Kapitel 3: Boubacar

Kurzgeschichte zum Thema Meer

von  BLACKHEART

Einhundertdreiundfünfzig. So viele Menschen sitzen in diesem Gummiboot, das ziellos auf dem Mittelmeer treibt. Einer von ihnen ist Boubacar. Sein Bruder Amadou hat es auf diesem Weg bereits geschafft und wartet in Frankreich auf ihn. Ein Blick auf den Kompass verrät Boubacar, dass das Boot Richtung Nordost driftet. Vorher war es zwei Tage lang fast gerade nach Norden gefahren. Wobei “fahren“ eine Übertreibung ist. Teilweise fühlte es sich so an, als ob sich das Boot nicht von der Stelle bewegen würde.
Aber jetzt nimmt es Fahrt auf. Der Wind frischt auf und der Wellengang wird stärker. Einige Kleinkinder bekommen Angst und fangen an zu weinen. Doch ihr Weinen geht bald im Tosen des immer stärker werdenden Windes unter. Ebenso die Versuche der Mütter oder sonstigen Erwachsenen, die sich gerade in der Nähe eines solchen Kindes befinden, diese zu beruhigen.
Der Wind wird zum Sturm und die Wellen zu Hügeln, die Boubacar an die Dünen der Sahara denken lässt. Der Wahnsinn in den Augen von Dioncounda fällt ihm wieder ein. Ebenso der Ausdruck sterbender Hoffnung in den Augen von Chakour. Und das wache, helle Leuchten in den Augen von Amadou. Amadou, der irgendwo dort vorn an Land ist und auf ihn wartet.
Boubacar beißt die Zähne zusammen und klammert sich fester an den Rand des Bootes. Er hat nicht all das durchgestanden, nur um hier zu versagen. Wenn sein kleiner Bruder dieses Meer bezwingen konnte, dann ja wohl er erst recht. Ein kämpferischer Ausdruck tritt in seine Augen.
Er verliert diesen Ausdruck auch nicht, als das Boot kentert. Mit eisernem Willen schafft er es, wieder aufzutauchen. Da ist das Gummiboot. Nur wenige Meter von ihm entfernt treibt es auf dem Rücken. Boubacar kann nicht schwimmen, aber das hält ihn nicht davon ab, sich irgendwie in Richtung des Bootes durch das Wasser zu arbeiten. Mit letzter Kraft erreicht er den Rand des Bootes und versucht, sich daran hoch zu ziehen. Plötzlich trifft ihn ein nackter Fuß mitten im Gesicht. Boubacar verliert den Halt und rutscht zurück ins Wasser. Er versucht, den Mund über Wasser zu halten, aber seine Kräfte sind am Ende. Bis zuletzt hat er den kämpferischen Ausdruck in seinen Augen.
Dreie tot, einer folgt. Es ist Herbst auf dem Mittelmeer.

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