wort für jeden Gegenstand, den es im Dorf gab und sie verband sie immer geschickter zu Sätzen, Fragen und Geschichten, doch über jenen Moment, als sie sich kennenlernten, hatte sie bis zu jenem Tag noch nie geschrieben.
Er erwachte aus seiner Starre und drehte den Hahn zu. Fast ängstlich blickte er hinüber in die Stube, noch immer lag sie auf dem Fauteuil, zusammengerollt, das kleine Gesicht hinter einem Kissen verborgen. Er wusste nicht, ob sie schlief oder nur so tat, und er bereute, dass er sie so gedrängt hatte.
Er hatte gewusst, dass es ihr Geheimnis war, dass sie es um jeden Preis verbergen wollte und doch hatte er sie gedrängt, immer wieder nachgefragt: „wo bist du gewesen, Lara?“, „warum willst du nicht darüber schreiben?“, hatte ihre flehenden Augen ignoriert, in der er Sorge um sich selbst zu entdecken glaubte, „was ist das für ein Ort, Lara?“.
Dann, ganz plötzlich, hatte sie angefangen zu schreien, die Hände an die Wangen gepresst, immer lauter geschrien, als er sie fassen und beruhigen wollte, wortlose und doch warnende Schreie. Er seufzte, ließ einen Teller in das Wasser gleiten und begann wie mechanisch mit dem Lappen über ihn zu streichen. Eine Erbse löste sich vom Teller und stieg unendlich langsam an die Wasseroberfläche. Geschrien hatte sie und er war in Panik geraten, weil da ja die Nachbarn und die Spitzel auf der Straße waren, nur deshalb hatte er sie geschlagen, nicht besonders hart, mit der Handfläche, aber es war Gewalt gewesen, die er sofort bereut hatte.
Sofort war sie verstummt und hatte ihm in die Augen geblickt, erst fassungslos, dann auf eine ganz seltsam wahnsinnige Art, in der er fast so etwas wie Dankbarkeit zu entdecken glaubte, Dankbarkeit für den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Dabei war sie bleich geworden, weiß wie Kreide und sie hatte nach der Tafel gegriffen. „Finsterland“, dachte er, „Finsterland“ hatte sie mit zitternden Buchstaben auf die Tafel geschrieben.
„Finsterland“, immer wieder hatte er an jenes Wort gedacht, seit er nun in der Küche stand, sich zurückgezogen und dann mit dem Abwasch begonnen hatte. Ein Wort, das dem Grauen ein Gewand gab. Er schluckte, blickte wieder hinüber in die Stube. Immer noch lag sie dort, vollkommen ruhig, das Kissen verbarg ihr Gesicht und er musste wieder daran denken, wie er es nach einiger Zeit vorsichtig beiseite gezogen hatte. Angst hatte er gehabt, dass er noch einmal in das Grauen blicken würde, doch ihre Augen waren geschlossen gewesen, die Züge wie immer, ein Lächeln in den Mundwinkeln, Frieden. Er würde sie jetzt nicht wecken, würde sie schlafen lassen, doch das Wort ging ihm nicht aus dem Kopf. „Finsterland“, murmelte er, als er nach dem nächsten Teller griff.

