Deckelkasten

Gedicht zum Thema Augenblick

von  Isaban

aus Augenblickgehölz
dieser Wimpernschlag
das Stummen der Zunge
der  Wehe Gesang
das Stehen der Lunge
der Stein im Geäder
der Ledermaschine
das Noch und das Weder
und  dann

das uralte ewige Lied ohne Klang

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (22.01.18)
Dieses Gedicht hat aber Klang. LG

 Isaban meinte dazu am 23.01.18:
Merci!

LG
fdöobsah (54)
(23.01.18)
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 Isaban antwortete darauf am 23.01.18:
Hallo fdöobsah,

eigentlich wollte ich mich heute früh gar nicht einloggen, weil die Arbeit so gründlich ruft, aber als ich das hier gesehen habe, tippten meine Finger von ganz allein.

Immer wenn ich "Besser geht es nicht!" denke, haust du noch etwas raus, das meine Gedanken Lügen straft. Baff wie ich bin, kann ich mich nur wiederholen: Was für ein Kommentar!

Ich liebe es, wie du dir Texte erarbeitest (und noch mehr natürlich, wenn dir einer meiner Texte dieser Mühe wert ist!) und wie du den stilistischen Mitteln auf den Grund gehst.

Bei diesem Text hatte ich schon Angst, dass er zu kryptisch geraten ist, dass meine Bilder für Außenstehende nicht mehr lesbar sind, aber du beweist das Gegenteil. Ich erinnere mich an jemanden, der mal behauptet hat, ihm fehle jede Empathie - ich glaube, dieser Jemand hatte entweder keine Ahnung, was in ihm steckt oder er ist Weltmeister im Tiefstapeln.

Den "Deckelkasten" habe ich in der Tat gewählt, weil es unbedingt ein verschließbares, wenn auch nicht ewig haltbares Behältnis sein sollte, eines, das man immer wieder öffnen kann, und sei es auch nur gedanklich, ein Schatzkästchen, wie Kinder es haben, ein Hort für Reichtümer, die man immer wieder einmal betrachten will, eines zum Mitnehmen, wenn man weiterzieht und dessen Inhalt einen auch noch berührt, wenn man den Kasten zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre später noch mal in die Hand nimmt - und zudem wegen der Formähnlichkeit zum Sarg, zu diesem Kasten mit Deckel, der Augenblicke auf ewig begrenzt, ach, du weißt schon.

Leider ruft mich die wochentägliche Pflicht inzwischen mit schrillen Tönen, ich muss los und so beschränkt sich meine Antwort auf deine phantastische (ja, ja, ich weiß, aber fantastisch sieht einfach dämlich aus) Rückmeldung auf diese der voranschreitenden Zeit geschuldeten Unzulänglichkeit.

Danke für deine Auseinandersetzung mit meinem Text und für diese grandiose Rückmeldung.

Liebe Grüße

Sabine

PS: Ich fürchte, das Werk des Herrn Polansky muss ich mir unbedingt besorgen. Schon dieser kleine Ausriss macht mich sprachlos. Extradank für dein PS.

 Irma schrieb daraufhin am 23.01.18:
Oh ihr Lieben, jetzt seid ihr mir zuvorgekommen. Ich bin gestern schon einige Male um dieses Gedicht herumgeschlichen und wollte heute, wo ich etwas mehr Zeit habe, meinen Kommentar dazu schreiben. Nun hat fdö schon fast alles gesagt, und nachdem auch du selbst, liebe Sabine, dich geäußert hast, bleiben mir nur noch ein paar ergänzende Eindrücke.

Unwillkürlich musste ich zunächst an den Deckkasten, also den Farbmalkasten, gefüllt mit bunten Wasserfarben, meiner Kinder denken. Der Titel fließt tatsächlich wie Farbe ins Gedicht ein. Aber schon im ersten Vers wird es sperrig. Das "Augenblickgehölz" ist eine sich nicht sofort im ersten Augenblick erschließende Metapher. "Augenblickgehölz" - das muss ein sehr dünnes, zerbrechliches Gehölz sein. Der „Wimpernschlag“ in der folgenden Zeile setzt nicht nur die Wimpern mit den Augen in Verbindung, sondern der „Schlag“ macht auch das „Gehölz“ verständlich. Die zarten Wimpern schlagen hier Gehölz, sie zerstören den Augenblick (im Sinne von Moment, vielleicht aber auch im Sinne von Sichtkontakt). Mit dem Öffnen und Schließen des Lides kam mir nun das Bild des Auges als „Deckelkasten“ in den Sinn.

