Ihr wärt beinah rausgeflogen!

Text

von  unangepasste

Nicht nur in weltlichen Dingen waren meine Eltern streng. Sie hatten auch einen tief verwurzelten Glauben, der früh in ihnen verankert und von Generation zu Generation vererbt wurde.
Für meine Vorfahren war es selbstverständlich, dass es ein Jenseits gab und dass wir wiedergeboren wurden. Wann immer es sich ergab, baute meine Großmutter spielerisch ihre religiöse Überzeugung in die Dialoge mit den Enkelkindern ein. Später, als das rationale Denken in uns stärker wurde und damit der Zweifel erwachte, reagierte sie manchmal empört. „So ein Quatsch“, rief sie bei der ein oder anderen Gelegenheit aus, wenn wir zu sehr am Fundament rüttelten.

Als Kind litt ich oft unter Alpträumen. Merkwürdige Gestalten traten aus der Tür der schlechten Träume, einer Stelle in der Wand, die ich so genannt hatte, weil dort niemals Gutes seinen Ursprung nahm. Die Wesen, die ich am meisten fürchtete, waren grau und wirkten wie aus Lehm geformt. Ein Erwachsener hielt ein Kind an der Hand und stellte sich schweigend in den Raum, starrte auf mich mit Augen aus Ton. An anderen Tagen trat ein großer, dicker Mann aus der Tür und sagte mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Ich war mir sicher, dass er die Süßigkeiten vom letzten Osterfest verschmäht hätte, hätte ich sie ihm angeboten; vielmehr wollte er mich vertilgen. Dass kleine Mädchen gar nicht aus Schokolade bestanden, kam mir – wie so oft in Alpträumen – nicht als rettender Gedanke in den Sinn.
Meine Großmutter glaubte an die reale Existenz dieser Gestalten. Für sie hatte ich damals – ein Kind mit besonders ausgeprägter Phantasie – die Fähigkeit, in andere Welten zu blicken. Kinder seien noch „näher dran“. „Manchmal öffnen sich diese Welten“, sagte sie mit Überzeugung in der Stimme. Zum Glück hatte sie mir das als Kind nicht nahegebracht, als ich zitternd in meinem Bett lag und selbst kaum unterscheiden konnte zwischen Realität und Traum. Erst an einem Weihnachtsfest, an dem sie – vielleicht angeregt durch die vielen Süßigkeiten – auf den Schokoladenfresser zu sprechen kam, meinte sie, ihre Position verteidigend: „Weißt du noch, was du für Wesen wahrgenommen hast, damals als Kind? So ein Quatsch, dass es das alles nicht geben soll!“

Für meine Eltern und Großeltern war der Gang in die Kirche ein wichtiger Bestandteil des Lebens, und so sollten auch wir im rechten Glauben aufwachsen. Jeden Sonntag mussten wir zur Kinderhandlung um neun Uhr. Ausnahmen gab es keine.
Der Kindergottesdienst bestand aus immer demselben Text. Variationen wurden nicht eingebaut, abgesehen von der Stelle des Evangeliums, die uns vorgelesen wurde.
Ich verstand nicht, warum ich mir eine Predigt, die ich längst auswendig konnte, Woche für Woche erneut anhören musste, doch alle Argumente und Einwände prallten an meinen Eltern ab. Eine Erklärung lieferten sie uns nicht. Und so hoffte ich jedes Mal inständig, dass nicht der älteste Pfarrer die Handlung hielt. Er war ein großer Mann mit vollem, weißem Haar – und, was uns Kinder störte, einer bedächtigen, gemächlichen Stimme. Sprach er im Gottesdienst, mussten wir gewiss fünfzehn Minuten länger bleiben.
Ich versuchte, mich so gut es geht in meinem eigenen Kopf zu beschäftigen, da mich sonst Langeweile überkam. Allerdings waren meine Spiele wenig kreativ. Als erstes sprach ich in Gedanken den Text von vorne bis hinten, nur um mir dann im Stillen zu sagen: „Hätte der Pfarrer in meinem Tempo gesprochen, wären wir schon fertig.“ Da wir uns aber meist erst in der Mitte der Litanei befanden, betrachtete ich als nächstes die Köpfe der Kinderreihe vor mir. Ich schaute mir die Linie an, die sich daraus ergab, ging mit den Blicken von Kind zu Kind und sagte in Gedanken: „Größer, kleiner, kleiner, größer …“
Leider war ich auch damit irgendwann fertig. Am meisten zog sich in die Länge, wie der Pfarrer durch die Stuhlreihen ging, jedem Kind die Hand reichte und immer denselben Spruch aufsagte: „Der Gottesgeist wird sein mit dir, wenn du ihn suchest“. Dass er sich nicht selbst dabei auf die Nerven ging, wunderte mich. Kam er zu uns, mussten wir aus unserer Lethargie aufwachen, Blickkontakt aufnehmen und lautstark antworten: „Ich will ihn suchen!“ Jedenfalls so die Erwartungen.

