Mein Unterbewusstsein hat einen surrealistischen Geschmack

Text

von  unangepasste

Manchmal frage ich mich noch immer, wer ich bin. Gibt es das überhaupt, dieses „Ich“, oder ist es eine Illusion? Zu oft habe ich mich in diesen Rätseln verlaufen, eine Mischung aus Wut und Empörung empfunden, dass wir so unmündig sind und nicht einmal uns selbst be-greifen. Währenddessen wird der Alltag immer oberflächlicher, rieseln Informationen auf mich ein, die ich nicht ausreichend in Wissen umwandeln, geschweige denn zu Erkenntnis verarbeiten kann. Ich bin nicht mehr in der Lage, mich zu fokussieren und verliere mich in der Gleichgültigkeit, im Zuviel. Es gibt so viel Konkurrenz zu mir selber, dass ich mir entgleite.

Das Erleben wird mit dem Alter immer schwächer. Der Abstand zwischen außen und innen steigt an; so kann auch die Natur nicht mehr in mich eindringen wie einst, als ich noch ein Kind war. Manchmal nimmt das geradezu absurde Züge an. Ich befinde mich auf einer Bank in den Dünen und blicke auf das Meer. Auf einmal überkommt mich das Gefühl, ich säße in meinem eigenen Foto. Die Erinnerung, das künftige Andenken ist realer als der Augenblick und stülpt sich über ihn. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit wird unklar; alles ist nur noch Bild, und mir ist, als hätte ich einen großen Schritt in ein Blatt Papier gemacht.

Träume erscheinen mir manchmal ähnlich surreal. Dennoch bleibt ihre Intensität, während das, was wir Wirklichkeit nennen, an Farben verliert.

Ich schwebe über der Wiese meines Elternhauses und weiß, dass ich träume. Ich bewege mich ein paar Zentimeter über dem Boden, damit mich keine Wespen in den Fuß stechen, denn ich bin barfuß. Es ist ein warmer Sommertag und die Johannisbeeren hängen reif an den Sträuchern. Eine blaue Liege steht in der Nähe, hinter dem früheren Schaukelgestell, ein Stück abseits vom Apfelbaum.
Mein Vater und seine Frau fahren mit dem Rad hinter der Hecke um die Kurve, nehmen mich wahr; dann bin ich wieder allein.
Ich weiß, dass alle Gegenstände eine gewisse Unschärfe in ihrer Position haben, zugleich mehrere Zentimeter versetzt existieren. Ich frage zweimal auf Englisch, warum das so sei.
Auf einmal ist alles dunkel und ich werde in einen Tunnel gezogen. Das Ende erreiche ich nicht mehr. Auch die Antwort bleibt aus.


Einerseits beschäftigt mich die Wahrnehmung, die ich, kaum erwacht, nicht mehr nachfühlen kann. „Was für ein Unsinn“, denke ich. Gleichzeitig kommen mir Schlagworte wie „Unschärferelation“ in den Sinn und ich frage mich, wie sie den Weg in meinen Traum finden.  Der Sprachwechsel ins Englische scheint mir als logische Brechung; gleichzeitig könnte man auch das Wort „Grenze“ mit einbeziehen, denn ein Sprachwechsel kennzeichnet in der Regel eine Überschreitung – hier zwischen Wirklichkeitselementen und Surrealem.

Schon seit Jahren frage ich mich, warum die Figuren meiner „Traumgeschichten“ nicht kooperieren.

Ich schwebe durch Gänge. Das Licht ist wunderschön, blau und weiß. Ich habe Mühe, meine Höhe zu kontrollieren. Ich befinde mich in einem Gebäude mit mehreren Stockwerken, und man kann sie mit etwas Auftrieb wechseln. Auf einmal hört das blaue Licht auf. Es wird dunkler. Das weiße Licht bewegt sich jedoch mit mir, und ich merke, dass ich es ausströme.
Ein Paar kommt die Treppe herunter. Ich frage etwas. Der Mann sagt: „Musst mal mit den Henningen reden.“ Ich verstehe ihn nicht und will Genaueres wissen. Er fährt fort: „Erster deutscher Trinker, übrigens nach der Akademie ‚Die Liebe‘“.


Wieder will ich sagen: „Das ist doch alles verrückt“. Und doch haben die Unterhaltungen beinahe etwas Poetisches, gespickt mit Komik, wie ich sie wohl kaum nachahmen könnte.

Ich schwebe über einer Landschaft, werde immer schneller, bis ich nichts mehr erkenne und sich plötzlich alles zu einem Tunnel verdichtet. Ich bin bei klarem Bewusstsein. Über der Landschaft empfinde ich Freude und überlege, was ich machen soll; dann Enttäuschung, dass ich die Vorwärtsbewegung nicht bremsen kann. Plötzlich halte ich an, und zwar vor einer kaum erkennbaren, statuenartigen Gestalt, die reglos nach oben ragt und den Ausgang zu blockieren scheint. Ich bin nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um ein lebendiges Wesen handelt oder ob meine Phantasie der Dunkelheit eine Form gibt.
Dann schwebe ich rückwärts. Der Tunnel hat jetzt Wände aus Brettern, zwischen denen ich Lücken wahrnehme, aber von draußen dringt nur Nacht herein. Am Rand befindet sich eine Frau. „Wie heißt du?“, frage ich. „Jens.“


Ich bin überrascht. Der weitere Fortgang steigert die Rätselhaftigkeit noch:

„Bist du tot?“, will ich wissen. Ich lächele über mein eigenes Spiel, das ich damit scheinbar beginne, fühle mich für einen kurzen Moment überlegen.
„Ja, wir sind eine andere Zeitbindung. Eine Zeitbindung Gottes.“ Die Stimme hat jenen typischen Klang, an dem man sofort einen Film erkennt.