Doch Lara schlief nicht. Unter dem Kissen und hinter ihrem Gesicht hatte sie sich versteckt und sie würde erst wieder herauskommen, wenn der Schrecken aus ihrem Körper gewichen war.
Mit den Fragen des Lehrers waren mehr und mehr dunkle Erinnerungen aufgetaucht, die ihr Angst machten. Immer stärker war das Gefühl der Verzweiflung geworden, bis sie schreien musste, um es zu ertragen und nicht daran zu zerbrechen. Dann hatte er sie geschlagen und es hatte gut getan, war wie eine Strafe für das gewesen, was sie dachte und sofort war sie ruhiger geworden, doch sie konnte und durfte ihm nicht mehr von Finsterland erzählen. Niemand durfte davon wissen. Das Kissen verbarg die Wohnstube und hinter ihm tanzten verhasste Erinnerungen, Schreie, Angst und Blut, Schweiß und schmieriger Boden, immer wieder Angst und die Schreie der Wärterinnen. Sie zwang sich an etwas anderes zu denken, doch es war so schwer die verhassten Bilder beiseite zu schieben, immer war es schwer, manchmal unmöglich.
Sie versuchte dann immer an die Zeit vor Finsterland zu denken, an die Zeit, als noch alles anders und dabei friedlich gewesen war, die Zeit, als sie noch eine Familie gewesen waren. Und manchmal funktionierte es, alles Hässliche verblasste dann und wurde erst weiß, dann fröhlich, die Eltern lächelten ehrlich und schenkten ihr kleine Gesten der Bewunderung, während sie in der Mitte des Wohnzimmers stand und wilde Pirouetten in dem neuen Kleid schlug, das so schön verpackt unter dem Weihnachtsbaum gelegen hatte. Im Kamin loderte ein Feuer und sandte Wellen von Wärme und Gemütlichkeit hinüber zum gedeckten Tisch, auf dem die Gans beinahe majestätisch über der dunklen Soße thronte.
Das war ihr Hoffnungsbild, eine der schönsten Erinnerungen, der Geruch der Tannenzweige und das Gefühl geliebt und am einzig richtigen Platz auf der ganzen Welt zu sein. Es waren glückliche Momente, wenn Lara ihr Hoffnungsbild betrachtete, doch immer, immer folgte ihnen das Gefühl des Verlustes und der Einsamkeit. 

Damals, als ihre Eltern auf einmal verschwunden gewesen waren, hatte sie wie jeden Morgen wach in ihrem Bett gelegen und auf die Mutter gewartet. Lara war immer ein sehr emotionales Kind gewesen und da sie nichts auf der Welt mehr liebte als ihre Mutter, war dieser Beginn des Tages oft auch der schönste Moment desselben gewesen, an den sie sich dann abends erinnerte, bevor sie einschlief, auf den sie sich dann bereits wieder freute. Sie lag also immer da und lauschte auf das knarrende Geräusch der sich öffnenden Tür, hatte die Augen soweit geschlossen, dass sie gerade das so innig geliebte Gesicht erkennen konnte, wenn es hinter dem Türspalt erschien, denn die Mutter durfte nicht merken, dass sie schon wach war. Das hätte alles verdorben. So hatte sie auch an jenem Morgen dagelegen und gewartet und je länger sie gewartet hatte, desto größer war die Anspannung geworden. Da sie so in diesem Moment aufging, bemerkte sie nicht, wie die Zeit verstrich, wie die Sonne stieg und stieg und erst, als es hinter den Vorhängen bereits langsam wieder dunkler wurde, stellte sie erschrocken fest, dass ein ganzer Tag einfach verschwunden war. Das Laken unter ihr war nass, ihre Blase entleert und selbst dieser peinliche Umstand – Lara hatte seit Jahren nicht mehr ins Bett gemacht – konnte sie nicht davon abhalten liegen zu bleiben und zu warten. Schließlich war es nicht ihre Schuld, wenn die Mutter nicht kam und ihr fiel einfach keine Erklärung ein. Eine ganze Weile hatte sie darüber nachgedacht, bis sie schließlich irgendwann wieder eingeschlafen war. Dann war es wieder Morgen gewesen. Wieder hatte sie dagelegen und gewartet, doch die Vorfreude war irgendwie schal geworden und hinter allem lauerten auf einmal Zweifel. Was wenn sie wieder nicht kam, was wenn sie niemals wiederkommen würde. Sie hatte versucht diese Gedanken zu verscheuchen, hatte sich das lächelnde Gesicht vorgestellt, selbst eine Weile gelächelt, in sich selbst versunken, dann hatte auf einmal der Bauch wehgetan und sie hatte gemerkt, dass sie großen Hunger hatte. Die schreckliche Idee, dass man sie vergessen hatte und dass sich hinter der Tür zum Wohnzimmer das normale Leben eben nur ohne sie abspielte, kam ihr am Nachmittag und die Versuchung war groß, einfach aufzustehen und einen Blick hinter die geschlossene Tür zu werfen, doch Lara war auch ein Dickkopf und sie wollte nicht auf den schönsten Moment des Tages verzichten. Jetzt erst recht nicht mehr, wo sie so lange dauf gewartet hatte. Es war bereits am frühen Abend, als es an der Tür klopfte, Lara hörte es genau. Noch immer lag sie im Bett, immer noch wartete sie auf ihre Mutter, doch dieses Geräusch änderte alles, alle Anspannung entlud sich und sie sprang aus dem Bett, in dem sie ansonsten vielleicht verdurstet wäre.
Joseph war es gewesen. Joseph hatte sie gerettet. Und auf einmal, jetzt wo sie an ihn dachte, fühlte Lara auf dem Fauteuil des Lehrers, das Gesicht verborgen hinter einem Kissen, ein neues Gefühl, Sorge und Angst, nicht um sich selbst, sondern um ihren besten Freund, der in Gefahr war und der sie brauchte. Es gab eine geheime Verbindung zwischen Menschen, die einander liebten und irgendwie war es so, als ob sie gemeinsam mit ihm durch den Schnee lief, Tränen in den Augen und verzweifelt. Sie lauschte auf die Geräusche in der Küche.
Immer noch spülte er, immer noch half sie ihm nicht, konnte es nicht, musste zu Joseph, ihrem besten Freund, sonst würde er erfrieren. Vorsichtig erhob sie sich, ganz leise legte sie das Kissen beiseite. Es tat ihr leid einfach so zu gehen, aber sie konnte dies alles nicht erklären, konnte es nicht aufschreiben und die Zeit eilte und während der Lehrer mit sorgenvollem Gesicht die Erbse im Spülwasser betrachtete, schlich Lara aus der Stube und durch die Haustür auf die Straße.   


