Schlammspringer (Periophthalmus)

Kurzprosa zum Thema Absurdes

von  Irma

Was für ein Gesicht meine Eltern wohl gemacht haben, als sie mich das allererste Mal in den Arm nehmen durften? Meine Augen sind ausgesprochen groß und hervorstehend, auffällig hoch in der Stirn gelegen. Ich schiele in alle Richtungen, kann jedes Auge einzeln bewegen. Beim Blinzeln schieben sich meine Augenlider von unten nach oben. Meine Haut ist extrem schuppig, und in meinen Kiefern befindet sich bereits seit meiner Geburt eine vollständige Zahnreihe. Mit meinem riesigen Mund schien ich vom ersten Tag an die ganze Welt verschlingen zu wollen.

Meine Mutter war zur damaligen Zeit ein absoluter Fan von diesem weißblonden Schlagerheini, der seine Glubschaugen immer hinter seiner tiefschwarzen Sonnenbrille versteckt. Also taufte man mich auf den Namen ‚Heino‘. Das war wahrlich kein leichtes Los, wenn man, wie ich, irgendwo auf dem Lande lebt, auf einer kleinen Alm jenseits des Matschertales in den Südtiroler Alpen. Schon im Buddelkasten bewarfen mich die anderen Kinder mit Modderpampe und behaupteten frech, ich rieche fischig und glotze sie blöde an. Tatsächlich vermochte mir niemand so recht in die Augen zu schauen, alle blickten nach kurzer Zeit betreten zu Boden. Doch selbst im Hochsommer, wenn meine Froschaugen beinahe auszutrocknen drohten, weigerte ich mich vehement, eine dunkle Brille zu tragen.

Wo immer ich auftauchte, erzeugte ich großes Aufsehen. Bald war ich bekannter als der bunteste Hund im Dorf. Die Menschen machten nach Möglichkeit einen weiten Bogen um mich. Ich aber wollte und konnte niemanden aus den Augen lassen, nichts entging meiner Aufmerksamkeit. Sport mochte ich: Im Weitsprung war ich einsame Spitze - da konnte mir keiner was! Allerdings hasste ich es, anschließend mit den anderen Jungs zu duschen, weil sie mich ständig wegen meines kräftigen Schwanzes hänselten. Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken. Ich konnte hervorragend schwimmen. Aber als ich nur ein einziges Mal länger im Freibad blieb, weil ich vom höchsten Sprungturm immer und immer wieder ins eiskalte Wasser springen musste, gaben meine Eltern sofort eine Suchanzeige auf mit dem Titel „Fliegender Fisch entlaufen!“, und ich bekam daheim von meinem Vater gehörig eins auf die Flossen.

Irgendwann brauchte ich so etwas wie mein eigenes Großstadtrevier. Es zog mich zur „Nordseeküste am plattdeutschen Strand“. Schließlich sollten hier, wie besungen, noch „die Fische im Wasser und selten an Land“ sein. Ich tauchte unter in einem der dreckigsten Schuppen von St. Pauli, mitten auf der Reeperbahn. Hier bei den Fischköppen bekam ich immer etwas zwischen die Kiemen. Wie sehr ich die Gezeiten liebte, diese unwiderstehliche Mischung aus salziger Luft und süßem Leben, den Schmutz und den Abschaum des Bordells, der zwischen Ebbe und Flut im Hafen anschwemmte. Aus allen verkommenen Hafenkneipen drang mir Heinos: „Hamburg ist ein wunderschönes Städtchen“ entgegen. Also verbrachte ich bald den ganzen Tag in der Badewanne oder vor der Glotze liegend - und versumpfte mehr und mehr. Mit diversen Minijobs versuchte ich mich kurzzeitig über Wasser zu halten, aber nichts vermochte mich aus dem Dreck zu ziehen.

Das änderte sich, als mir an einem Sonntagmorgen, so gegen Fünf, irgendein Marktschreier auf dem Fischmarkt in Altona ein in Zeitungspapier eingerolltes Päckchen aufzwängte. „Hier kiechste, hier kriechste! Zwei fedde Aale. Wat willste mehr, min Lütta?“ Ich mochte fürwahr keinen Aal - ich mochte überhaupt keinen Fisch! Aber ich nahm, begierig und stumm wie ein solcher, das Köderpaket entgegen. „Noch wat drauf bei de Schmuddelwedda?“, fragte mich der Kerl. Ich schrie ihm wütend mein: „Jau, einen Job!“ ins Gesicht und machte mich mit dem stinkenden Etwas auf den Weg zum nächsten Mülleimer - als mir im Stellenmarktteil der Hamburger Morgenpost eine Anzeige ins Auge stach. Ich entwickelte das fettige Papier: Sie suchten einen Pressefuzzi. Natürlich nicht in Festanstellung, nur aushilfsweise. Doch sie hatten mich am Haken. „Na, denn man tau!“, warf mir der Fischhändler augenzwinkernd zu, bevor ich in der dunklen Menschenmasse lautlos davonschwamm.