Mein Bruder und ich erfüllten diese Erwartungen selten. Eines Tages versuchten wir, aus der Sonntagshandlung zu fliegen. Damals gehörten wir noch zu den Jüngsten der Kinder. Das Alter reichte von sieben bis dreizehn Jahren. Erst ab dem Tag der Konfirmation mussten wir nicht mehr in die Kinderkirche; ab diesem Zeitpunkt durften wir zu den Erwachsenen, womit die Freiheit einherging, über die Teilnahme selbst zu entscheiden. Selbstverständlich blieben wir fortan zu Hause. 
Nun aber zurück zu unserem Vorhaben: Wir neckten uns, wurden dabei immer lauter. Das Lied sangen wir absichtlich falsch und mit der größtmöglichen Albernheit. Ermahnende Blicke der Erwachsenen, die als Begleitung und Aufsicht hinten im Raum saßen, trafen uns, doch wir machten weiter. Vielleicht dürften wir zusammen vor die Tür gehen, wie in der Schule, wenn man den Unterricht störte. Draußen könnten wir dann in Ruhe spielen, bis die anderen fertig waren. Nach den Blicken folgten Hände, die uns an die Schulter griffen, mahnendes Geflüster, weitere böse Blicke. Wir fuhren fort. Doch vergeblich. Wir durften nicht vor die Tür.
„Könnt ihr euch nicht anständig benehmen?“, rief meine Mutter hinterher empört aus. „Ihr wärt beinah rausgeflogen!“ Dabei ließ sie diese Worte so klingen, als wäre das ein Kapitalverbrechen. „Warum durften wir nicht vor die Tür?“, fragten wir eifrig. Unsere Augen waren dabei wohl ein wenig zu sehnsuchtsvoll, die Formulierung unserer Frage zu ungünstig gewählt. Jedenfalls erkannten die Erwachsenen unsere Absichten, und damit rückte unser Ziel erneut in weite Ferne.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (02.04.18)
Dieser Text sollte in den Lehrplan für angehende Priester aufgenommen werden. Titel: "Wie stelle ich es am besten an, jeden wachen Geist möglichst früh und möglichst für immer aus der Kirche zu verbannen?"

Ein Text, der erinnert. An Kindheiten und Sehnsüchte und Ängste und Vorschriften und Langeweile und Furchtlosigkeit und Experimentierfreude. Also, eigentlich erinnert er mich an ganz schön viel!:-)

Liebe Grüße
Ira

 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Danke. Ja, ich glaube angehende Priester könnten aus solchen Geschichten tatsächlich etwas lernen, wenn sie bereit wären, sich darauf einzulassen und es anders zu machen.

 Dieter_Rotmund (02.04.18)
Für meinen Geschmack etwas zu possierlich im Schreibstil, aber dennoch gerne gelesen. Ist "Kinderhandlung" wirklich ein gängiges und etablietrtes Synoynm zu "Kindergottesdienst"? Und wieso halten sich in diesem Kindergottesdienst so viele Erwachsene auf? Wieso sind die nicht bei ihrer Zeremonie?

 unangepasste antwortete darauf am 02.04.18:
"Kinderhandlung" ist sogar der gängige Begriff bei uns gewesen. "Kindergottesdienst" sagte keiner.
Die Erwachsenen sitzen - so wie ich es kenne - als Begleitung hinten im Raum. Das mag aber in unterschiedlichen Gemeinden verschieden gehandhabt werden.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 02.04.18:
Nun, dieser Widerspruch ergibt sich aus dem Text, ich würde irgendwo ergänzen, dass ein paar Aufpasser-Eltern (?) beim Kindergottesdienst dabei waren.

