Nachkriegsgeschichten. Kohlenklau

Erzählung zum Thema Diebstahl

von  EkkehartMittelberg

Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die Eigentumsdelikte an. Die Gründe dafür waren offensichtlich Hunger und Kälte. Vor allem in dem kalten Winter 1946/1947 froren die meisten Deutschen so, dass sie Güterzüge, die Kohle transportierten, auf Rangierbahnhöfen, an Steigungsstrecken oder in Kurven, wo sie langsamer fuhren, überfielen. Daran beteiligten sich auch die sogenannten anständigen Leute.

Die Menschen glaubten, dass ihnen der Kölner Bischof Kardinal Frings, der das siebte Gebot „Du sollst nicht stehlen“ für die äußerste Not ein wenig lockerte, mit seiner Sylvesterpredigt 1946/47 ein Alibi geliefert hatte. Seine Formulierung lautete: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann." http://www.rp-online.de/kultur/kohlenklau-mit-gottes-segen-aid-1.6494204     
                                                                                                                                                                                                                        Frings  hatte mehrere Einschränkungen gegenüber Diebstahl aus Gier gemacht. Man müsse sich in äußerster Not befinden, dürfe den Geschädigten nicht in gleiche Not bringen und bleibe zum Schadenersatz verpflichtet. Aber man könne anonyme Züge nicht schädigen, könne niemanden in Not bringen, wenn man Züge „erleichterte“ und wisse nicht, wem man Schadenersatz leisten sollte. So dachte die Mehrheit der frierenden Menschen damals und machte sich nachts mit sog. Bollerwagen (kleinen von Hand gezogenen Wagen aus Holz) auf den Weg, um der äußersten Not abzuhelfen.
Zu den Dieben aus Not gehörten auch meine moralisch gefestigten Eltern, die sich ohne den Segen von Frings wohl niemals getraut hätten, in „Wildwestmanier“ mit vielen Gleichgesinnten einen Zug zu „überfallen“. Sie wagten es sogar, mich über ihre Aktion zu informieren, weil ich allein im Hause zurückblieb. Ich nahm das gerne auf mich, denn ich war ein wenig stolz auf meine Eltern, die wie andere Eltern meiner Klassenkameraden aus der Volksschule sich nicht zu fein waren zu „fringsen.“

Meine Eltern waren gegen Mitternacht mit dem Handwagen aufgebrochen und ich war eingeschlafen, als mich gedämpfte Stimmen unterhalb meines Schlafzimmerfensters, wo ein Kellerfenster lag, weckten. Ich dachte, dass meine Eltern mit fetter Beute zurück waren und diese durch das Kellerfenster gleich in den Kohlekasten im Keller entladen wollten. Freudig grinsend näherte ich mich dem Schlafzimmerfenster und blieb vor Schrecken wie angewurzelt stehen.
Ein paar vermummte Gestalten machten sich offensichtlich an unserem Kellerfenster zu schaffen, um es aufzubrechen. Ich vermutete, dass sie ausbaldowert hatten, dass meine Eltern „auf Kohlenklau“ waren und dass die Gestalten dachten, dass sich bei uns irgendetwas Nützliches finden lasse.
Nachdem sich meine Erstarrung gelöst hatte, entschloss ich mich, im Keller das Licht einzuschalten, um die Diebe abzuschrecken. Aber am Fuße der Kellertreppe kam ich mit vor Angst schlotternden Beinen ins Stolpern, suchte  nach Halt an einem Regal und riss eine Kiste mit Einmachgläsern herunter, die laut klirrend zu Boden fielen. Damit hatten die Einbrecher, die wohl keine kaltblütigen Profis waren, nicht gerechnet, und als ich im Keller das Licht einschalten wollte, hatten sie schon die Flucht ergriffen.
Meine Eltern kamen mit reichlich Kohle nach Hause , waren aber schuldbewusst, weil sie mich allein gelassen hatten. Als ich etwas älter war, machte ich mir eine Moral auf diese Geschichte, die lautete: Wer fringst, darf sich nicht wundern, wenn man versucht, ihn zu befringsen.

© Ekkehart Mittelberg, November 2017

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Kommentare zu diesem Text

Bette (70)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Merci,Bette, ich habe bei Wikipedia dies gefunden: "Der Kohlenklau ist die Karikatur eines Kohlendiebes aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, mit der für sparsamen Umgang mit Energie geworben wurde. Die von Wilhelm Hohnhausen und seiner Werbeagentur Arbeitsgemeinschaft Hohnhausen in Stuttgart geschaffene Figur sollte vermitteln, dass derjenige, der Energie verschwendet, der Volksgemeinschaft Kohlen stiehlt. Sie bediente sich deutlich der Assoziation zum Schwarzen Mann." Vielleicht hanelt es sich bei dem Maler, mit dem deine Tante befreundet war, um diesen Wilhelm Hohnhausen.
Gruß
Ekki
Bette (70) antwortete darauf am 03.11.17:
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Bette (70) schrieb daraufhin am 05.11.17:
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Graeculus (69)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 03.11.17:
Danke, Graeculus. Ich teile deine Vermutung zu den Reparationsleistungen an die Alliierten, aber sie wird bestritten: "In dieser Notsituation „organisierten“ sich viele Kölner aus Güterwaggons und Lastwagen, die aus den Zechen des Ruhrgebiets kamen, Kohle zum Heizen. In der Bevölkerung hatte sich das Gerücht verbreitet, der Großteil der in Deutschland geförderten Kohle würde von den Alliierten ins Ausland abgezweigt – eine falsche Behauptung, die aber nur zu gern geglaubt wurde, gab sie doch eine gute Rechtfertigung für die Selbstbedienung ab." https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article160660329/Fringsen-Als-ein-Kardinal-den-Mundraub-erlaubte.html

