... kommt es zur präzisen Punktlandung

Erzählung zum Thema Lebenszeiten

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Schwester Edermann hatte mir ein kleines Geldtäschchen mitgegeben und gesagt: "Am besten tun Sie das Geld hierein!"  Ich hatte erst einmal meinen Personalausweis und die Bankvollmacht dort hineingepackt und war dann in die nächste Straßenbahn gestiegen.
    "Sie müssen an der Domsheide aussteigen", hatte sie gesagt. "Dort ist dann auch die Bank. Die können Sie gar nicht übersehen!"  Und so war es dann auch. Eine halbe Stunde später befand ich mich schon wieder auf dem Rückweg und saß erneut in einer Straßenbahn, das Geldtäschchen mit den abgehobenen 1000 DM auf dem Schoß.
      Ich war nur noch wenige Meter von der Gemeinde entfernt, als mir auf einmal einfiel, dass ich Schwester Edermann ja eine Tüte Milch mitbringen sollte. Ich stoppte  und schaute mich um. Weit und breit kein Supermarkt.
  Mist! dachte ich und machte mich auf die Suche. Ich hatte Glück! Zwei Querstraßen weiter fand ich einen Discounter.
 
So kaufte ich im Supermarkt die Tüte Milch für Schwester Edermann und noch ein paar Kleinigkeiten für mich selber ein. Zusammen mit der Geldtasche lag alles in einem Einkaufswagen, als ich  mich langsam den beiden offenen Kassen näherte. Ich hatte Pech, denn zwei längere Warteschlangen hatten sich gebildet.
    Was macht man, wenn man warten muss? Man denkt nach, träumt vor sich, schaut sich um und hofft, dass es zügig weitergeht.
  Endlich war ich an der Reihe. Die Einkaufssachen wurden registriert, ich bezahlte mit meinem privaten Geld und brachte den Einkaufswagen wieder zurück an den dafür vorgesehenen Ort. Dann verließ ich den Supermarkt.
    Ich mochte vielleicht zehn Meter gegangen sein, als ich mich ein Gedanke wie ein Donnerschlag traf: Die Geldtasche!  Wo ist die Geldtasche? In mir wurde es plötzlich ganz mulmig-still, dann drehte ich mich um und betrat wieder den Laden.

Fünf Minuten später war es zur Gewissheit geworden: Die Geldtasche mit den 1000 DM und meinem Personalausweis war verschwunden. Sie lag weder im zuvor benutzten Einkaufswagen, noch hatte sie jemand im Laden beim Personal abgegeben.
    Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern. Wann hatte ich die Geldtasche das letzte Mal gesehen? Ich konnte mich gut erinnern, dass ich sie in den Einkaufswagen gelegt hatte. Aber als ich die Waren aus dem Korb nahm und in die Einkaufstüte packte, lag da das Täschchen noch im Wagen? Vermutlich nicht, denn ich hätte sie wohl kaum darin liegen lassen.
    Es blieb eigentlich nur eine Erklärung: Sie musste während des Einkaufens oder an der Kasse aus dem Einkaufswagen entwendet worden sein. Was für ein Schock! Siedend heiß fielen mir Frau Edermanns Worte wieder ein: "Aber passen Sie bloß gut auf. Hier sind viele Diebe unterwegs ...!"
  Was sollte ich jetzt bloß machen? Ihr direkt unter die Augen treten jedenfalls nicht! Und so machte ich mich in Richtung eigener Wohnung auf den Weg.
 
  Zuhause angekommen, setzte ich mich erst einmal auf das Sofa. Einfach abtauchen und vergessen! Aber die Gedanken in meinem Kopf ließen mir keine Ruhe: Was soll ich jetzt machen? Die alte Edermann trifft vielleicht der Schlag, wenn ich ihr die Sache beichte!
    Plötzlich fiel ihr wieder der Morgen bei Hubert ein. Meine Gebetszeit in seinem Garten, wo ich Gott um eine innere Veränderung gebeten hatte. Mir stockte der Atem: Moment mal!? Ich hatte nach dem Preis für eine solche Veränderung gefragt ... Die Antwort lautete Leiden! ... und dann der "Film" in meinem Kopf. Ich sah mich in eine Bank gehen und Geld abheben!
    Mit einem Mal ging mir ein Kronleuchter an, als ob jemand in einem dunklen Saal den Lichtschalter betätigt hätte. Na klar, das war eine Ankündigung gewesen ! Dann ist das also von Gott geplant gewesen!
   
Unruhig ging ich im Zimmer auf und ab. Das veränderte alles! Dem Willen Gottes konnte niemand ausweichen, so auch ich nicht dem Raub der 1000 DM. Es war der vermutlich der Anfang der Leiden, denen ich ja zugestimmt hatte.
  Ich schaltete den Fernseher ein, um mich abzulenken. Auf der Mattscheibe erschienen zwei junge Männer, die sich offensichtlich stritten. Eine typische Vorabendserie! "Ja", sagte der eine," ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Aber die 1000 DM sind nun mal weg. Geklaut, was weiß ich!"   
    Ungläubig starrte ich auf den Bildschirm. Begann ich gerade verrückt zu werden, oder waren die Worte wirklich gefallen? Aber tatsächlich, es ging um 1000 DM, die jemandem gestohlen worden waren.
    Jetzt war mir endgültig klar, dass dies alles kein Zufall war. Offensichtlich war dies im Himmel präzise geplant und vorbereitet worden, um innere Veränderung in mir zu wirken.

Auch wenn mich diese Erkenntnis jetzt etwas erleichterte, so war damit das Problem noch nicht aus der Welt geschafft. Wie sollte ich Frau Edermann die Sache beibringen?
    Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Zu meiner großen Überraschung reagierte sie völlig anders als erwartet.
    Nachdem sie mich hereingelassen und ins Wohnzimmer geleitet hatte, war ich sofort zur Sache gekommen: "Ich muss Ihnen etwas mitteilen, was Ihnen nicht gefallen wird. Ihre 1000 DM sind mir gestohlen worden."
    "Mein Gott! Hab ich`s doch geahnt", rief sie aus. "Und ich hatte Ihnen doch noch gesagt, dass sie hier in der Gegend aufpassen müssen!" "Ja, stimmt" entgegnete ich schuldbewusst. "Aber es ist jetzt nun mal passiert und nicht mehr zu ändern. Es tut mir leid!"
 
Ich hatte nun ein großes Zeter und Mordio mit schweren Vorwürfen erwartet, aber sie sagte nur ganz ruhig: "Na ja, es lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern! Aber Sie müssen mir das Geld  ersetzen!" "Ja, klar", entgegnete ich. "Das ist ja selbstverständlich. Allerdings geht das nur in Raten. Wären Sie mit monatlich 100 DM einverstanden?" Sie war einverstanden!
    Als ich wenig später ihre Wohnung wieder verließ, war ich erleichtert. Das ist ja noch einigermaßen glimpflich abgelaufen, dachte ich. Und die 100 DM monatlich würden wohl zu verschmerzen sein.


Anmerkung von Bluebird:

Bremen 1988

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