Insgesamt im Subtext recht gruselig. Die Religion / der Glaube tritt hier nicht als Seelenfrieden-bringend auf, sondern als archaisches Steuerelement, das mit fragwürdigen Methoden einen gewissen Determinismus bei den Kindern hin zu einem klerikal-obrigkeitshörigen Verhalten erzeugen soll. (Offenbar auch mit dem Mittel der Redundanz) Eingebunden sind dabei ältere Familienmitglieder, z.B. die Großmutter, eine ambivalente Figur des Textes, die sich ja vom Opfer zum Täter gewandelt hat.

 unangepasste äußerte darauf am 02.04.18:
Danke, das mit den Eltern habe ich noch eingefügt.
matwildast (37)
(02.04.18)
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 unangepasste ergänzte dazu am 02.04.18:
Ja, "Kinderhandlung" und "Sonntagshandlung" sagte man bei uns. Wobei "Kinderhandlung", wenn man es so liest, wirklich gruselig klingt. Für mich war der Begriff so selbstverständlich, dass ich diesen Aspekt gar nicht mehr wahrgenommen habe.
Die Geschichte spielt Ende der 80er Jahre.
matwildast (37) meinte dazu am 02.04.18:
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 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Ich glaube, da gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Gemeinden. Ich bin in einer freien Kirche aufgewachsen. Das ist dann ohnehin noch mal anders.
Ja, es wäre auch eine Titelmöglichkeit in seiner ja eigentlich Doppeldeutigkeit. Ich überleg mal. Der jetzige Titel macht wahrscheinlich neugieriger, aber die Alternative gefällt mir auch.
K-rin (39)
(02.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Freut mich, dass es ebenfalls Erinnerungen auslöst ...
K-rin (39) meinte dazu am 02.04.18:
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 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Klingt nicht so lecker - aber auf was für Ideen man kommt, um die Langeweile zu überbrücken, finde ich interessant.
Gerhard-W. (78) meinte dazu am 02.04.18:
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 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Danke. Sind nicht die meisten Kirchengemeinden auch Sekten, wenn man bedenkt, wie sie auf Leben, Denken und Empfinden der Kinder Einfluss nehmen wollen? Auf jeden Fall endete es mit dem Tag der Konfirmation, was wiederum nicht sektenhaft ist (d. h. die darauf folgende Freiheit).
In jedem Fall führt eine solche Erziehung nicht zu mehr Mitgliedern.
Dir auch noch ein schönes Restostern.

 Dieter Wal meinte dazu am 02.04.18:
"Sind nicht die meisten Kirchengemeinden auch Sekten, wenn man bedenkt, wie sie auf Leben, Denken und Empfinden der Kinder Einfluss nehmen wollen?"

http://www.v-r.de/de/die_wunderbare_welt_der_sekten/t-0/1008022/

Gutes Buch.

 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Danke für den Tipp.

 Mondgold meinte dazu am 02.04.18:
Den Text habe ich sehr gerne gelesen. Mir klang "Kinderhandlung" anfangs auch ganz schräg in den Ohren, doch dann hat dieses seltsame Wort mich erinnert.
Das Abzählen in Deinem Text "größer ... kleiner ...",
als würde Der Geist, welcher auch immer, die Protagonistin krampfhaft "bei sich" halten wollen, um ja nicht (in die Handlung?) einzutauchen. Aus Angst? Vor was?
Für mich war die "Wandlung" (Eucharistiefeier) immer etwas sehr geheimnisvolles und spannendes, so dass alle meine Sinne damit beschäftigt waren, um ja nichts zu verpassen. Neugierig. Zugehört habe ich selten, doch aber wahr-genommen.
Welches Licht, welche Stimme, welcher Geruch ... nicht bei der Sache, aber ganz im Augenblick versunken.
Doch stelle ich jetzt nach vielen Jahren fest, dass die Bilder des Evangeliums, dem ich nicht zugehört habe, mit mir mitgewachsen und eingewachsen sind.
Der Text macht mich nun sehr nachdenklich und ich frage mich, wie ich wohl, nun auch schon Großmutter, auf meine Enkel Einfluss nehme. Wir wissen ja, dass wir immer (ein)wirken, ob wir wollen oder nicht. Ich fürchte gar, noch mehr, wenn wir es vermeiden wollen. Und nun nimmt dein Wort "Kinderhandlung" Bezug zu mir auf, denn ich (altes Kind) nehme die Bilder, die in mir gewachsen sind in mein Handeln als Großmutter hinein.
Meine Verantwortung, nachdem meine Kinder alleine für sich sorgen können, wird weniger und ich darf wieder in den Augenblick "abtauchen" ... ich freue mich gerne und staune wie viel Gründe es dafür gibt. Es ist so, als würden sie sich mit dem Älterwerden multiplizieren.
Seltsam, aber wundrig schön, dieses Großmutter sein (-:
Frohe Ostern!

