Vergangenes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt

Tagebuch zum Thema Erinnerung

von  tulpenrot

Ja, er ist wieder da – gleich am unteren Ende der Straße hat er seinen Stand mit Indianerschmuck und bunter Wollkleidung aufgebaut.  Seine Haare sind immer noch lang und voll, sein Gesicht glatt und rund. Nur einzelne Haarsträhnen sind grau geworden. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er gelebt hat, seitdem wir ihn das letzte Mal gesehen haben.
„Mit zusätzlicher Schauspielerei und Pantomime“, erklärt meine Tochter. Sie verehrt ihn. Er ist so anders als all die anderen Händler. Das gefällt ihr. Ich stehe abseits und warte, bis sie genug erzählt und gehört und sich verabschiedet hat.

Wir waren jahrelang nicht in unserer Heimatstadt auf dem Weihnachtsmarkt. Dabei gibt es bestimmte Dinge nur hier: Die Straßenbeleuchtung aus Herrnhuter Sternen, die besonderen Kartoffelchips mit zweierlei Soßen, die Lachs- und Forellenbrote vom Fischerverein und dann den Kirsch-Käsesahne-Kuchen im Café, den wir schon seit 30 Jahren essen. Und den südamerikanischen Indianer mit den freundlichen dunklen Augen.

Und dann all die anderen, die wir gut oder nur flüchtig kennen. Wie geht es dir? Was machen deine Kinder? Jeder hat eine Geschichte. Der Sohn ist verunglückt, die Tochter hat geheiratet und erwartet das erste Baby. Der Ehemann sitzt immer noch im Rollstuhl, die Schwiegertochter hat Krebs. Wir haben nicht viel Zeit zur Unterhaltung, jeder eilt weiter, will gucken, was man noch brauchen könnte. Man möchte gesehen werden, will andere Leute begrüßen.
Dann tragen sie ihre Geschenke nach Hause. Ihre Geschichten nehmen sie mit.
Und wir waren nur Gasthörer.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Annabell (08.11.17)
Serh schön geschrieben, dafür ein *chen.
Liebe Grüße in den Abend von
Annabell

 tulpenrot meinte dazu am 08.11.17:
Fein, das freut mich natürlich. Danke!
LG
Angelika

 GastIltis (08.11.17)
Liebe Angelika, schön, wenn es etwas zu sehen gibt. Und für die, die zuhören können, ist es etwas Besonderes. Du scheinst diese Gabe zu haben. Ja, wer sonst? LG von Giltis.

 tulpenrot antwortete darauf am 08.11.17:
Ja, ich höre gerne zu, das siehst du richtig. Aber manchmal möchte ich nicht nur "Gasthörerin" sein.
Danke für deinen Kommentar und das * und liebe Grüße
Angelika
Festil (59)
(09.11.17)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 tulpenrot schrieb daraufhin am 09.11.17:
Ich überlege: "frischgepflückt" soll es wohl heißen - aber frischgepflügt, bei dem das "t" schon abgerissen ist, ist auch sehr lustig Das ist wohl der nächtlichen Stunde geschuldet. ))
Sowas mag ich! Danke!

Viele Grüße zurück
Angelika

 AZU20 (09.11.17)
Gern gelesen. LG

 tulpenrot äußerte darauf am 09.11.17:
Danke und LG

 Jorge (09.11.17)
Es ist eine warme anheimelnde Atmosphäre in die man beim Lesen eintaucht.
LG
Jorge

 tulpenrot ergänzte dazu am 10.11.17:
Es hätte dir auch im realen Leben gefallen...
Danke und LG
Angelika
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram