Auf der Suche nach einem Einäugigen

Erzählung zum Thema Glaube

von  Bluebird

Während meiner achtmonatigen Bibelschulzeit kam ich mir gelegentlich etwas kaserniert vor. Zwar konnte man sich in den freien Zeiten bis 22 Uhr außerhalb des Bibelschulgeländes aufhalten, aber außer einer schönen Umgebung zum Spazierengehen hatte das 6000 -Seelendorf Erzhausen nicht gerade viel zu bieten.
      So sagte ich denn auch sofort zu, als mich Frank aus der Oberstufe fragte, ob ich Lust hätte, an einem kleinen evangelistischen Einsatz im Frankfurter Rotlichtmilieu teilzunehmen. „Gut“, sagte er, „wir treffen uns um 18.30 Uhr bei mir im Zimmer um für den Einsatz zu beten."

In Franks Zimmer waren wir zu viert und beteten schon eine ganze Weile, als mir auf einmal ein Wort in den Sinn kam. Ich sagte zu den Anderen: „Mir ist gerade das Wort Einäugiger in den Sinn gekommen.“
    Gebetseindrücke sind in pfingstlerischen Kreisen nicht so ungewöhnlich und werden als Hinweise verstanden. „Vielleicht begegnen wir ja einem Einäugigen“, sagte Frank, „wir sollten dafür offen sein!“ Kurz darauf beendeten wir unsere Gebetszeit, setzten uns in Franks Auto und fuhren Richtung Frankfurt.

Wir kamen etwa gegen 20 Uhr am Zielort an und Frank gab jedem einen Stapel christlicher Traktate. „Am besten wir gehen umher und verteilen die, wenn sich die Gelegenheit bietet!“, meinte er.
    An sich keine schlechte Idee und eine übliche Vorgehensweise, aber ich merkte recht schnell, dass ich mich unwohl fühlte. Es war kaum jemand zu sehen und ein paar Angesprochene reagierten sehr abweisend.
    „Sorry“, sagte ich zu den Anderen, „aber ich spüre, dass ich mich irgendwie absondern muss. Auf eigene Faust agieren, den Einäugigen suchen muss“. Frank schaute mich überrascht an, sagte aber dann: „Ist gut! Gegen 22 Uhr treffen wir uns dann wieder am Auto. Sei pünktlich!“
      Erleichtert verließ ich die anderen Drei und ging Richtung Römerplatz los. Den kannte ich noch ganz gut vom Kirchentag, der einige Monate zuvor stattgefunden hatte. Ich verteilte einige Traktate, merkte aber, dass ich weiter musste. Und so lief ich im Blindflug durchs abendliche Frankfurt, mich aber in der Innenstadt haltend. Wo war der „Einäugige“? Er tauchte einfach nicht auf!

Etwa gegen 21.30 Uhr entschied ich, dass ich langsam den Rückweg antreten sollte. Aber in welche Richtung musste ich gehen? Ich stand in einer menschenleeren Straße und hatte etwas die Orientierung verloren. Den nächsten Passanten würde ich ansprechen.
    Ich sah einen Mann um die Ecke biegen, ging auf ihn zu und erschrak! Der Mann trug ums linke Auge einen Verband mit schwarzer Augenklappe. Der "Einäugige" stand vor mir. Ich hatte die Stecknadel im Heuhaufen gefunden.
    „Entschuldigung“, sagte ich, „darf ich Sie kurz etwas fragen?“ Der Mann stoppte überrascht und schaute mich fragend an. „Wissen Sie den Weg Richtung Hauptbahnhof?“

Der Mann gab bereitwillig Auskunft und als er fertig war, dankte ich und fragte: „Was ist mit Ihrem Auge?“ „Ach“, sagte er, „eine OP. Ich bin heute aus dem Krankenhaus entlassen worden. Das wird schon wieder!“
    Ich erzählte ihm von meinem Gebetseindruck und dass ich auf der Suche nach einem „Einäugigen“ in Frankfurt unterwegs wäre. Der Mann blickte mich erstaunt an.

    „Glauben Sie an Gott?“ fragte ich ihn. „Ja, irgendwie schon! Aber ich bin kein Christ und auch kein Kirchgänger“, lautete seine Antwort. „Ich würde gerne für Sie beten“, sagte ich. „Sind Sie einverstanden damit?“ Er nickte.

Und so kam es, dass ich dort auf dem Bürgersteig für seine Genesung und sein Heil unter Handauflegung betete. Danach reichte ich ihm ein Traktat und verabschiedete mich. „Danke!“, sagte er. Und irgendwie schien es mir, als ob ihn ein göttlicher Lichtstrahl getroffen hätte, so sehr hatte sich sein Gesicht erhellt.
    Freudig machte ich mich auf den Weg zurück zum vereinbarten Treffpunkt.


