Waldeslust

Sonett zum Thema Traum/ Träume

von  Walther

Waldeslust

Ich stehe im bemoosten Schatten alter Bäume
Und rufe mir die Lebensängste launig zu;
Im dunklen Walde herrscht wie immer Waldesruh.
Am Ende habe ich wohl nur die schlechten Träume

Der Kindheit ausgepackt und in die Nacht geworfen.
Dort stehen sie und lehnen an der krummen Eiche
Und spielen mit sich und mit meiner bleichen Leiche:
Sie lassen mich die kaltschweißnassen Bilder morphen,

Zusammenpixeln in ein graublauschwarzes Splittern,
In dem die aasverzückten Maden schlürfend zittern.
Dann wache ich und greife mir an meine Stirn

Zerfrage mich, was macht der Wahn mit einem Hirn.
Ich rufe mich zur Ordnung, kleide mich in Zwirn,
Um meinen Ariadnefaden zu entwirrn.

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Kommentare zu diesem Text

fdöobsah (54)
(19.01.18)
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 Walther meinte dazu am 20.01.18:
hi fdöobsah,
danke für deinen langen kommi. du hast viel zeit in diesen text gesteckt, der dir so gar nicht schmeckt. das ehrt dich. nun das aber:
"Träum ich oder wach ich" ist s1v1 eines gedichts von Fallerslebens, quelle hier: http://www.von-fallersleben.de/traeum-ich-oder-wach-ich-wieder/
Waldeslust ist ein deutsches volkslied. quelle hier: https://www.lieder-archiv.de/waldeslust-notenblatt_600041.html
Morphen: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/morphen und pixeln: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/pixeln sind verben aus der grafischen bildbearbeitung.
Ariadnefaden: https://de.wikipedia.org/wiki/Ariadnefaden - dieser steht in diskussion zum "in Zwirn" - verkürzt aus "in bestem Zwirn"

aus dieser vorrede wird sicherlich klar, daß der bescheidene sonetter sich in seinem ca. 1.300sten sonett gedanken gemacht hat, was er schreibt, wie er es schreibt und warum er es genau so schreibt. er verfolgt sogar eine dezidiert ausgestaltete und wohlüberlegte poetik. und, ja, noch schlimmer, er mutet seinem leser etwas zu. das darf er. das soll neben dem hinweis, daß der tod schlafes bruder ist und daß der heutige sonetter den vor- und den nachteil hat, auf begrifflichkeiten, bilder und traditionen aus der sonettgeschichte im allgemeinen und der deutschen poesie im besonderen zuzugreifen und sich aus diesem wunderbaren, überbordend gefüllten werkzeugkasten sich zu bedienen.
ich gebe zu, ich liebe dieses spiel.

nun zur behauptung, das sei kein sonett. nun denn, liebe leserschaft, lieber kritiker, aber selbstredend ist das eins, und was für eins. aber eben, wie sich das eigentlich auch gehört, eines von heute (und keins von gestern oder vor- oder gar vorvorgestern), das sich in herzenslust aus der vorhandenen metaphernkiste sowie der der istzeit bedient, damit das assoziationsgewitter losbrausen kann.

s1: außensicht / these / perspektive 1, übergang mit strophenübergreifendem enjambement
s2: innensicht / antithese / perspektive 2, übergang mit strophenübergreifendem enjambement
s3/terzett 1: überleitung zur conclusio mit strophenübergreifendem enjambement
s4/terzett 2: conclusio mit moral von der geschicht - hier spielt ein wenig das Shapespeare sonnet hinein.
ich nehme mir die freiheit, wenn's paßt, auch unterformüberschreitend auszugestalten.

Elision, korrekt geschrieben (sollte man, wenn man schon einen solchen fachbegriff nutzt): https://de.wikipedia.org/wiki/Elision der artikel ist übrigens durchaus lesenswert. ich gestatte mir, festzuhalten, daß das die einzige elision ist. im sprachgebrauch, beim vortrag des gedichts, spielt sie keine rolle, daher habe ich sie auch ohne zu zögern verwandt.

nun zum metrum: lupenreiner sechshebiger jambus in der Gryphius-Fleming-Opitz-tradition. die barocksonetter mochten dieses versmaß gerne, weil das diesen dunkeln unterton der schwermut und des memento mori wunderbar nachklingen läßt. hier wird dieses metrum ein wenig ironisierend verwandt, korrespondierend mit der exaltiert-expressionistisch gefärbten verwendung bestimmter adjektive und metaphern. neologismen gestatte ich mir, wenn sie bildhaft und exakt genau das aussagen, was ich erreichen möchte. "zerfragt" ist daher dort, wo es steht, auch unverzichtbar.
zum sog. hebungsbruch in s2v3. den jibbet nich. das metrum läuft wie geschmiert. die frage ist, wie will ich als deklamierender diesen vers rhetorisch zum vortrag bringen. hebungsprall und daktylische elemente in langen metren wie dem sechsheber verhindern das leiern. hier hat der vortragende, es gibt noch einige weitere stellen, die man interessant lesen könnte, möglichkeiten, das ironisch-zynische des inhalts zu unterstreichen.