Joseph

Allein Joseph hatte begriffen, mit welcher erschreckenden Intensität Lara fühlte und lebte, wie sie in jedem Moment aufging und immer etwas Schönes fand, das sich bewundern ließ. Sie hatte ihm unzählige Geheimnisse gezeigt, welche die Anderen einfach übersahen, an denen sie vorbeigingen, ohne sie zu bemerken. Die Schleimspur einer Schnecke auf dem Pflaster war an sich nichts Besonderes, aber wenn man mit dem Kopf ganz tief hinabging und über die Spur in die Sonne blickte, konnte man die Welt in den buntesten Farben für einen kurzen Moment tanzen sehen. Lara hatte es ihm gezeigt, Lara wusste solche Sachen und sie tröstete ihn, wenn die Eltern sich wieder gestritten hatten. In den frühen Morgenstunden hatten sie gemeinsam gelauscht, wie die Vögel nacheinander erwachten und zu singen begannen, wie sie einen Chor bildeten, immer mehr und mehr die Stimmen erhoben und sie hatten gemeinsam die verborgene Melodie gefunden, die alles in sich vereinte, und es war nichts als reine Schönheit gewesen. Lara zeigte ihm solche Sachen. Sie war mit den Jahren seine beste Freundin geworden und er hatte sich fest vorgenommen, sie später einmal zu heiraten. Niemals hätte er das ausgesprochen und doch war es für ihn bereits eine unverhandelbare Tatsache, dass sie beide gemeinsam bis zum Ende ihres Lebens miteinander glücklich sein würden. Je besser er sie kennengelernt hatte, desto überflüssiger war die Sprache geworden, da sie sich durch Blicke miteinander verständigen konnten. Obwohl ihr Gesicht irgendwie unbeweglich war, konnte sie mit den Augen sprechen. In ihrer Nähe war immer Frieden gewesen, niemals hatte sie etwas Böses getan und oft war er von zuhause weggelaufen und hatte erst einige Stunden schweigend bei ihr gesessen, bis er schließlich genug Mut gefasst hatte, um wieder zurückzugehen. Joseph liebte Lara vielleicht ebenso stark, wie Lara ihre Mutter liebte, mit all jener bedingungslosen Intensität, zu der ein Kind fähig ist und so war ihr Haus das erste Ziel, auf das er zulief, es war nicht weit und Lara würde ihn trösten können, vielleicht würde sie mit ihm fortgehen. Eiskalt klebte der Schnee zwischen den Zehen, als er zu ihrem Haus lief.