Anmerkung von Bluebird:

Folge 89 meiner autobiografischen Erzählung (1985 - ...)

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Frühere bzw. ältere Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(16.01.18)
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 Bluebird meinte dazu am 16.01.18:
Ja, manchmal bedarf es eines langen Atems eine Sache in einer etwas ausführlicheren Weise darzustellen .....aber es wird ja keiner gezwungen Alles zu lesen ... Rosinenpickerei geht auch ... es sind viele kleine Einzelgeschichten aneinandergereiht.

 Dieter Wal (16.01.18)
Fand keine Tippfehler. Suchte auch nicht nach ihnen. Mir stach bei oberflächlicher Lektüre stilistisch nichts unangenehm ins Auge. Weder ins linke noch das rechte, was bei einer solchen Story wohl auch besser ist. Könnte ins Auge gehen. Doofer Witz.

Der Inhalt sagt viel und wenig. Ein frommer Mann im biblizistischen Umfeld als "Jäger nach dem verlorenen Schatz" seiner Intuition: "Einäugiger".

Und kein echtes Wunder: Er findet ihn im riesigen Frankfurt. Dass das Anliegen des Erzählers laut Erzählung vom Überraschten positiv aufgenommen wurde, kann ich nachvollziehen. Er fand es wohl rührend und nett, dass er für ihn betete. "Ein harmloser und freunlicher Verrückter", könnte er sich gedacht haben.

Gefällt!

Skurril, bekloppt, sympathisch.

Kommentar geändert am 16.01.2018 um 23:56 Uhr

 Bluebird antwortete darauf am 17.01.18:
Manches Lob ist - bei genauerer Betrachtung - eher ein gezielter Hieb ... dennoch habe ich mich gefreut ... zwar geht es mir in erster Linie um die Vermittlung von "Inhalten", aber der schriftstellerische Aspekt ist mir nicht unwichtig

 Dieter Wal schrieb daraufhin am 17.01.18:
"Ein harmloser und freundlicher Verrückter" empfindest du als Hieb? Ist nicht böse gemeint. Deine Selbstskizzierungen wirken auf mich wie eine typische Narrenfigur nach dem Motto "Narr in Christus". Das Närrische erscheint mir gewollt und offensichtlich symstemimmanent, zumindest nach dem dargestellten Frömmigkeitsstil.

Es gibt drei generelle Unterschiede zu Don Quijote:

1. Don Quijote ist eine fiktive Romanfigur. Der Autor bluebird behauptet von sich, identisch mit seinen Erzählungen zu sein (glaubwürdig).

2. Don Quijote las zu viele Ritterromane. bluebird liest vielleicht zu oft Bibel.

3. bluebird fehlt leider Sancho Pansa.

Sonst meine ich viele Gemeinsamkeiten zwischen Don Quijote und bluebird zu erkennen. Ich finde das nicht nur nicht schlecht, sondern faszinierend. Ich liebe den Roman.

Antwort geändert am 17.01.2018 um 19:24 Uhr

 Bluebird äußerte darauf am 17.01.18:
Dein Versuch mich in die Kategorie "Witzfigur" einzusortieren, ist nicht ungeschickt ... persönlich sei dir das sogar gestattet, so viel "Gunst" muss sein .... aber natürlich möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass mein Selbstbild ein wenig anders aussieht

Ich sehe mich als jemand, der a) versucht wahre Begebenheiten präzise unterhaltsam wiederzugeben und b) dabei eine Wirklichkeit hinter der offensichtlichen Wirklichkeit erkennbar werden zu lassen .... ohne dabei frömmlerisch oder biblizistisch rüberzukommen.

Schade, das es mir noch nicht gelungen ist dein auf mich projiziertes Bild eines typisch bibeltreuen Christen aufzulösen .... aber das kommt ja vielleicht noch

 Dieter Wal ergänzte dazu am 17.01.18:
Don Quijote ist definitiv keine Witzfigur.

https://de.wikipedia.org/wiki/Don_Quijote

Lies den Roman. Darin finden sich zahlreiche wörtliche Zitate aus dem NT. Es ist pure, lebensfrohe Erzählung.

 Dieter Wal meinte dazu am 17.01.18:
"b) dabei eine Wirklichkeit hinter der offensichtlichen Wirklichkeit erkennbar werden zu lassen .... ohne dabei frömmlerisch oder biblizistisch rüberzukommen."

Lese gerade E. Cardenals "Buch der Liebe". Das gelingt ihm darin unendlich farbenfroh, facettenreich und elegant. Dürfte dir gefallen.

 Isensee (16.01.18)
Finde deine Schreibe großartig.
Hab die Kirche nie so Spirituell erlebt.

 Bluebird meinte dazu am 17.01.18:
Danke ... es ist in der Tat von mir beabsichtigt, meine "Gotteserfahrungen" ohne großes frommes Brimborium erkennbar werden zu lassen
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