langer rede, kurzer sinn: "Wer Bescheid weiß, kann ihn geben." einer meiner aphorismen für solche fälle. soll heißen: wer nicht bescheid weiß, sollte es lassen.

lg W.

Antwort geändert am 20.01.2018 um 12:17 Uhr

 GastIltis (23.01.18)
Hallo Walther,
als ich das letzte Mal die Zahl deiner verfassten Sonette zu Gesicht bekam (da war sie noch dreistellig), war ich schon vor Ehrfurcht gefesselt. Jetzt mit über 1300 bin ich insofern platt, weil ich selbst dieser Kunst nicht mächtig bin. Zugegeben. Dennoch, sich dem Wohlklang der Worte und der Logik der Zeilen, auch bei solch einem etwas trüberen Stoff, nicht zu stellen, finde ich schon, selbst für Hobbypoeten, eigenwillig. Besonders, da das Thema Traum/Träume eigens dafür geschaffen scheint, dass sich jemand wie ich in den letzten Wochen gelegentlich nachts genau damit am Rande von (fiebrigen Wahn-)Vorstellungen herumgeschlagen hat. Wenn man weiß, dass es an Sonett-Kundigen in nahezu jedem Forum nicht gerade „wimmelt“, aber doch herausragende Vertreter gibt, bin ich etwas überrascht über die nicht gerade geäußerte überschäumende Begeisterung. Ist es der Stoff? Fehlen die Farben, schöne Dinge, die Sehnsucht, die Sterne, das Überraschende? Ich weiß es nicht. Mich jedenfalls hat dein Sonett schwer beeindruckt. Ich hoffe auf mehr.
LG von Gil.

 Lala (23.01.18)
Düster und modrig, mag ich. Auch das Spiel zwischen „Wach ich?“ oder „Träum ich?“.

Interessiert habe ich daher fdöobsahs Kritik und Deine Replik gelesen. Die Hebungen und Senkungen und wer sich da mit wem paart, erspar ich mir. Verdutzt war ich aber schon, als ich Deine – moment ich kopier sie mal –„ Elision“ mit der von fdö – kopier ich auch mal – „Elision“ verglich. Habt Ihr Euch beide verschrieben oder keiner oder ich bin blind?

Da wäre ich dann auch bei dem ersten meiner Probleme, mich in Dein Bild – ich nenne es mal so – hineinzufühlen. Da steht gleich zu Beginn das LyrI im Schatten(!) bemooster Bäume. Aber dann heißt es Lyri hätte schlechte Träume in die Nacht geworfen. Nachts steht er im Schatten bemooster Bäume eines dunklen Waldes? Das zwängt sich mir nicht so richtig auf, aber das ist ja anscheinend gewollt, denn der Widerspruch zwischen dem launigen Rufen und der beharrlichen Waldesruh ist ja auch da. Eine komische Launigkeit angesichts der Düsternis.

Die Widerspüchlichkeiten bestehen fort denn Kindheitsträume würde ich eher positiv besetzt sehen, hier aber sind es gerade die Albträume der Kindheit, die einen – bis in den Tod? – verfolgen. Das mit sich spielen, finde ich auch nicht glücklich. Aber ich reimte mir zusammen, dass die unangenehmen Erinnerungen aus der Kindheit den Meister hier sein Leben lang verfolgen und ein böses Spiel mit ihm spielen – und da es nur eine Person ist, spielt die dann eben mit sich?
Und wenn eine seiner Erinnerungen in tausend Teile zerbrochen, weggeklickt ist, fügt sich gleich die nächste schlimme Erinnerung daraus zusammen, wie ein endloser Strom tausender (digitalisierter) Bilder (Foto als Metapher für eigefrorene Erinnerungen). Diese alten aber nicht verblichenen Erinnerungen sind wie Maden. Sie laben sich an ihm und lassen ihn erzittern. Schaut da wer am Lebensabend am PC erst gutgelaunt alte, digitalisierte Fotoalben durch und wird von etlichen, schlechten Erinnerungen heimgesucht, die ihm so plastisch widerfahren, dass er nicht mehr weiß, ob er wach ist oder träumt?
Dann reißt er sich los und bringt sich wieder in Form, zwängt sich in seine Uniform und versucht seinen Faden, seine Biographie – ohne die schlechten Erinnerungen – wiederzufinden, seine Lebenslüge?, um aus seinem Labyrinth der Lügen zu entkommen? Das Erinnern verwirrte seinen Ariadnefaden, seine sonst so bequeme Lösung aus seiner eben nicht so heldenhaften Biographie? Das Vergangene, als dunkler Wald?

