Frohe Weihnachten

Erzählung zum Thema Weihnachten

von  Remy

Bevor ich die letzte Treppenstufe erreiche, sehe ich bereits, dass die Tür einen Spaltbreit offen steht. Mal wieder niemand, der mich an der Tür begrüßt. In der Wohnung nehme ich einen dubiosen Geruch wahr. Es riecht nicht wie üblich nach Zigaretten, sondern nach einem Gemisch aus diesem und orientalischen Essen. Meine Tasche lasse ich im Flur auf den Boden fallen, hänge meine dünne Sommerjacke an den Kleiderhaken und drehe mich zur Seite, als ich bemerke, dass sich jemand  in mein Blickfeld geschlichen hat. Es ist nicht meine Mutter, es ist Ebru, die türkische Freundin und ehemalige Arbeitskollegin meiner Mutter. Der Name Ebru war für mich schon seit Jahren der unpassendste Frauenname, den ich kannte. „Ebru“ klang stehts wie eine Kreuzung aus einem „Emu“ und dem Wort „Brutus“, jedenfalls, ich wiederhole, vollkommen unpassend für eine Frau. Man bezeichnet als „Ebru“ auch den ersten Regentropfen, der beim Sonnenaufgang oder -untergang ins Meer fällt, aber in Wirklichkeit ist es im Türkischen die Bezeichnung für „Marmorpapier“ und „Augenbraue“. Sie lächelt mich an und sagt „Hallo, Frohe Weihnachten.“, ich betrachte ihre Augenbrauen, runzle die Stirn und nuschle, „Hi - wünsche ich dir auch.“.

Meine Mutter tappt schnell mit ihren kleinen Füßen aus der Küche, ich umarme sie und das Erste, was sie zu mir sagt, ist, „Warum sagst du Ebru nicht 'Hallo'?“. Ich überhöre die Frage, da meine Mutter ein festgefahrenes Bild von mir hat, meine Antwort würde nichts verändern, geschweige sie würde mich aussprechen lassen. Sie hat Ebru eingeladen, da sie vor kurzem ihren Finger beim Hinaufsteigen zweier Treppenstufen gebrochen hat. Immer wieder eine peinliche, aber nicht unübliche Geschichte. Deshalb ist sie nicht in der Lage zu kochen, was sie anscheinend ein bisschen traurig macht, aber trauriger macht sie, dass sie nicht mehr alleine ihre Zigaretten drehen kann, weswegen sie von ihrem letzten Kleingeld Filterzigaretten kaufen musste.

Im Hintergrund ist das Wohnzimmer. Den Arm meines Bruders, der sich ansatzweise im Türrahmen andeutet, ignoriere ich gekonnt. Trotzdem schlendere ich langsam ins Wohnzimmer und setze mich. „Warum begrüßt du nicht deinen Bruder?“, fragt mich Ebru. Meine Mutter antwortet, „Früher waren sie unzertrennlich, jetzt reden sie kaum mehr miteinander, ich weiß auch nicht wieso.“ „Denk mal drüber nach wieso!“, seufze ich unhörbar und verärgert. Die beiden stehen sich gegenüber und diskutieren über meinen Bruder und mich, während mein Bruder mit beiden Händen am Smartphone auf dem Sofa liegt. Noch immer reden meine Mutter und Ebru über uns als seien wir Taubstumme. Ich sehe die beiden an und werde lauter, „Könnt ihr mal aufhören, über uns zu reden? Wir sitzen direkt hinter euch!“. Beide antworten nicht und verschwinden in der Küche.

Wie immer beginnt die Langeweile nach wenigen Minuten. Keine Weihnachtsdeko, kein Weihnachtsbaum, unter dem keine Weihnachtsgeschenke liegen, keine Gans im Ofen, keine Weihnachtslieder, keine Weihnachtsstimmung und trotzdem bleibt diese unangenehme Spannung in der Luft erhalten. Glücklicherweise ist der Tisch bereits gedeckt, das Weinglas vor mir und traditionell läute ich den heiligen Abend ein, indem ich eine Flasche Rotwein öffne, das Glas vollmache und einen kräftigen Schluck daraus nehme.