Tatsächlich wurde ich bei dieser mir bis dato völlig unbekannten Boulevardzeitung als Springer eingestellt und sollte unter Beweis stellen, was an mir so außergewöhnlich schien. Also vergrub ich mich in meinem Kellerloch tief in meine Arbeit. Erstmals war mir mein Handicap hilfreich: Ich hatte meine Augen überall, schnappte alles auf und wusste mich immer irgendwie durchzubeißen. Das heimatliche Mobbing hatte mir schon früh dazu verholfen, starke Ellenbogen zu entwickeln. Als echtes Großmaul war ich in der Lage, zwei Fliegen mit meiner Klappe zu schlagen!

Meinem Aufstieg stand augenscheinlich nichts mehr entgegen. Schon bald hatte ich nicht nur den perfekten Rundumblick, sondern auch den totalen Durchblick: Ich schrieb über den unerwarteten Tod eines Elefantenbullen im Tierpark Hagenbeck, über Pleiten und Pannen beim Bau der Elbphilharmonie sowie Falschaussagen im Scheinehe-Prozess um einen türkischen Hamburger SPD-Politiker. Immer wieder schaffte ich es, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Auch die Barsch(el)-Affäre brachte ich noch einmal neu auf den Tisch und sprang behände von einer Dreckecke in die nächste. Viele drohten damit, mich mal gehörig aufzumischen und mir das Maul zu stopfen, aber ich liebte es, ordentlich Schmutz aufzuwühlen. Ich buddelte immer neue Skandale aus - wusste jedoch genau, wann es sich für mich auszahlte, besser die Klappe zu halten.

Schnell arbeitete ich als Exklusiv-Fotograf, nahm mit dem Zoom meines Kamera-Auges jedwedes Detail meines Umfelds auf. Mein Türsteher-Job im Puff wurde mir zum Türöffner und vermeintlichen Sprungbrett in die weite Welt, denn ich sah alle Promi-Besucher im Rotlichtviertel, kroch durchs Schlüsselloch in jedes Schlafzimmer. Mit meinen seichten, reißerischen Artikeln in Großbuchstaben füllte ich zunehmend die Titelblätter, verhalf der Zeitung sogar zu einem kurzzeitigen Anstieg der verkauften Exemplare. Meine Kollegen verpassten mir den Spitznamen Mudskipper, weil ich jede verdammte Dreck-Story hochpuschen konnte.

Auf diese Weise kam ich gut voran, kletterte immer höher auf der Karriereleiter als Skandalreporter und schwamm fix obenauf. Doch obwohl ich Mainstream schrieb, musste ich immer wieder kräftig gegen den Strom schwimmen. Irgendwann bekam ich - ganz unvorhergesehen - die Kündigung gereicht. Mir wurde zum Verhängnis, nicht nur meinen Kopf, sondern auch meinen Schwanz in die intimsten Angelegenheiten meines Chefs gesteckt zu haben. „Augen auf, Mund zu!“, meinte seine Sekretärin lakonisch zu mir, „das Leben geht weiter!“ Diese Möglichkeit hatte ich allerdings nie im Blick gehabt. Ich fühlte, wie mir augenblicklich der Boden unter den Füßen weggerissen wurde, und hatte das eigenartige Gefühl, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen.

Dennoch kämpfte ich weiter und fing alles ein, was mir vor die Linse kam. Ich schrieb schmutzige Geschichten über prominente Scheidungskriege, berichtete von Schlammschlachten zwischen Politikern und geheimen Geldern, die hinterrücks flossen. Doch ich verschluckte mich zusehends an jedem fetten Bissen. Der Absprung wollte mir nicht mehr gelingen, ich konnte mich nicht freischwimmen. Stattdessen wühlte ich mich immer tiefer in den Untergrund und versank nach und nach im tiefsten Drogenmilieu. Mich erfasste das unbestimmte Gefühl, irgendwann in den Bilderfluten meiner eigenen Geschichte(n) zu ertrinken.

Ein paar Wochen später fischte ein Skipper einen bäuchlings oben treibenden, aufgeschwemmten Toten aus der Binnenalster. Er hatte blau-silbrig-schimmernde Schuppen am gesamten Körper, trug eine Kamera um den Hals und im Gesicht eine verspiegelte Sonnenbrille. Bei der forensischen Untersuchung stellte sich heraus, dass in seiner Lunge keinerlei Wasser war. Dass sich in diesem Körper überhaupt keine Lunge befand, sondern Kiemen! Es schien sich hier um eine Art Zwitter zu handeln, einen amphibisch lebenden Fisch-Menschen.