Du siehst ich kämpfe mit dem Text und ich finde ihn sehr sperrig – aber das kann ja beabsichtigt sein und will nichts heißen – aber ich finde meine Interpretation auch sperrig, weshalb ich insgesamt auch nicht glücklich werde.

Kommentar geändert am 23.01.2018 um 16:16 Uhr

 Walther antwortete darauf am 23.01.18:
hi lala,
elision - ich hatte elsion gelesen, nun denn. danebenliegen kann jeder. sorry. aber die erläuterung ist dennoch lesenswert - und darum ging's im kern.
wie schreibt man im jahr 2018 sonette? wie Opitz, wie Gryphius, wie Rückert, wie Schiller, wie Goethe, wie Schelling, wie von Platen, wie Heine? Wie Rilke, wie Trakl, wie Karl Krauss, wie Gernhardt, wie ...? gute frage. bei einer derartigen tradition eine form zu entstauben, ist ein wagnis.
oben steht ein solches wagnis. sperrig, doppelbödig, mit einer eigenen poetik, die sich in und über die form legt. ich finde es interessant, daß sich vor allem an dem gestört wird, was unerwartet ist. genau das ist der sinn der übung: erwartungen aufbrechen.
unsere welt ist eine andere, unsere sprache und bezüge. aber: wir tragen, auch in unserer DNA, die ur- und frühzeit, hier den hof Friedrich des II auf Sizilien, in uns, auch die sonettform trägt diese "eierschalen" mit sich herum. trotzdem gibt es heute nur noch fliegende dinos - die vögel.
also: das gefühl, das du beschreibst, wollte ich hervorrufen. jetzt mußt du dich fragen und mir sagen, ob dieses experiment den aufwand wert ist, nicht mehr und nicht weniger.
ich weigere mich übrigens zurecht, meine gedichte mehr als in ihrer struktur und in der herstellungsphilosophie auszulegen. warum? weil meine texte im leser fertiggeschrieben werden. dieses haikueske element der poetologie, die hier meinem schreiben steckt, ist volle absicht. jeder leser schreibt also, durch das signposting des textes angeregt, "seine eigene poesie", die sich von mal zu mal verändert, je nach situation und lebensgefühl, wenn der text gelesen wird.
einfach mal testen. meistens funktionierts.
lg W.

Antwort geändert am 23.01.2018 um 18:18 Uhr

 Lala schrieb daraufhin am 23.01.18:
Leidenschaftlich finde ich gut und sehr sympathisch.
Auch toll, dass Du nicht epigonal schreiben willst, Super. Verstanden.
Was ich auch genau so sehe ist, dass jeder Text, der hier veröffentlicht wird, sich im Augenblick seiner Veröffentlichung von seinem Autor emanzipiert. Spitze.

Was kaum ein Autor hier versteht ist: Alle Texte gehören mir, dem Leser.

Du hast vollkommen Recht damit, wenn Du schreibst, dass der Leser sich jeden literarischen Text zu Eigen macht und ihn für sich vollendet – mit welchen Attributen und Gefühlen er das auch tut. Konsequent zu Ende gedacht, heißt das auch: meine Texte gehören mir nicht mehr.

Ich bin genauso Leser meiner Texte, wie alle anderen auch. Unterschied: ich habe Schreib- und Änderungsrechte ihrer aktuellen Form. Das ist aber auch schon alles.

Daraus folgt: Wenn ein Leser unter einen Text, der zufälligerweise in meiner Obhut ist, schreibt: ich dachte an Vanilleeis und Kaffeecreme als ich das gelesen habe, dann kann ich schreiben: ich nicht, und ich glaube auch nicht, dass man das herauslesen kann, aber bei so schönen Gefühlen freue ich mich, dass anscheinend nur der Klang des Textes solche Wonne ausgelöst hat. Und dann schreibe ich als änderungberechtigter Leser, dass ich niemals an solchen Süßkram gedacht habe, sondern an Schwermut, Melancholie und die Tötung meiner Schwiegermutter.