Während die ersten beiden Verse für sich stehen, langsam und mit einer gedachten Pause am Versende, setzt mit V.3 eine Beschleunigung und Rhythmik (Reime: Zunge-Lunge, Gesang-Klang, Geäder-Leder-Weder) ein, man scheint es förmlich hören zu können, dieses Summen der schwergängigen „Ledermaschine“ (es klingt irgendwie sofort mit dem „Stummen“ an, deswegen finde ich „Stummen der Zunge“ schon gut gewählt). Dazu „der Wehe Gesang“, der sich für mich nach schmerzhaftem Stöhnen anhört.

Ein einfaches, immer gleiches Stichmuster: Artikel plus Substantiv und Ergänzung, bis der „Stein im Geäder“ die Maschine (das Herz) zum Stehen bringt. (Ich musste hier nicht unbedingt an einen Tumor denken, für mich wird hier lediglich der Herzstillstand verbildlicht.) „Das Noch und das Weder“ liegen irgendwie dazwischen: Noch am Leben. Weder richtig lebendig, noch bereits tot. Bis zum zeilenverkürzten („und dann“) letzten kurzen Aufmucken.

Die Leerzeile erscheint wie die erschreckende gerade Linie auf dem Herzmonitor. Absolute Stille. Das Herz schlägt nicht mehr („Lied ohne Klang“). „Der Wehe Gesang“ verstummt mit dem „Stehen der Lunge“, und mit dem aussetzenden Herzschlag wird augenblicklich auch der Wimpernschlag enden.

Für mich geht es in diesem Gedicht weniger um Erinnerungen oder ähnliches, sondern ganz klar um die Beschreibung eines Sterbeprozesses. Und damit rückte vor meinen Augen auch das (bereits von Sabine genannte) Bild des Sarges als aus „Gehölz“ gefertigtem „Deckelkasten“ in den Vordergrund.

Gefällt mir ebenfalls sehr gut, Sabine! LG Irma

Antwort geändert am 23.01.2018 um 12:09 Uhr
fdöobsah (54) äußerte darauf am 23.01.18:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban ergänzte dazu am 23.01.18:
Hallo ihr beiden,

geplättet bin ich - und es ist nun doppelt verbürgt: Ich bin ein Glückspilz. Zwei solche Kommentare an nur einem Tag - wow - und dazu noch zwei solch wahnsinnig gute und am Text belegbare Interpretationen, hach, vielen Dank für das wundervolle Geschenk zum Nichtgeburtstag!

@ Irmchen:

Jep, auch das Auge - und zwar Innen- und Außensicht, beziehungsweise sowohl aus der Perspektive des Besitzers dieses Auges als auch aus der Perspektive seines Gegenübers. Und sowohl aus der Perspektive desjenigen, dessen Ledermaschine nicht mehr weiterrattert als auch aus der anderen, der des Betrachters/Besuchers/Angehörigen/ Trauernden Und sowohl Diakiste/Schatztruhe als auch Sarg.

Und ja, die "Ledermaschine" habe ich gewählt, weil Nähmaschinen gleich mit eingebaut waren und zusätzlich der Gedanke, dass normale Nähmaschinen so flink "tackern", die Ledermaschinen sich im Vergleich sehr viel mehr mühen müssen - Irmchen, diesbezüglich wirst du mir beinahe unheimlich!

Und klar, geht es ums Sterben, auch um den Augenblick des Eintritts des Todes, aber ebenso wichtig war mir der andere "Deckelkasten", der eben nicht nur den Sarg, sondern auch das (eventuell zerbrechliche) Kästlein bebildern sollte, in dem die erlebten Augenblicke aufbewahrt werden, das Gefäß für die Erinnerung, das, was bleibt, wenn sich der Deckel für uns einmal geschlossen hat.

Ich freue mich riesig, dass ihr beiden euch meinen Text einverleiben mochtet - was für ein Vergnügen, nachlesen zu dürfen, welche Stilmittel gefruchtet haben und wie gut sich die angedachten Bilder übertragen! Dank euch beiden ist kaum etwas unentdeckt geblieben.

Vielen herzlichen Dank
und liebe Grüße

Sabine
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