 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Danke für deinen Kommentar und deine Gedanken dazu. Ich glaube, Großmutter sein ist toll, und so viel kann man gar nicht falsch machen. Da ist die Rolle als Eltern sicher die größere Herausforderung.
Für mich waren als Kind die Feiern z. B. zu Advent, die speziell für Kinder waren, sehr schön, allerdings gingen wir dafür in eine andere Kirche. Dort hatte alles einen ganz anderen Zauber (wahrscheinlich aber in erster Linie deshalb, weil wir nur zu besonderen Anlässen dort hinfuhren).
Die regelmäßigen Kinderhandlungen bei mir in der Nähe langweilten mich, und ich kann mich an manch hitzige Diskussion mit meiner Mutter erinnern, wenn wir - 4, später 5 Kinder - keine Lust hatten, die Jacken und Mützen anzuziehen und ins Auto zu steigen. Durch den Zwang, der herrschte, war die spätere Abkehr von der Kirche schon vorherbestimmt.
Auf jeden Fall freut es mich, dass der Text zum Nachdenken anregt, auch über die eigene Rolle als Eltern und Großeltern.
Dir auch frohe Ostern!
Graeculus (69) meinte dazu am 02.04.18:
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 unangepasste meinte dazu am 02.04.18:
Stimmt, das hat zumindest hier schon einen Hauch von Ironie im Begriff als solches.

 Dieter Wal (02.04.18)
"Als erstes sprach ich in Gedanken den Text von vorne bis hinten, nur um mir dann im Stillen zu sagen: „Hätte der Pfarrer in meinem Tempo gesprochen, wären wir schon fertig.“ Da wir uns aber meist erst in der Mitte der Litanei befanden, betrachtete ich als nächstes die Köpfe der Kinderreihe vor mir. Ich schaute mir die Linie an, die sich daraus ergab, ging mit den Blicken von Kind zu Kind und sagte in Gedanken: „Größer, kleiner, kleiner, größer …“
Leider war ich auch damit irgendwann fertig."

Das stelle ich mir vor und finde die Art und Weise, wie die Erzählerin als Kind mit dieser Situation umging, total goldig und bewundenswert. Vielleicht waren das streng Zeremonielle und die Expressionistische Sprache der Liturgie nicht das Richtige für dieses Kind.

Von der Existenz dieser Form der "Menschenweihehandlung" für Kinder war mir bis dahin so gut wie nichts bekannt. Da ich länger in Nürnberg direkt neben der einzigen antroposophischen Buchhandlung und Kirche wohnte, muss ich mindestens 50 Menschenweihehandlungen besucht haben. Nicht wirklich aus religiösen Motiven. Ich fand die Sprache und das starr Zeremonielle abgehoben und sehr beeindruckend. Es hatte eine Kraft, die ich bemerkenswert fand. Insofern bin ich wohl ein Fan dieser Kirche, ohne ihr angehören zu wollen, der mit den Inhalten bedingt viel am Hut hat. Aber ich habe großen Respekt für diese in meinen Augen zumindest aus ästhetischer Sicht wertvolle Form eines recht bizarren Christentums mit Steinerschen Reinkarnationsgedanken.

Vielen Dank für diese wundervolle Anekdote!

Bei tieferem Interesse: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Christengemeinschaft

Kommentar geändert am 02.04.2018 um 15:37 Uhr
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