Napoleon lebt ... im Village Chaffaud

Anekdote zum Thema Charakterisierung/ Charakteristik

von  eiskimo

Eigentlich heißt das Dorf Bonnard, und Monsieur Chaffaud ist lediglich ein mittlerweile 78jähriger Bürger dieser dynamischen kleinen Gemeinde in der Nièvre. Aber nicht irgendein Bürger, oh nein. Seitdem wir Mitte der 80er Jahre Stammgäste hier wurden und ab 1990 auch Hausbesitzer, hat René Chaffaud strategisch ein kleines Imperium aufgebaut. Ausgehend vom Restaurant „La Cornemuse“ kaufte er sukzessive alle Konkurrenz-Betriebe auf, so das Hôtel Bayard mit dem gleichnamigen Restaurant, das Café de la Poste und alle angrenzenden Gebäude, die irgendwie zur Gastronomie und Hotellerie geeignet waren. Ergebnis: Wer in Bonnard essen, trinken oder jemanden beherbergen will, kommt heute um Chaffaud nicht mehr herum.
Das Anwachsen seines dörflichen Imperiums verlief dabei proportional zum Anwachsen seines Leibesumfangs – wir kannten ihn rank und schlank und als agilen Koch, der selber am Herd stand, aber jetzt erleben wir ihn fast kugelrund, nur noch wuchtig sitzend, entweder an einem seiner Bistro-Tische oder eingequetscht hinterm Steuer einer seiner wuchtigen Limousinen. Denn während sein mager bezahltes Personal die Drecksarbeit macht, fährt er gerne seine 400-Meter-Runde durch  Bonnard, die ihm Zugeneigten majestätisch grüßend.
Apropos zugeneigt: René Chaffaud hat beileibe nicht nur Freunde. Wir erleben eine tief gespaltene Dorfgemeinschaft, sobald auch nur sein Name fällt. Die einen respektieren ihn als gewieften Geschäftsmann, als erfolgreichen  „Macher“, der durchaus zur Attraktivität des Ortes beiträgt, die anderen verabscheuen ihn förmlich, ebenso sein „schmieriges Äußeres“  wie auch seine Machtposition als „lokaler Strippenzieher“. Üble Gerüchte kursieren über die Herkunft seines Startkapitals, mit dem der kleine Koch so rasch aufsteigen konnte: Drogenhandel, erzählten uns die einen; Steuerhinterziehung ergänzten die anderen. Und im Gefängnis habe er auch gesessen!
Als Rache für so viel kriminelle Chaffaud-Energie boykottiert die Gegenpartei die gastronomischen Anstrengungen des ungeliebten Parvenus – trotz langer Wege in die Nachbardörfer  fährt man zu festlichen Déjeuners und Dîners in andere Restaurants, und eifrig tratscht man weiter, was Ortsfremde an Enttäuschungen in den Chaffaud-Lokalen alles erlebt haben sollen: Die Käseportion eiskalt aus dem Kühlschrank, dabei nur winzige Stückchen, und die Mousse au chocolat ranzig, weil schon eine Woche abgelagert...
Dass der so umstrittene Dorf-Napoleon einige Ortsschilder neu beschriftet haben soll – statt  Bonnardt stand da plötzlich „Village Chaffaud“ - das war seiner Wertschätzung sicher auch nicht zuträglich.
Jedenfalls haben wir als relativ Außenstehende das Gefühl, dass sein so voluminös aufgestelltes  Imperium eher mageren Umsatz macht. Von den ursprünglich drei Restaurants sind zwei fast immer geschlossen, und wer das Hotel aufsucht, wird je nach Tageszeit mal in die „Cornemuse“ oder auch zum ehemaligen Café de la Poste gelenkt, was noch nicht heißt, dass dort jemand die Unterlagen hat, um eine Reservierung vorzunehmen.
Was den Häusern Chaffauds allerdings bleibt, das ist – neben der Kunst des Improvisierens - das Kerngeschäft der Apéritifs und  „geschäftlichen Treffen“ , denn  die ortsansässigen Handwerker und Ladeninhaber halten ihrem Obersten die Treue, ebenso wie die Mitglieder der Vereine und vor Ort Organisierten. Übers Jahr gesehen mit sechs Tourismus-freien Monaten kann das – so denken wir – aber kaum die laufenden Kosten hereinholen.
Womit retten dann Chaffaud und seine Familie (Ehefrau, Tochter und Enkeltochter sind in unterschiedlichsten Funktionen fast immer im Dienst...) die Jahresbilanz?
Nun, das müssen die Feiertage und  Feste sein, die im Sommer mit großem Aufwand in der Dorfmitte begangen werden … sozusagen vor den Türen der Chaffaud-Etablissements. Allen voran das Akkordeon-Fest, das ganze vier Tage dauert und einige Tausend Musikfans anlockt. Dabei wird nicht nur munter musiziert, sondern auch … erheblich konsumiert. Dem Publikum ist dabei der Ruf des Restaurateurs völlig wurscht - Hauptsache, das Bier ist kalt.
Neid hin, Misstrauen her: Chaffaud ist hier bestens aufgestellt, und seine Logistik ist der betulichen Gemeindeverwaltung eine riesige (und willkommene) Hilfe. Ist es ihm zu verdenken, dass er vor diesem Hintergrund bei der Planung und Gestaltung jener Feste gerne ein Wörtchen mitredet?
Wir selbst sind in unserer Wertschätzung dieses Nièvre-Zampanos sehr gespalten. Die zwei oder drei Probe-Essen in seinen Lokalen waren allesamt enttäuschend, und deswegen gehören auch wir zu denen, die bei entsprechendem Anlass konsequent „auswärts“  essen fahren. Unsere Gäste aber quartieren wir schon im Hôtel Chaffaud ein – da sind die Zimmer sozusagen nur einen Steinwurf weit entfernt, und wenn dann keine Handtücher da sind oder Bügel im Schrank fehlen, helfen wir aus eigenem Bestand spontan aus...
René Chaffaud selbst zeigt uns gegenüber eine ausgesprochene Freundlichkeit, dasselbe müssen wir von seiner Familie sagen. Unvergessen in diesem Zusammenhang, dass man uns bei einer Fußball-Weltmeisterschaft in seinem Lokal einen Fernseher an den Tisch brachte, damit wir das Endspiel Deutschland-Argentinien live miterleben konnten!
Wenn das kein Argument ist! Deutschland hat schließlich gewonnen. Aber wir waren auch so ziemlich die einzigen, die das damals in Bonnard sehen wollten. Immerhin:  unser Sohn trug in diesen WM-Ferien mit extra breiter Brust sein Deutschland-Trikot, und zwar Tag und Nacht. Das hat in Bonnard auch keinen interessiert, höchstens ein paar der sehr stark in der Nièvre vertretenen  Holländer, die mit dem deutschen Fußball ja bekanntlich ein kleines Problem haben....
Wie dem auch sei: Chaffaud zieht hier die Strippen, denn die Opposition ist nicht organisiert und jammert nur … Fast so wie in der großen Politik.... oder unter Napoleon!


Anmerkung von eiskimo:

Kapitel 2 meiner "Erzählungen aus Burgund", demnächst als E-book

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