Pimpf

An diesem Nachmittag waren wieder Orden verteilt worden und wieder war der Pimpf leer ausgegangen. Außer den Abzeichen, die er automatisch aufgrund seines Alters bekam – denn kein Faschist blieb ohne Auszeichnung – zierte noch kein Orden seine schmächtige Brust, obwohl, das hatte selbst der Zugführer gesagt, an seiner nationalsozialistischen Gesinnung nicht der kleinste Zweifel bestand. Orden bekam man nur für außergewöhnliche Leistungen und trotz aller Bereitschaft hatte sich einfach noch keine Situation ergeben, in der er seinen Mut und seine unbedingte Loyalität unter Beweis stellen konnte. Über diese und andere Sachen dachte der Pimpf nach, als er über die Hauptstraße in Richtung des elterlichen Hauses ging. Ein wenig Selbstmitleid war es wohl auch, das ihm neben dem scharfen Wind Tränen in die Augen trieb, warum nicht er, warum immer nur die anderen. Eben in diesem Moment, so als hätte ein milder nationalsozialistischer Gott seine stillen Gebete erhört, sah er etwas, in dem er sofort den ersehnten glänzenden Orden erkannte. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass das behinderte Mädchen mit dem dummen Grinsen einfach verschwunden war. Ein SS-Offizier, der extra angereist kam, hatte sie nicht angetroffen und es ging das Gerücht um, dass einer im Dorf sie versteckt haben musste. Die wildesten Spekulationen waren bereits entbrannt und jeder hatte eine eigene Theorie, wer denn der Verräter sein konnte. Einige hegten wohl auch den Verdacht, dass sie einfach gegangen und irgendwo in den Wäldern erfroren war, aber die wenigsten trauten Lara soviel Verstand zu, dass sie an Flucht gedacht hätte. Der Pimpf selbst war bei der Hausdurchsuchung und gleichzeitigen Plünderung des kleinen Hauses dabei gewesen, hatte mit seinen Kameraden die Regale umgeworfen und die Kissen zerschnitten, um einen Hinweis auf den Aufenthaltsort des Mädchens zu finden. Gemeinsam mit ihnen war er auch in die benachbarten Wälder gezogen und hatte mit Speer und Taschenmesser nach dem unwerten Leben gesucht, das sich seiner gerechten Strafe entzog. Doch nach den ersten Tagen hatte sich die Aufregung gelegt. Viele sympathisierten auch insgeheim mit der Wendung, welche die ganze Sache genommen hatte, das Ärgernis war verschwunden und niemand musste sich Vorwürfe wegen dem Tod eines kleinen Mädchens machen. Letztendlich waren wohl die meisten zufrieden mit der Situation, so wie sie war, und Lara, das kleine Mädchen, wäre wohl später in den verschiedensten Geschichten in den Zeiten der Entnazifizierung aufgetaucht, wenn der Pimpf sie nicht an jenem Nachmittag entdeckt und sofort verfolgt hätte. So wie er es in der Ausbildung gelernt hatte, nutzte er jeden Schatten, jede Deckung, kroch und robbte, schlich und glühte innerlich vor Aufregung. Alleine die Tatsache, dass er gesehen hatte, dass sie aus dem Haus des Dorfschullehrers kam, war bestimmt einen Orden wert. Er hatte den Verräter enttarnt, der das gesamte Dorf an der Nase herumgeführt hatte, doch er wollte seine Sache besonders gut machen, es zu Ende bringen, obwohl er nicht ahnte, was dies bedeutete. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass der dümmliche Gesichtsausdruck des Mädchens etwas mit der Rasse und mit einem Versehen der Natur zu tun hatte. Ansteckend war sie somit nicht und er hatte keine Angst mehr vor ihr. Außerdem war er nicht allein. Er fühlte das deutsche Blut in seinen Adern und hatte das Gefühl, dass Führer, Volk und Vaterland mit ihm marschierten. Er dachte, dass es seine Pflicht war die Heimat vor der Entartung zu schützen, als er einen Stein aufhob, und er dachte, dass er ganz bestimmt einen Orden bekommen würde, als er ihn fester in der kalten Hand fasste.