Nehmen wir den umgekehrten Fall: Leser L tötete seine Schwiegermutter nachdem er „Ripper Ruh und Waldis Wacht“ von Autor W. gelesen hatte. So gab er bei Vernehmung zu Protokoll. Hmm. Wenn ich W. wäre, würde ich zum Anwalt des mir in Obhut gegebenen Textes werden und ihn gegen solchen Mist verteidigen. Vehement. Leidenschaftlich. So wie Du. Denn wenn ich nur Bilder und Gefühle vermitteln wollte, schriebe ich nur:

Vollschollschmolllmich
Edelglanzkristall
Rotzgelbsprenkelsplitter
Schmalzmeisenschlusslaubsaug

Nein, besser: noch

Schschschschschschschschshcldklakmrkurhsnwksuhv dakne

Da ist sofort klar: ein solcher Text braucht keinen Autor, Anwalt oder Obhut eines solchen. Beliebig. Wenn ich Dir das nicht vermitteln konnte, brauchst auch nicht weiter zu lesen. Falls doch:

Wenn wir alle nur Leser sind und alle Texte hier auf kV autonom sind, kannst Du, Walther, uns schon erzählen, was Du in Deinem Text siehst. Warum? Er gehört Dir nicht mehr.

Du musst natürlich nicht. Aber wenn Dein Text gut ist, dann garantiere ich Dir, dass er jeden Deiner Erklärungen locker wegsteckt. Es gibt den guten und richtigen Ausspruch: Einen Text besser verstehen als sein Autor.

Es sei denn, Walther, Du hast nur ein Rätsel, statt eines Gedichtes geschrieben. Es sei denn: Du hast nur einen Taschenspielertrick vorgeführt, eine Illusion geschaffen und fürchtest jetzt, Dein Text könnte von dem unbekannten Magier auf kV1 enthüllt werden? Dazu ist er aber zu stark.

So und nun zu der Frage aller Fragen: Hat Dein von Dir gehosteter Text, Gedicht, Sonett bei mir funktioniert? Ja und Nein.

Ja, weil ich mich in diesen Text reindrehen, reinwühlen und auch Faszination entwickeln konnte und mir ein Bild erschuf.

Nein, weil ich, als ich den Kopf wieder aus der Kiste nahm, sah, dass ich Formulierungen und Worte so lange auseinandergekaut habe, bis sie auf mich faszinierend wirkten.

Bestes Beispiel und erinnere Dich, als ich mir aus dem Wort Kaffeetasse in Deinem Gedicht „dümpeln“ eine Tasse erschuf, die mit Kaffee gefüllt war und in der nächsten Zeile schon bei der bildlichen Vorstellung der "braunen Masse" auf die Fresse damit flog. Braune Masse?

Marjolain (oder so ähnlich) wies mich auf meine zu weit gehende Interpretation hin und schrieb zu Recht: naja, so eine Kaffeetasse kann ja auch Tee oder Kakao beinhalten und auf einmal war das Bild der braunen Masse wieder OK, weil ich keine mit Kaffee gefüllte Kaffeetasse mehr sah. Aber so wie mit der Kaffeetasse geht’s mir auch mit dem Sonett. Ich befülle es möglicherweise und auch noch öffentlich mit einer Masse, die es verunstaltet, die es nicht verdient, nur weil ich davon überzeugt bin, dass es eine Kaffeetasse ist, obwohl davon nirgendwo etwas steht.

Also Walter, als guter Anwalt, verteidigst Du Deinen Mandanten, Deine Tasse im Schrank, Deinen Text vor Kritik und das machst Du ja auch. Sogar mit Verve und das gefällt mir.

Aber - ganz allgemein! - wenn es nicht mehr zu verteidigen ist, dass in der Kaffeetasse möglicherweise, so unwahrscheinlich es auch nach 1,3 Millionen gelaufenen Kilometern bei einem VW 1300er auch ist, dass da doch auch braune Masse ist, dann lass den, der die Schreibrechte hat, es korrigieren. Oder auch nicht,

Aber komm mir nicht mit: Der Leser versteht oder weiß vielleicht nichts von der Poetik, dem Programm, dem Witz und nicht zuletzt der Idee dahinter, die es aber zweifellos gibt und Du möchtest es aber auch nicht erklären.

Antwort geändert am 23.01.2018 um 20:36 Uhr

 Walther äußerte darauf am 24.01.18:
Hi lala,
danke für deine erklärung. ich möchte ihr nichts hinzufügen, weil wenn einer recht hat, hat er recht. und punkt.
ach ja: du hast recht, und ich nehme jetzt einen schluck aus meiner tasse mit der braunen masse und erfreue mich am sonnenschein ins fenster rein.
lg W,
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