Mein Freund Schemansky

Erzählung zum Thema Sterben

von  GastIltis

Die Geschichte lehnt sich ein wenig an Graeculus philosophische Frage an, ob man den  Zeitpunkt seines Todes wissen möchte (oder so ähnlich).

In ihrem Mittelpunkt (also der Frage) steht Schemansky. Natürlich hieß er nicht so. Es war sein Spitzname, benannt nach einem damaligen amerikanischen Gewichtheber. Wegen des gleichen Vornamens, Norbert. Mehr hatten sie nicht gemeinsam. Den Namen hatte ich ihm während des Studiums zugeteilt und er konnte sich durchsetzen, der Name. Passiert gelegentlich.

Er war ein Rezitator, wie ich keinen zweiten erlebt habe. Also, nicht der Gewichtheber. Mein Freund. So aus dem Stand. Meist waren zuvor ein paar Tropfen Alkohol geflossen. Sonst war er eigentlich zurückhaltend. Sein bestes Stück war: „Tief im Urwald Brasiliano“. Von Fritz Graßhoff. Einmalig und unnachahmlich sein: „O prosito sito sito, Il finito nito, lezter Satz.“ Klar, das Sterben kam in dem Gedicht schon vor. Wenn auch nicht wesentlich.

Später war ihm offenbar aber auch der Zeitpunkt des Todes bzw. die sich daraus ergebende Konsequenz wichtig. Philosophen ließen schon zu der Zeit rechtzeitig grüßen. Damals in der DDR waren Renteneintrittsalter und Lebenserwartung, was Männer und Frauen betraf, ziemlich unterschiedlich angeordnet. Von Gleichberechtigung war nichts erkennbar. Frauen durften bzw. mussten mit 60 in Rente gehen und wurden 73 Jahre alt, bei Männern war es so, dass sie bis 65 arbeiteten und mit 69 den Löffel abgaben. Alles natürlich im Durchschnitt. Kurz: die Frauen kamen 13 Jahre und die Männer nur vier in den Genuss der Rente. Eine schreiende Ungerechtigkeit! Und das nach zwei verlorenen Kriegen! Empfand er jedenfalls. Pflichtete ich ihm bei. Ich mehr unbewusst, da ich nicht ahnte, was er plante.
 
Oder unternehmen wollte. Er hatte sich schriftlich an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB, ein entfernter Verwandter des DGB) gewandt und den gebeten, diese für ihn schwerwiegende Angelegenheit zu klären. Umgekehrt wäre es doch gerechter, Frauen gehen mit 65 in Rente. Rest 9. Männer mit 60, auch Rest 9. Mehr Gerechtigkeit ginge doch wohl nicht? Man müsse ja schließlich konstruktiv sein!

Die Antwort war natürlich ziemlich schwammig und abweisend. Man könne doch durch ein gesundes Leben seine Lebenserwartung erhöhen, Sport treiben, wahrscheinlich waren auch noch Ratschläge enthalten, die er mir nicht gesagt hat, wie nicht zu rauchen (OK), kein Alkohol (auch OK), weniger Frauen (strittig) oder so. Das weiß ich alles nicht mehr. Vielleicht habe ich es verdrängt.

Obwohl ich seine beiden besseren Hälften (nacheinander, versteht sich) kennen gelernt hatte und er eigentlich ein fröhlicher Mensch war, muss er sich in einigen Fragen nicht an die Regeln des FDGB gehalten haben. Dass die zweite Frau katholisch war, kann eine Rolle gespielt haben, muss aber nicht. Als er schwer erkrankte, setzte er nach Aussagen von Leuten, die Bescheid wussten, auf ihr Anraten hin mehr auf Naturheilkräfte und möglicherweise noch andere Hilfen, so dass ihn eine OP (die Schulmedizin sollte es in letzter Minute richten) kurz vor seinem Ableben auch nicht mehr retten konnte. Dass er die durchschnittliche Lebenserwartung dabei nicht erreicht hat, dafür aber wenigstens für einen Monat Rente in Empfang nahm, wenn auch eher symbolisch, war natürlich nur ein schwacher Trost. Für ihn überhaupt keiner.

Sein Namenspate, der übrigens gern mal ein Bier und einige Burger zu sich genommen hatte (auch umgekehrt) ist übrigens 2016 mit über 90 Jahren verstorben.

Letzter Satz.


Anmerkung von GastIltis:

Empfohlen von: EkkehartMittelberg, Graeculus, ManMan, TassoTuwas, wa Bash.
Vielen herzlichen Dank!