„Ist der Wein gut, den du gekauft hast, Daniel?“, „Ja, Mama, Sauvignon ist immer gut“, entgegnet mein Bruder, dessen Weinerfahrungen sich auf das jährliche Nippen an Heiligabend beschränkt. Er trinkt am liebsten den teuersten Grey Goose oder Belvedere Vodka, und das jedes Mal, wenn er feiern geht, also gefühlt dreimal die Woche. „Bullshit! Sauvignon ist nicht immer gut, außer man mag säuerlichen Wein und wer mag schon gerne säuerlichen Wein?“, sage ich. „Ja, kann sein.“, antwortet mein Bruder lakonisch und senkt seinen Blick wieder zum Smartphone. Meine Mutter schweigt dazu.

Mittlerweile sitzen alle am Tisch. Mein Bruder rechts neben mir, Ebru gegenüber, meine Mutter daneben. Beide kichern wie kleine Kinder, sie haben also bereits etwas getrunken. Das Telefon klingelt, meine Mutter springt auf. Ebru und ich beschweren uns, dass sie doch wenigstens ein paar Minuten sitzen bleiben könnte, bis wir das Festmahl beendet haben. Ich probiere das Reisgericht, kaue skeptisch und wende meinen Kopf zur Fensterbank. Dort sitzt meine Mutter und telefoniert mit ihrem neuen Freund, einem kroatischen Restaurantbesitzer. Morgen soll ich ihn kennenlernen. Sie benimmt sich wie frisch verliebt. Ich freue mich für sie, ärgere mich aber direkt wieder ein bisschen, da sie telefoniert und nicht mit uns isst. Mein Bruder, der sonst immer beim Besuch meiner Mutter der Gesprächigere von uns beiden ist, und zu gerne von seinen reichen Freunden spricht und erzählt, welches Auto sie geschenkt bekommen haben, wohin sie gereist sind oder was für ein dekadentes Essen bei ihnen heute auf dem Tisch stehen wird, ist heute ruhiger als sonst. Nur wenige Geschichten über das Leben seiner Freunde. Er wirkt genervt. Es fühlt sich ungewohnt an, weil ich ihn verstehe.

Um 18 oder 20 Uhr beginnt bei den meisten Familien die Bescherung. Wir beschenken uns nicht mehr, weil wir dafür kein Geld besitzen. Mein Bruder wollte aber, dass meine Mutter ihm ein Schneidebrett im Wert von siebzig Euro schenkt, aber meine Mutter musste ihn enttäuschen. Während sie und Ebru angeheitert miteinander reden, schweigen mein Bruder und ich. Ich fühle mich alleine, habe das Bedürfnis unter Menschenmassen abzutauchen, obwohl ich mich wohl auch dort alleine fühlen würde. „Fremd im eigenen Haus“, denke ich und beschließe wie mein Bruder die Feier zu verlassen. Nach zwei Stunden endet der heilige Abend. Zur Verabschiedung geben sich mein Bruder und ich uns wie echte Geschäftsmänner die Hand nach einem zwielichtigen Kaufvertrag unserer Toleranzgrenzen für den jeweils anderen. Meine Mutter bekommt zum Abschied eine liebevolle Umarmung und ein Rückenstreicheln als Geschenk. Ebru und ich verabschieden uns mit einem Lächeln und einem ernsthaft lieb gemeinten „Tschüss.“. Ich trete aus der Tür, steige die ersten fünf Stufen hinab, sehe nach oben zur Tür, die einen Spaltbreit offen steht und verlasse anschließend das Haus, öffne mein selbst gekauftes Geschenk, zünde es an und sehe zum beleuchteten Küchenfenster meiner Mutter hinauf und hauche aus, „Frohe Weihnachten.“.


Anmerkung von Remy:

geschrieben am 25.12.2015.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (23.12.17)
Lieber Remy,
obwohl in deiner Erzählung nichts Schlimmes passiert, stimmt mich das von dir geschilderte versachlichte Weihnachten traurig.
Aber das ist wohl Absicht und der Titel "Frohe Weihnachten" ironisch.
LG
Ekki

 Remy meinte dazu am 23.12.17:
Danke für's Lesen und Kommentieren. Schöne Feiertage!
Sweet_Intuition (34)
(23.12.17)
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 Remy antwortete darauf am 23.12.17:
Dankeschön für den Kommentar und das Lesen :) ich hoffe, dieses Jahr wird es unerwartet besser.
Graeculus (69) schrieb daraufhin am 23.12.17:
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