Schneeflocken

Joseph saß vor Laras Haus und es war kalt, bitter kalt, so kalt, dass er begann zu vergessen, wie sich Wärme anfühlte. Er konnte nicht sagen, wie lange er bereits auf sie wartete, die Zeit war verwirbelt wie die dicken Schneeflocken, aber es war auch egal, weil er wusste, dass sie kommen würde. Richtig weh tat die Kälte, schneidend blies der Wind und es tat auch irgendwie gut zu leiden; die Schmerzen in den Zehen gaben dem Schmerz seiner Seele eine Form, die sich begreifen ließ. Die Mutter hatte ihn angeblickt und er war davongelaufen, der Vater hatte in seine Richtung geblickt und ihn nicht gesehen, so unbedeutend war er, klein und schwach, eingefrorenes Bild, Vater und Mutter, Vater holt aus, hoch erhoben die riesige brutale Hand, die den Gürtel wie eine vertrocknete Schlange zerquetscht, Atemzug für Atemzug Gefühle, eingefrorenes Bild, dann ganz schnell, Vater schlägt zu, Mutter schreit, nicht wegen dem Dämon mit dem Gürtel, wegen Joseph, Joseph läuft und läuft und läuft. Schmerzen in den Zehen.
„Es ist nicht immer so gewesen“, dachte er immer wieder, „er ist nicht immer so gewesen“, doch für jede schöne Erinnerung, die ihm einfiel, gab es eine schlechte, die mit dieser verbunden war.
So war es damals am See gewesen, als der Vater ihm das Schwimmen beigebracht hatte, aufgeregt war er gewesen, noch nicht misstrauisch, wie er es geworden war. Er hatte die Bewegungen der anderen Schwimmer nachgemacht, während der Vater ihn auf der Handfläche durch das Wasser balanciert hatte, geschwebt war er, an der Oberfläche, dort wo das Wasser am wärmsten war. Es war ein wunderschöner Moment gewesen, wie ein Kapitän auf hoher See hatte er sich gefühlt und dabei weit in der Ferne den Horizont betrachtet. Dann hatte der Vater die Hand weggezogen und ihn energisch zurückgestoßen, als Joseph ihm nachgegriffen hatte, der riesige Vater, dem das Wasser kaum bis zur Brust ging, hatte ihn zurückgestoßen und er war auf einmal alleine gewesen, nirgendwo war Halt und die erlernten Bewegungen waren keine Hilfe gewesen. Nach unten sank er, tiefer und tiefer, und er hatte gedacht, dass er jetzt sterben müsse. Wasser hatte er geschluckt, mit sinnlosem Schreien seine Lunge gefüllt, war gestorben, bis seine strampelnden Füße den schlammigen Boden berührt hatten. Dort, an der kältesten Stelle des Sees, hatte er bewegungslos verharrt und gewartet, dass jetzt das passierte, was die Erwachsenen „Tod“ nannten. Und während tief in ihm etwas endgültig zerbrach, das bereits viele Risse und Kratzer davongetragen hatte, übernahmen uralte und unbekannte Überlebensinstinkte die Kontrolle über seine Beine, er stieß sich ab und schoss wieder nach oben an die Oberfläche, spuckte Wasser, atmete, dann Panik, als er wieder versank, alles von vorne und immer wieder, keine genaue Erinnerung. Irgendwie war er dann doch vorwärts gekommen, schließlich konnte er stehen, dann war er unter dem dröhnenden Gelächter seines Vaters aus dem Wasser gekrochen. Seit jenem Tag war aus Joseph ein trauriger Junge geworden.
Joseph schluckte und es tat weh. Er wunderte sich über all diese Erinnerungen, die da hochstiegen, Dinge, an die er schon seit langer Zeit nicht mehr gedacht hatte und es war auch gar nicht mehr kalt, irgendwoher kam Wärme und dann musste er an Lara und die Feuerräder denken, daran, wie sie damals für ihn gesungen hatte
Er lächelte eine Weile in die Richtung der Ecke, hinter der Lara jeden Moment erscheinen würde, dann schlief er ein. Schneeflocken fielen von überall her herab auf den kleinen Jungen und während die ersten noch auf den rosigen Wangen geschmolzen waren, blieben ihre Schwestern liegen.
Noch schlug sein kleines Herz.