 TrekanBelluvitsh (03.11.17)
Ich kenne das aus Erzählungen meiner Großeltern auch noch "andersherum". Damals gab es im Ruhrgebiet auch noch Kleinstzechen. Wenn die eine Tonne zusammen hatten, wurde die in einen Waggon geladen und an die Stahlunternehmen verkauft. Nur waren die unteren Lagen in der Regel Erde. War wohl ne Art Schwindmaß...

Deine Moral gefällt mir. Denn in der Rückschau neigt man dazu, Dinge, die ziemlich übel waren, zu marginalisieren, von den üblen Lügengeschichten mal ganz zu schweigen. So geben meist die lustige Geschichten über den Krieg zum besten, die nie einen Schuss gehört haben.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 03.11.17:
Danke,Trekan, an diese verharmlosenden Kriegsgeschichten kann ich mich noch gut erinnern. Ich vermute, dass sie auch dazu dienten, das Grauen, das einige Erzähler vor Augen hatten, zu betäuben.
Die Geschichte mit den Kleinstzechen ist hochinteressant. Es wurden durch den Kohlenklau also auch welche geschädigt, die man nicht als Großkapitalisten bezeichnen konnte.
Sätzer (77)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Danke, Uwe: War das Torfstechen auch eine Art von Fringsen.? Oder bezahlte man dafür?
Sätzer (77) meinte dazu am 03.11.17:
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LottaManguetti (59)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Grazie, Lotta. Leichtigkeit ist ein sehr schönes Kompliment für einen Erzähler.
Freilich ist die Entschuldigung eines Kardinals fürs Klauen, wenn auch eingeschränkt, pikant.
Liebe Grüße
Ekki

 TassoTuwas (03.11.17)
Ja, so war es damals.
Heute kann schon mal passieren, dass ein junger Zuhörer fragt:
"Eh Mann, warum haben die Leute denn nicht die Heizung aufgedreht?" ))
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Merci, Tasso. Ja, der Abstand junger Menschen von heute zu der existenziellen Not der unmittelbaren Nachkriegszeit ist selbst dann noch groß, wenn diese zu den Armen von heute zählen.
Herzliche Grüße
Ekki
Arbait_Müller (48)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Gracias, Aron, der "kriminelle Spieltrieb" erwacht halt schneller, wann da nix ist zu essen und zu heizen.
Arbait_Müller (48) meinte dazu am 03.11.17:
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 loslosch meinte dazu am 03.11.17:
ihr liebe leut, das war nackte not.

mein vater fuhr ende der vierziger mit nem kleinen ferkel richtung bremen und kam mit ner ladung heringen zurück. als eisenbahner zahlte er für die fahrt nix!

dazu eine anekdote: im abteil tropfte es von der ablage. die dame roch daran und fragte: ists whisky, ists sherry? - nein, bibbi vom terrie. (oder vom ferkel.)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.11.17:
So ist es. Brecht hatte schon recht: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral."
Sabira (58)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Grazie, Sigi, wenn Liebe Not lindern kann, stößt sie sich nicht an irgendwelchen Geboten. Sie handelt einfach. Das sehe ich ganz genau so.
Herzlichst
Ekki

 harzgebirgler (03.11.17)
wo ein frings gibt's auch nen weg
in den zeiten großer not
trotz manch göttlichem gebot -
dein text ist für der beleg.

beste abendgrüße
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Merci, Henning, es muss damals ein Lichtblick gewesen sein, dass sich ein bedeutender Theologe über die strenge Auslegung der Bibel hinwegsetzte zugunsten der Erhaltung des Lebens.
Ein heiteres Wochenende für dich
Ekki
wa Bash (47)
(03.11.17)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 03.11.17:
Lieber wa Bash
wie wahr , auch marode Banken klauen Kohle. Merci.

 AZU20 (04.11.17)
Ja, gefringst haben wir auch kräftig. Die Gläser blieben bei mir Gott sei Dank heil. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.11.17:
Merci, Armin. Das Fringsen übte in den ersten Nachkriegsjahren eine sozial verbindende Wirkung aus. Kaum zu glauben, aber wahr.
LG
Ekki

 Dieter_Rotmund (06.11.17)
Die Vor-Geschichte rund ums Fringsen ist doch sattsam bekannt, oder? Ich hätte diesen Teil kürzer gehalten, interessant wird es dann erst mit neuen Erfahrungen, erzählt vom Sohn von Leuten, die dies taten, das ist eine mit bisher unbekannte Perspektive.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.11.17:
Danke, Dieter. Deer Ausdruck fringsen kam 1947 in Mode. Ich glaube nicht, dass er den jüngeren Lesern bekannt war.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 06.11.17:
Das mag wohl so sein. Aber wenn Du wirklich auch die jüngeren Leser ansprechen willst, so musst Du die Einleitung erst recht straffer gestalten, sonst klicken die Dir weg...

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.11.17:
Nö, diese Befürchtung habe ich nicht. Es ist schließlich einer der meist empfohlenen Texte.
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