Der Spiegel widmete mir eine mehrseitige Reportage, während mich die Schmuddelblätter sofort in der Luft zerrissen. Der Berliner Springer-Verlag verfasste einen Beitrag über „Aufsprung und Abstieg des Schlammspringers“. Die Hamburger Morgenpost titelte in unübersehbar großen Buchstaben: „In seinen Augen spiegelten sich die menschlichen Abgründe - er ist darin versunken.“ Meine Leiche wurde schließlich, über den Umweg einiger überseeischer Museen, in meine Südtiroler Heimat überführt, wo ich schon nach kurzer Zeit einen weitaus höheren Bekanntheitsgrad hatte als mein Nachbar, der Ötztaler Ötzi. Das Hamburger Panoptikum erklärte sich bereit, ein wächsernes Denkmal zu errichten für dieses Nixenwesen, und Gunther von Hagens hat mein phänomenales Exponat umgehend für seine Körperwelten-Ausstellung avisiert. Zeit meines Lebens war ich nichts als ein kleiner Fisch, aber auf diese Weise gelangte ich unverhofft doch - posthum - zum ersehnten Weltruhm.


Anmerkung von Irma:

Veröffentlicht in der Anthologie: "Schlamm. Die besten Texte des Wettbewerbs 2017", S. 72-79. Autorenforum Berlin. Hrsg. v. Beate Hawickhorst. Verlag am Turm, Berlin, September 2017. ISBN 978-3-945130-10-0.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (04.10.17)
Gerne gelesen. Hat so eine Art Wolf-Wondraschek-Stil.

 Irma meinte dazu am 04.10.17:
Dankeschön, Dieter! Wolf Wondratschek (mit t) musste ich, ehrlich gesagt, erst einmal googlen. War aber sehr interessant! LG Irma
LottaManguetti (59)
(04.10.17)
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 Irma antwortete darauf am 13.10.17:
Ich denke, ich habe den Text mit einer Prise Witz geschrieben, die ich nicht immer an den Tag legen kann. Aber anscheinend hat er dadurch dir (und einigen anderen) recht gut geschmeckt und gefallen. Und das wiederum gefällt mir. Nicht auf metaphorischer, sondern auf einer ganz freundschaftlichen Ebene! LG und Dank, Irma

 EkkehartMittelberg (04.10.17)
Deine Erzählung beweist, dass sich das Thema Schlamm hervorragend für eine absurde Geschichte eignet.
LG
Ekki

 Irma schrieb daraufhin am 13.10.17:
Etwas Absurdes war einfach das, was mir persönlich zu diesem Thema einfiel. Aber die in der Anthologie veröffentlichten Geschichten sind komplett unterschiedlich. Das ist ja das Interessante daran, wenn verschiedene Leute zu einem Thema etwas schreiben. Lieben Dank und Gruß, Irma

 EkkehartMittelberg (04.10.17)
Deine Erzählung beweist, dass sich das Thema Schlamm hervorragend für eine absurde Geschichte eignet.
LG
Ekki

 Irma äußerte darauf am 13.10.17:
Und ich sage von ganzem Herzen auch noch ein zweites mal 'Dankeschön!', lieber Ekki! LG Irma

Antwort geändert am 16.10.2017 um 20:53 Uhr

 AZU20 (10.10.17)
Surreal und schön. Glückwunsch außerdem. LG

 Irma ergänzte dazu am 13.10.17:
Dankeschön, lieber Armin! Und ja, ich habe mich außerordentlich gefreut über die Auszeichnung. Vor allem, da ich das allererste Mal an einem Prosa-Wettbewerb teilgenommen habe. LG Irma

Antwort geändert am 13.10.2017 um 10:48 Uhr

 GastIltis (10.10.17)
Das Artensterben einmal anders. Ausweglos, aber doch ein Wiederholungstäter. Man hätte ihn klonen sollen! Oder umerziehen? Jedenfalls universell verwendbar. LG von Giltis.

 Irma meinte dazu am 13.10.17:
Nun ja, es ging mir hier schon um ein Individuum. Ob man es hätte klonen sollen - ich weiß nicht so recht, es scheint ja nicht wirkich überlebensfähig (unter den gegebenen Umweltbedinungen) gewesen zu sein. Vielleicht hätte man diesem Wesen einfach nicht den Boden unter den Füßen wegreißen sollen ... (ein klein wenig verbleibender Schlamm hätte ja gereicht). Ich danke dir von Herzen für Kommentar und Empfehlung, Irma

 Isaban (03.02.18)
Hallo Irmchen,

sehr gekonnt und geschickt aufgebaut, wie dieser Schlammspringer in seiner eigenen Geschichte versinkt!
Es war mir ein Vergnügen, in diese so surreal wirkende und dennoch realitätsnahe, gut übertragbare Story einzutauchen.

Liebe Grüße

Sabine

 Irma meinte dazu am 15.02.18:
Das freut mich wirklich sehr, liebe Sabine! Vielen lieben Dank, auch für die Empfehlung. LG Irma
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