Fleischerszene II

Der Fleischer hob das Beil und ließ es klatschend in das rohe Fleisch krachen, trennte den Knochen dort, wo er am schwächsten war und Rippe für Rippe für Rippe sprang in den grauen Zinkeimer. „Rippen für die Front“, hatte der Lehrling auf die Seite gemalt, damit sie nicht von den Hungerleidern gestohlen wurden. Die Vorräte waren in der letzten Zeit knapp geworden. Eine ganze Weile schon beobachtete er beim Hacken den kleinen Jungen, der auf der anderen Straßenseite vor dem Haus von diesem Mädchen stand. Wegen ihr hatte es in den letzten Tagen den ganzen Aufruhr gegeben, die Durchsuchungen, selbst bei ihm hatten sie in der Vorratskammer nachgeschaut und dabei einen Schinken gestohlen. Er wusste nicht viel von Lara, obwohl das Haus ihrer Eltern schräg gegenüber seiner Fleischerei lag. Sie hatte irgendeine Krankheit und konnte nicht sprechen. Als sich im Dorf herumsprach, dass ihre Eltern verschwunden waren, hatte er sogar einige Fleischabfälle in Papier gewickelt und vor ihre Tür gelegt. Fleisch, das zu schlecht war, um es zu verkaufen, aus dem sich aber immer noch gut eine kräftige Brühe machen ließ. Er mochte Brühe. Er hatte nie viele Gedanken an sie verschwendet, sie so akzeptiert, wie man einen Baum akzeptiert, an dem man auf dem Weg zur Arbeit vorbeigeht. Er hatte nichts gegen sie, doch er wollte keinen Ärger. Nicht die Starken überlebten, sondern vielmehr die, die sich im richtigen Moment versteckten.
Trotzdem war ihm die Situation ein wenig unangenehm, schon über eine Stunde saß der Junge bereits dort draußen und um diese Jahreszeit war es immer besonders kalt, weil dann der eisige Wind aus den Bergen ins Dorf peitschte. „Todesatem“ hatten sie ihn als Kinder genannt, weil er auf seinem Weg über die Weidegründe immer wieder kranke oder schwache Tiere auf den gefrorenen Boden zwang und sie mit Raureif in den Augen zurückließ. Drinnen bei ihm war es warm, der alte Bollerofen gut angeheizt, der Lehrling hatte diese Aufgabe übernommen. Scheit um Scheit stapelte sich das Brennholz hinter dem Gebäude. In diesem Winter würde er nicht frieren müssen. Bereits einige Male hatte er darüber nachgedacht kurz hinüberzugehen und ihm Obdach anzubieten, schließlich war gerade keine Kundschaft im Laden. Er musste an den Samariter denken, von dem der Pfarrer so gerne in seinen Predigten sprach, doch er hatte auch gehört – denn niemand im Dorf hörte so viel wie der Fleischer –, dass es Probleme in der Familie des Jungen gab. Der Vater des Jungen war ein brutaler Kerl und hatte zudem einen guten Draht zur Gestapo, wie er einmal im Zorn drohend bei einer Gemeindeversammlung geschrieen hatte. Ein unangenehmer Mensch, niemand mit dem man sich anlegen wollte und es gab noch einen weiteren Grund, der ihn zurückhielt, dem Jungen wenigstens – wie dieser heilige Martin – eine warme Decke zu geben. Der Fleischer wusste um den Stand des Krieges, dessen Front näher und näher rückte. Nachts, wenn in den letzten Wohnzimmern die Lichter verloschen, hörte er den Feindfunk, mit einem versteckten Empfänger im Keller, von dem nicht einmal seine Frau wusste. Bald würde alles vorbei sein, hatte der englische Rundfunksprecher gesagt, die guten Bürger müssten sich keine Sorgen machen, die Nationalsozialisten aber würden für ihre Taten bestraft werden. Ein guter Bürger aber war er eigentlich immer gewesen, den Nationalsozialismus hatte er zunächst nicht so ernst genommen und dann, als es den Leuten im Dorf auf einmal besser gegangen und der Laden voll gewesen war, hatte er seine Skrupel verworfen und war in die Partei eingetreten. Nett ging es dort zu, wenn sie sich einmal in der Woche nachmittags in der Kneipe getroffen hatten. Wichtige Themen waren dort eigentlich nie besprochen worden. Als dann die immer neuen Nachrichten von Siegen und Eroberungen in der Wochenschau verkündet wurden – sie hatten sogar das verdammte Frankreich erobert – war er wohl auch ein wenig stolz gewesen, aber ein Nazi, nein, das war er nie gewesen. Besser war es sich rauszuhalten, abzuwarten, was passierte.
Wieder fuhr das Beil hinunter und erst im letzten Moment des Schlages war da das Gefühl, das etwas nicht stimmte, etwas, das seine jahrelange Fleischerroutine ihm verriet. Mit einem kleinen Schrei zog er die Hand beiseite und das Beil blieb knapp neben seinem Daumen zitternd im Brett stecken. Fast hätte er sich die Hand abgehackt, war in Gedanken gewesen. Eine Schweinehälfte, sieben Rippen, er war nicht bei der Sache gewesen, wurde alt.
Wieder blickte er durch das Schaufenster auf die Straße und dachte, dass der Junge ein Stück zur Seite gesunken war, den kleinen Kopf an den Stützpfahl der Veranda gelehnt, doch vielleicht bildete er es sich auch ein, schließlich sah man so gut wie gar nichts bei dem ganzen Schneegestöber. Vielleicht war er längst weg und hatte nur seine Jacke dort zurückgelassen.
Er hob eine neue Schweinehälfte auf den Hackblock und betrachtete einige Momente zögernd das Beil, bevor er es in die Hand nahm, dann rasselte auf einmal der Klingelzug und riss ihn aus seinen Gedanken. Der Fleischer vergaß den kleinen Jungen, vergaß die Zweifel und die Schweinehälfte, wischte sich die blutigen Finger an der Schürze ab und trat hinter die Registrierkasse.
„Was darf es sein?“, fragte er, so wie er es immer fragte, als der Bürgermeister nach vorne an die Theke trat, dann griff er unter die Theke und zog ein schönes Stück Steak hervor, „was Besonderes“, das er dort für besondere Kunden liegen hatte. Schließlich musste man sich gut stellen mit den Königen, so war es schon damals, war es immer gewesen, doch es brauchte auch ein gutes Gespür, um im richtigen Moment die Seiten zu wechseln. 
 