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(17.10.17)
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 GastIltis meinte dazu am 17.10.17:
Hallo Graecu, mit der dir eigenen Bescheidenheit hast du, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, vergessen zu erwähnen, dass du beide gut kanntest. Natürlich stehen sie nicht, das wissen wir beide, für Statistiken an sich. Zum Glück. Mein Vater ist 42 geworden; er war starker Raucher. Ich versuche, doppelt so alt zu werden, u.a., weil ich Nichtraucher bin. Das hat mit Statistik aber ebenso nichts zu tun. Er war in Kriegsgefangenschaft, die er nicht überstanden hat. Ich halte mich an die Regeln des FDGB, die ich nicht kenne bzw. kannte (kleiner Scherz, um es mit Georg Schramm zu sagen).
Ob man die Statistiken in der DDR gemocht hat, das bezweifle ich. Der Technische Direktor eines Baukombinates aus Weimar (!) hat mir damals erzählt, dass er jahrelang technische Meldungen an das Ministerium für Bauwesen geben musste, ohne dass ein einziges Mal eine Rückfrage gekommen wäre. Ein bemerkenswerter Akademiker, der wusste, wovon er sprach. Danke und liebe Grüße von Giltis.

 Dieter_Rotmund (17.10.17)
Gerne gelesen, auch wenn viele Schlampigkeiten auffallen, z.B. "Angelergenheit" und "durchseten",

 GastIltis antwortete darauf am 17.10.17:
Hallo Dieter, ist leider unverzeihlich, obwohl die Korrektur noch vor dem Einsetzen deines Kommentars vollzogen worden war. Man hatte mich freundlicherweise gewarnt. Tut mir dennoch leid. Herzlich grüßt dich Giltis.

 EkkehartMittelberg (17.10.17)
Ich kann gut verstehen, dass man sich um zu knapp bemessene Rentenzeit sorgt. Sie ist meines Erachtens die beste Zei im Leben, weil man zum ersten Mal über Zeit frei verfügen kann.
LG
Ekki

 GastIltis schrieb daraufhin am 17.10.17:
Hallo Ekki, nun mag man trefflich streiten über Begriffe wie „beste“ oder „schönste“. Als schönste Zeit sehe ich immer noch meine Studentenzeit. Man hatte nichts und konnte nichts verlieren. Jetzt hat man wieder nichts und kann doch alles verlieren. Ist das nicht tragisch? Gut, über die Zeit frei verfügen zu können, wenn einem viele Dinge, die Gründe sollen hier unerwähnt bleiben, nur noch Erinnerungen sind? OK, man muss sich bescheiden. Geht auch. Wie sagt unsere Kanzlerin? Wir schaffen das! Danke und LG von Giltis.

 TassoTuwas (17.10.17)
Tatsächlich kenne ich mehr alte Säufer als alte Ärzte.
LG TT
P.S. Bemerkungen an dieser Stelle zu meinem Umfeld empfände ich als unpassend!

 GastIltis äußerte darauf am 17.10.17:
Hallo Tasso, ich kenne viele (z.B auch meine Frau, bleibt aber unter uns), die sind Arzt und Patient in einer Person. Ersteres aus eigener Erkenntnis und letzteres aus Erfahrung des Vorgenannten. Solange kein Alkohol im Spiel ist (das ist weniger als bei mir der Fall und ich lebe nahezu abstinent), besteht keine größere Gefahr. Rückschlüsse auf deine Person verbieten sich da von selbst.
Danke und in diesem Sinne! Giltis.

 ManMan (17.10.17)
Mit diesem wunderbaren Gedicht von Graßhoff "tief im Urwald Brasiliano" habe ich auf Lesungen schon viele alte Leute aufgeheitert. Sehr alte Leute, weil ich im Altenbereich tätig war. Manche haben herzlich gelacht - und sind doch bald gestorben. Also: Tief im weiten Internetto
schreibt GastIltis um die Wetto
an sein Schatz.
Schatz will das nicht länger lesen
reitet zu ihm auf dem Besen
und macht Schmatz.

oder so ähnlich.... (Bin unvollkommen, schreibe nur auf KV)

Aber der Text ist gut. Meine Empfehlung!

 GastIltis ergänzte dazu am 17.10.17:
Hallo ManMan, ich glaube es nicht. Endlich kennt jemand Fritz Graßhoff. Abgeschrieben haben wir die Halunkenpostille. Mit der Hand! Meine Mutter hat zwei kleine Büchlein „Halunkenbrevier“ und „Gaunerzinken“, als sie irgendwann als (Invaliden-)Rentnerin in den Westen fahren durfte, herüber geschmuggelt. Könnte 1969 gewesen sein.
Welch eine Freude! Vor allem deine gereimten Zeilen. Ein Labsal für meine geschundene Seele (leicht übertrieben). Mit deiner Unvollkommenheit kann ich wetteifern. Siehe meine Startseite. Danke und sei herzlichst gegrüßt von GastIltis.
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