Mein Leben trägt Bürokleidung, wenn es mir die Tür aufhält

Text

von  unangepasste

Warum ein Puzzlestück sein, das passt, fragst du, und ich ziehe die Kapuze über und ändere meine Form. Ob ich mich an eine andere Stelle lege, willst du wissen. Ich zucke mit den Schultern und lehne mich ganz dicht an dieses Fenster, als könnte ich verschmelzen mit einer blassen Variante meiner selbst, die sich im Glas spiegelt; als könnte ich eins werden mit der, die ich nicht bin, die nur bei Dunkelheit um meine Räume schleicht.
Das Leben: Trennung, denke ich. Alles hat eine Haut, kantet sich ab. Jeder Gegenstand wie ich: so einzeln in die Welt gelegt, und ein Versuch, die Grenze zu durchbrechen, nichts weiter als Verletzung. Ein Einstich – sonst nichts. 

Immer bin ich verschwunden, erst unter den Worten meiner Mutter, die viel größer waren als ich, die mit jedem Buchstaben auf mich herunterfielen und sich über mich legten: eine Schicht Laub. Langsam verrotteten sie, knisternd, wenn jemand über sie ging. Später, als ich in mir verschluckt wurde, dass mein Leben mich nicht mehr erkannte, rief es mich mit Nachnamen, sprach kalt und tonlos. „Frau“, sagte es, dabei war ich nur ein Mädchen, zopflos und mit leisem Gewitter im Kopf. Ich war so weit weg vom Schädel und allem, was sich darin befand, dass ich bis acht zählen konnte, bevor der Donner kam.

Heute sage ich wieder „Du“, wenn das Leben zu mir spricht. Aus Trotz. Doch dann verzieht es das Gesicht, fährt mit der Hand durchs Haar und setzt sich eine neue Maske auf. Zwei Augenlöcher bleiben, sonst nichts.

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Kommentare zu diesem Text

Marjanna (68)
(28.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 28.04.18:
Vielen Dank, das freut mich! Gerade bei solchen Texten ist es manchmal schwer einzuschätzen, ob sie überhaupt ankommen / anderen auch etwas sagen.

 AZU20 antwortete darauf am 28.04.18:
Da schließe ich mich gerne an. LG

 unangepasste schrieb daraufhin am 28.04.18:
Danke!
Hilde (62)
(28.04.18)
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 unangepasste äußerte darauf am 28.04.18:
Danke!
Hilde (62) ergänzte dazu am 28.04.18:
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 unangepasste meinte dazu am 28.04.18:
Zum Glück
Hilde (62) meinte dazu am 28.04.18:
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 W-M (28.04.18)
sehr gut geschrieben, eindrücklich, eingängig. gefällt mir. auch die länge stimmt, keine durchhänger, kein leerlauf. aus dem innenleben einer bürokraft (bezug: Titel)? sie will sich klein machen, ist schon klein, verschwinden, sich auflösen. eine starke mutter, die auf sie einredet. allein unter ihren worten verschwindet sie schon. aber dieser rückzug in sich ist auch ihre stärke?!

 unangepasste meinte dazu am 28.04.18:
Danke! Der Titel soll eher die Entfremdung vom eigenen Leben ausdrücken; die Protagonistin sieht ihr Leben nur in Bürokleidung, keiner komfortablen Alltagskleidung, in der man Freunde trifft.
Ich glaube, ein Rückzug kann Stärke und Schwäche sein. Man muss ihn gezielt einzusetzen wissen.

 Songline (28.04.18)
Ich las es heute Morgen und jetzt. Bei jedem neuen Lesen kommen neue Gedanken. Gerade fällt mir eine Zeile aus "Chasing Cars" ein:
"Forget what we're told
Before we get too old
Show me a garden that's bursting into life."
Ich sehe ein Mädchen, das seinen Garten sucht, in dem es frei ist von den Worten anderer.
Toller Text.

Liebe Grüße
Song

 unangepasste meinte dazu am 28.04.18:
Danke, freut mich, dass es Assoziationen auslöst.
Schönes Zitat!

 Dieter Wal (14.07.18)
"Später, als ich in mir verschluckt wurde, dass mein Leben mich nicht mehr erkannte, rief es mich mit Nachnamen, sprach kalt und tonlos. „Frau“, sagte es, dabei war ich nur ein Mädchen, zopflos und mit leisem Gewitter im Kopf. Ich war so weit weg vom Schädel und allem, was sich darin befand, dass ich bis acht zählen konnte, bevor der Donner kam."

Dass das Gewitter leise erschien und der Donner zögernd kam, wirkt überaus suggestiv. Äußerst lebhaftes Innenleben. :)

Diese tendenziell surrealistische intraperspektivistische Prosa ist mindestens so schön wie Ionescos Tagebücher.

 unangepasste meinte dazu am 14.07.18:
Vielen Dank!

 Dieter Wal meinte dazu am 06.09.18:
"Das Leben: Trennung, denke ich. Alles hat eine Haut, kantet sich ab. Jeder Gegenstand wie ich: so einzeln in die Welt gelegt, und ein Versuch, die Grenze zu durchbrechen, nichts weiter als Verletzung. Ein Einstich – sonst nichts. "

Las gestern meinem Gastgeber deinen anderen zuletzt bearbeiteten Prosatext "Begegnung" vor. Er war von der Bildhaftigkeit und Präzision sehr beeindruckt. Auch diese Prosa-Kurzminiatur enthält kafkaeske Perlen zwischen Sprachfluss, der Lektüre solcher Texte angenehm macht. Dieser Ausschnitt könnte auch bei einem Philosophen stehen, weil er von Bildhaftigkeit und Aussage poetisch in die Details geht. Das Nichts weiter, sonst nichts, kenne ich von Schlegel/Tiecks Hamletmonolog "Sein oder Nichtsein". Keine Idee, ob er dir einmal zu Ohren kam oder ob du ihn im Theater sahst, Letzteres eher nicht, meine ich mich zu erinnern. Auch hat die Redewendung "Nichts weiter, sonst nichts" kein Copyright bei Schlegel/Tieck, doch sie wirkt noch schöner, wenn man als Schauspielschulenvorsprechhamlet unterwegs war.

Antwort geändert am 06.09.2018 um 06:01 Uhr

 unangepasste meinte dazu am 06.09.18:
Den Soliloquy aus "Hamlet" musste ich als Schülerin auswendig lernen. Finde aber die Aussage und Redewendung dort eine ganz andere.

 Dieter Wal meinte dazu am 06.09.18:
Dass du es überhaupt drauf hast und künstlerisch gestaltest. Es gibt nicht viele Menschen, mit denen ich über solche Details rede. kV ist eine erfreuliche Plattform..

Antwort geändert am 06.09.2018 um 18:28 Uhr

 eiskimo (14.07.18)
Ein Text, der einen gefangen nimmt, einen irgendwo hinführt, wo man schon einmal war... oder doch nicht - jedenfalls richtig gut!
eiskimo

 unangepasste meinte dazu am 14.07.18:
Vielen Dank, das freut mich!
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