Der altmodische Mann

Gedanke

von  Soshura

Es war früh. Im Hintergrund die erdrückende Weite dessen, was scherzhaft ein Ehebett in der Dämmerung genannt wird. Die Sonne kroch fast ein wenig mühsam über den Horizont hinweg, als er genau heute morgen, wie jeden Morgen um die gleiche Zeit - zu welcher an anderen Tagen die Sonne allerdings längst seine Augen gekitzelt hätte, oder sie vielleicht ein wenig mit seiner Phantasie zu spielen erhoffte - gerade eben, exakt 5:45 Uhr, um es so zu sagen, Folgendes tat. Mit Daumen und Zeigefinger erfühlte er in der Dämmerung den Griff einer der beiden, dem riesig anmutenden Schrank als Portal dienenden Türen. Es war die Linke. Er wußte genau, wie fest er zuzufassen hatte, um der Tür auch heute wieder seinen Willen aufzuzwingen. Die, die seit Anbeginn ihrer Zusammenarbeit, welche im Allgemeinen daraus bestand, dass er nach Gutdünken bestimmte, wann offen und wann geschlossen war, ihm stets gute Dienste geleistet hatte. Manchmal oblag es sogar einem Hauch von Etwas, dass im Entferntesten vielleicht ... um nicht sogar nur den Schein dessen zu repräsentieren, was manch anderer schon als Freude empfindet, dass er die Tür nur kurz öffnete und danach sofort wieder schloss. Zwei, dreimal hintereinander. Er genoss den Lufthauch, den der nach Norden ausgerichtete Schrank bei der plötzlichen Bewegung des Fächers freigab, und der sein Antlitz sanft streichelte. Immer und immer wieder.

Heute war es nicht so. Nicht weil es niemals genauso wie vorher ist, sondern weil es anders war. Er öffnete den Schrank, bemerkte dabei noch nicht einmal, dass er hätte viel weniger Kraft aufwenden können, um zum Ziel zu gelangen, und griff zielgerichtet hinein. Er hätte es ebensowenig zielgerichtet tun können, um jenes Ziel zu erreichen. Und er wußte seit Jahren, dass dem so ist. Vielleicht war es auch nur eine Erinnerung an eine Zeit, wie sie hätte sein können, die er mit dieser Handbewegung sozusagen vorbeiwischte, indem er sich auf ein Ziel konzentrierte, welches dem Gefühl widersprach, seine Hand sanft über die Reihe der aufgehängten Hemden hinweggleiten zu lassen, im Augenblick die weiche und einladende Sanftheit der Schultern und auch den Widerstand der gestärkten Kragen zu fühlen. Mit seiner zufälligen Beute in der Hand schloß er mit der Anderen das Portal. Das Linke. Ordnung muss sein!

Mehrere Millionen von Augenblicken später, die allerdings in ihrer Gesamtheit nicht mehr als Wurzel aus zwei Augenblicke darstellen können, was manchmal sehr sehr lange dauern kann, um dies zu begreifen, verspürte er jenen verspielten Lufthauch der Erinnerung als den Abschluß seines, zumindest sachlich sehr erfolgreichen Unterfangens. Er hielt die hemdsärmelige Beute in der Hand und war plötzlich ein wenig irritiert. Schuld daran war dieses Streicheln, dass ihn wiederum auf eine Reise entführte, in deren Verlauf er sah, wie er unzählige Male jenes zerknitterte Etwas, das irgendwann einmal ein neues Hemd war, das er in seinen Händen hielt, wieder in den Schrank hängte, indem er mit der Linken langsam die Tür öffnete und sorgfältig und gewissenhaft den Bügel samt Knitterhemd in das Heer jener einreihte, deren Uniformität daraus bestand, dass sie alle weiß, zerknittert und irgendwann einmal neu gewesen waren. Er sah sich selbst, wie er in den Stapel daneben griff, dort wo die Knitter nur sanften Falten glichen, die nach kurzem Eintragen nur die Neuheit unterstrichen. Immer wieder, und doch nur höchstens Wurzel(2) Augenblicke lang.

In diesem Moment, der verglichen mit den anderen, nur eine Millionstel Augenblicke andauerte, obwohl von Dauern sicher hier nicht mehr und nicht weniger die Rede sein kann, passierte etwas. In diesem Moment schien genau Eines von ungefähr 25.367 Barthaaren, die oberflächlich gesehen, direkt zu seiner Männlichkeit gehörten, aufgrund seiner besonderen Form, welche darin bestand, dass Ihre Spitze im Kreisbogen quer über die Wange genau wieder auf die Haut traf, dass jenes Barthaar sich dazu hinreißen ließ, nachdem jener geheimnisvolle Lufthauch des Fächers der Schlafzimmerschrankportals sie, die Spitze der vollendeten Kurve dazu aufforderte, mit ihm einen windgeführten Tanz zu wagen. Dieser Reiz, der daraus entstand, war unaufhaltsam.

Wie und was diesem Kitzeln auf seinem Weg durch jedes einzelne Fäserchen bis hin zum Kragenplatzen begegnet sein mag, erfüllte alles, was er je erlebt zu haben glaubte.

"Warum kannst Du nicht mal endlich meine Kleinigkeiten ausbügeln?!"

Zugegeben, die Antwort selbst schien - obwohl dies völlig unabhängig anderer Tage zu betrachten ist, da die Uhrzeit die gleiche und sie zudem die Augen geschlossen hatte - sehr wohlwollend.

"Schatz, ich liebe Dich, auch in diesem neuen Hemd!"


Anmerkung von Soshura:

Thema: Dämmerung

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (01.12.17)
was sich im dämmerlicht vollzieht
oft auch das licht des tages flieht.
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