Lara wusste genau, dass Josef da war, dass er vor ihrem Haus stand und auf sie wartete, dass er fror und dass sie sich beeilen musste. Vielleicht wäre sie sonst vorsichtiger gewesen, hätte den Pimpf bemerkt, der ihr folgte, doch die ganze Zeit hatte sie furchtbare Angst zu spät zu kommen, Angst, dass er wieder ging und sie sich nie mehr wiedersehen würden. Immer schneller lief sie durch den Schnee, gleich, wenn sie um die Ecke bog, würde sie ihn sehen können.

Der Pimpf hielt weiterhin Abstand, obwohl das Mädchen nun schneller lief. Er war sich sicher, dass sie ihn nicht gesehen hatte, sie lief aus irgendeinem anderen Grund und er wusste, wo sie hinwollte. Die Straße mündete genau in die Gasse, in der das kleine Haus stand, in dem sie früher mit ihren Eltern, später dann alleine gewohnt hatte.

Endlich hatte Lara ihr Ziel erreicht und sofort entdeckte sie Joseph, der vor ihrem Haus an einem Stützbalken kauerte, Schnee klebte in seinem Gesicht, das ganz bleich und zerbrechlich aussah. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, doch er sah sie nicht an, sah durch sie hindurch auf die Straße, eben zu jener Ecke, um die sie herumgebogen war. Sie spürte, dass er nicht tot war, da war noch Wärme an dem mageren Körper, doch es ging ihm schlecht, sehr schlecht.
Er musste sich aufwärmen, an ein Feuer, sie musste ein Feuer machen, aber dann würde man sie entdecken. Die Situation überforderte sie, sie hatte Angst, wollte nichts falsch machen.
Sie schüttelte ihn, stieß schrille Laute der Verzweiflung aus, doch sein Name ließ sich nicht in Laute fassen. Sie beugte sich über ihn und in diesem Moment größter Verzweiflung passierte es wieder, sie merkte, wie sie sich selbst entglitt, wie es dämmerte und wie es sie nach Finsterland zog. Die seltsamen Schreie, die so anders klangen als die der anderen Menschen, jene schrägen Laute, die ihr kleiner Körper in den Wind peitschte, wurden immer leiser und sie dachte sich fort, war mit einem Mal aus ihrem Körper hinaus, sah das kleine Mädchen, das wie erstarrt über Joseph kniete, betrachtete sie über die Schulter, als sie fortging und sie sah auch den Pimpf, der hinter einem Holzstapel verborgen einen Stein in der Hand hielt. In seinem Gesicht arbeitete es und es war, als versuche er den perfekten Moment zu finden, um in den Mittelpunkt der Handlung zu treten.

Dann trat der Pimpf aus dem Schatten hervor und ging mit sicheren Schritten auf das Mädchen zu, das ihm den Rücken zuwendete. Sie bewegte sich überhaupt nicht, hatte den Kopf nach vorne gesenkt, betrachtete diesen Joseph, der dort wohl schon eine ganze Weile im Schnee lag. Ihn sah und hörte sie nicht, Wind und Schnee verschluckten seine Schritte. Fast hatte er sie erreicht und triumphierend hob er den Stein mit seinen ledernen Handschuhen.

Wieder stand sie an der Ecke, dort wo es kalt wurde, kälter als der kleine Joseph gewesen war, kälter, weil es von innen kam, an der Ecke stand sie, dort, von wo aus man den Zaun sehen konnte, den Zaun, in dem das Loch war, durch das sie nun hinüber, nach Finsterland gehen musste. Lautlose Tränen liefen ihre Wangen hinunter, zu warm und salzig um zu gefrieren, sie bebte, zitterte, doch sie wusste auch, dass sie keine Wahl hatte, dass sie gehen musste. So dachte sie sich hinüber zu dem kleinen Loch, ging hinunter auf die Knie um hindurchzukriechen und das kalte Metall drückte seine knöchrigen Finger tief in die alten Narben.

Der Pimpf hatte Lara erreicht und den Stein hochgehoben. Sie war so dumm, dass sie ihn nicht einmal jetzt, wo er genau hinter ihr stand, bemerkte und das ärgerte ihn. Gerne hätte er vor ihr triumphiert, ihr gezeigt, dass er es war, der sie entdeckt hatte. Sie hätte ihn ruhig ansehen können und sie hätte zittern sollen, weil er für die gerechte Sache eintrat und weil die Schurken immer vor der gerechten Sache zitterten. Dann schlug er den Stein fast beiläufig auf ihren Hinterkopf, fest und hart, so fest er konnte. Es war ganz einfach gewesen und fast zweifelte er nun, dass er den Orden wirklich bekommen würde. Je härter er schlug, desto entschlossener würden ihn die Kameraden feiern. Der Stein aber hatte eine kleine Spitze, die hart und brechend auf Laras Schädel traf. Es machte ein hässliches knackendes Geräusch, so wie ein Eiszapfen, den man von einem Vordach abbricht, dann sank Laras kleiner Körper lautlos zur Seite, lag dann regungslos neben Joseph und helles rötliches Blut formte einen Heiligenschein um ihren Kopf.
„Hilfe“, schrie der kleine Pimpf, „Hilfe.“

Besonders tief schnitt der Zaun in ihren Geist, nur noch ein kleines Stück, so wie eine Geburt, pressen, pressen, dann war sie auf der anderen Seite.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Die obenstehende Version umfasst die hier ursprünglich einzeln erschienenen Abschnitte (I-IV) des Romans "Finsterland" und somit den gesamten ersten Teil "Das Dorf".

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Kommentare zu diesem Text

toltten_plag (42)
(03.10.17)
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 03.10.17:
Danke für deinen Kommentar und stimmt: "Mechanisch wogte" ist Unsinn. Mache ein "wie mechanisch" draus. Hatte den Text ursprünglich in vier Teile gesplittet und heute gemerkt, dass nach der Formatänderung (der kein-verlag-Seite) die Zeilenumbrüche zerschossen waren. Ich würde es aber nicht noch kleiner zerhacken. Wer es mag, möge es drucken. So mache ich das auch, wenn ich was Längeres wirklich lesen will.

 autoralexanderschwarz antwortete darauf am 03.10.17:
Hab das "mechanisch" ganz raus genommen.
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