Reisen im Elfenbeinballon (4) - Romantischer Exkurs

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

"Dort vorne", hatte der Wanderer geraunt und mit verträumten Augen in die Dornenranken gewiesen, "dort haben sich bereits einige dieser Romantiker das Leben genommen, die Sonne blutet hier so schön, wenn sie über die scharfkantigen Berge streicht und drüben, auf der anderen Seite, soll es Jungfrauen gegeben haben, die aus den Gedärmen ihrer Feinde rote Schäfermützen häkelten. Zumindest erzählt man das so", hatte der Wanderer geraunt und war verschwunden gewesen, bevor wir ihm weitere Fragen stellen konnten.

Wir waren alleine im Wald.
Zurückgeblieben.
Irgendwo gurrten Tauben,
wir waren abgelenkt,
wir bemerkten das Schaf nicht, als es im Wolfspelz aus dem Dickicht trat.

„Darf ich euch ein Märchen erzählen?“, fragte uns der Wolf und ohne eine Antwort abzuwarten hob er die Stimme und knurrte: „Niemand hat mir diesen Wunsch bislang abgeschlagen.“

Also setzen wir uns an die Sträucher und aßen von den roten Beeren, während der Wolf erzählte:

„Es war einmal“, sagte der Wolf, „es war einmal ein Menschentypus, den die anderen 'Romantiker' nannten. Der Romantiker war ein larmoyantes Geschöpf, das sich den Bart ganz bewusst nur mit Scherben rasierte. Alles unterbrach er, um zu weinen und das immer wieder, Tag für Tag. Er weinte sogar manchmal während er lachte und selbst wenn er aß, tropften ihm die Tränen in die Grütze. Nichts und niemand konnte ihn trösten. Am liebsten verkroch er sich in alten Ruinen und wartete dort auf die Dämmerung.

Eines Tages aber kam ein Fremder in den Wald und als er den weinenden Romantiker sah, stellte er ihm die entscheidende Frage: „Warum weinst du noch?“, fragte er ihn, „warum heulst du nicht längst wie ein Wolf?“

Hier unterbrach der Wolf seine Geschichte und blickte uns fragend an:
„Ich verkaufe Rasierklingen“, sagte der Wolf,
„sie schneiden fast ohne Widerstand in Romantikerfleisch.“

Doch bevor der Wolf begreift, haben wir ihn am Ohr gegriffen.

„Wir sind keine Romantiker“, entgegnen wir ihm,
„wir haben längst gelernt wie die Wölfe zu heulen,
wir sind nur auf der Suche nach einem warmen Pelz, mit dem
wir den Innenraum unseres Elfenbeinballons verkleiden können.
Wir sind Elendstouristen.
Wir sind auf der Jagd nach Schafen, die sich als Wölfe verkleidet haben.“

„Wie geht deine Geschichte zu Ende?“, fragen wir den Wolf.
„Die Geschichte nimmt ein trauriges Ende“, antwortet das Schaf.

„Am Ende sind alle tot und leben heute nicht mehr“, sagt das Schaf
und wir sind für einen Moment so betrübt,
dass wir es laufen lassen.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

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