Kapitel 1: Dioncounda

Kurzgeschichte zum Thema Wahnsinn

von  BLACKHEART

Die Sahara. Tagsüber glühende Hitze, nachts eisige Kälte. Die vier Brüder wissen nicht, wie lange sie schon unterwegs sind. Die Vorräte werden knapp, das Wasser ist bereits rationalisiert.
Stumm folgen sie der Nadel ihres Kompasses, ein Familienerbstück, das noch aus der Kolonialzeit stammt, Richtung Nordnordwest. Von Marokko aus wollen sie es irgendwie über die Meerenge schaffen. So der grobe Plan.
Schritt für Schritt im schier endlos scheinenden Sandmeer. Düne um Düne kämpfen sie sich nach oben, immer in der Hoffnung von der nächsten Anhöhe aus das Ende des Sandes am Horizont zu erspähen. Grün ist die einzige Farbe, die sie sehen wollen. Grün, die Farbe der Hoffnung.
Dioncounda, der seinen Brüdern etwas voraus ist, hat die Spitze der nächsten Düne bereits erreicht. „Wasser!“ ruft er plötzlich mit matter Stimme. Dann mobilisiert er seine letzten Kräfte und läuft los, so schnell es der heiße Sand erlaubt. Ungläubig schauen sich seine drei Brüder an und beeilen sich, ebenfalls die Spitze der Düne zu erreichen.
Der Anblick, der sich ihnen bietet, ist grauenhaft. Dioncounda kniet am Fuß der Düne und schöpft  mit seinen Händen Wüstensand, den er gierig hinunterschluckt. Fast scheint es, als würde er trinken.
Als die anderen drei Brüder ihn erreichen, ist es bereits zu spät. Mit erstickender Stimme stammelt er ein letztes Mal das Wort “Wasser“, bevor er einen Schwall Sand erbricht und daran erstickt.
Die Brüder wissen, dass sie nichts mehr tun können. Sie teilen stumm die Lebensmittel und Wasservorräte ihres Bruders unter sich auf, der ihnen mit weit aufgerissenen Augen dabei zusieht.
Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa, die bis dahin immer in seinen Augen geleuchtet hatte, wich in seinen letzten Minuten einem Wahnsinn, der nun blind in die Wüste hinaus starrt.
Einer tot, drei folgen. Es ist Frühling in der Sahara.

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