Wenn auch die Antworten ausbleiben, so finde ich doch manchmal Trost.

Ich öffne die Augen und liege in einem Bett, das die gleiche Position wie meines hat.
Ich kämpfe mit der Sicht. Vor meinem linken Auge befindet sich eine Art Absperrung. Plötzlich erkenne ich es als Daumen einer Hand. Ich spüre, dass die zweite mich von hinten hält und bin für einen kurzen Moment geborgen. Dann wache ich auf.


Wenn ich aus dem Zugfenster in die Landschaft schaue, einen Augenblick durchatme und das Leben in ihr spüre, merke ich, wie nichtig das ist, was als wichtig gilt, hier in der Welt; nicht wichtig für mich, aber für das vorherrschende Denksystem.
Einen Moment lang ahne ich: Wir sind Fragmente, in die Welt geworfen, von ihr gemacht – und doch können wir nicht einmal uns selbst erfassen, weder im Traum noch im Wachzustand. Teile von uns werden hinausgeworfen, formen sich beim Aufprall, ändern ihre Gestalt – und dann sind wir es, die sie wieder zusammensetzen, sie aneinanderlegen wie Puzzlestücke, in der Hoffnung, dass sie passen, ein Ganzes ergeben. Manche lassen sich nicht einfügen, erscheinen fremd neben anderen, größeren Flächen. Wieder andere werden aus uns herausgerissen, dass eine Lücke bleibt – bis wir unsere Teile wieder in die Welt werfen, von ihr neu formen lassen. Vielleicht passen sie eines Tages aneinander. Wie oft sind wir unsortiert, nur Bruchstücke, die in uns auf und ab rutschen und anstoßen. Das Leben macht sie härter, weniger formbar. Ob wir so je ein Ganzes ergeben?

Was am Ende bleibt: Weder Bewusstsein noch Unterbewusstsein halten Erklärungen bereit. Noch immer wissen wir nicht, wer wir sind und was dieses Ding, das wir „Leben“ nennen, zu bedeuten hat.


Anmerkung von unangepasste:

Hier als ein etwas anderes Experiment:
http://www.inskriptionen.de/?p=10102

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (29.04.18)
Sehr schön finde ich solche Formulierungen: "Zu oft habe ich mich in diesen Rätseln verlaufen, eine Mischung aus Wut und Empörung empfunden, dass wir so unmündig sind und nicht einmal uns selbst be-greifen. Währenddessen wird der Alltag immer oberflächlicher, rieseln Informationen auf uns ein, die ich nicht ausreichend in Wissen umwandeln, geschweige denn zu Erkenntnis verarbeiten kann."
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"Die Wahrnehmung von Wirklichkeit wird unklar; alles ist nur noch Bild, und mir ist, als hätte ich einen großen Schritt in ein Blatt Papier gemacht. "

Um solche Erlebnisse dürften den Erzähler bildende Künstler beneiden.

"Einen Moment lang ahne ich: Wir sind Fragmente, in die Welt geworfen, von ihr gemacht – und doch können wir nicht einmal uns selbst erfassen, weder im Traum noch im Wachzustand."

Gut möglich. Vielleicht sind unsere Gedichte ein Teil, der über uns als Individuen steht?

 unangepasste meinte dazu am 29.04.18:
Oder die Gedichte sind ein Versuch, zu begreifen - was aber doch von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.

 Dieter Wal antwortete darauf am 12.05.18:
Perfekter Titel. :)

 W-M (29.04.18)
Der Titel behauptet "Dadaismus" im Unbewussten des erzählenden oder sinnierenden Ichs. Der Text selbst bleibt dann aber recht konventionell, sowohl im Ton und Stil als auch in seinen Aussagen. Ich sehe da "nur" eine Sinnkrise, wie sie fast jeder / jede zweite im Leben mindestens einmal (oft eher öfters) hat. Das kommt mir fast so "lächerlich" vor wie Ingeborg Bachmann "Das dreißigste Jahr". Die Traumsequenzen sind ganz schön und poetisch, reißen aber das Ganze nicht wirklich raus. Mehr Mut Sigune und viel radikaler im Ansatz und in der Ausführung (auch sprachlich viel experimenteller) könnten dem Text helfen, der zwar zum Nachdenken anregt, aber am Ende verhaftet / stecken bleibt in zuviel Konvention (auch im Text wird am Ende nichts beantwortet, ja, es gibt nicht mal einen Ansatz in Richtung Antwort)?! Ich weiß, ich bin jetzt nicht nett und freundlich und haue nur noch einen oben drauf ... aber, das muss manchmal sein, wenn Du mir hier einen (ich nehme mal an) "literarisch harmlosen" Text als schweres Sinnieren eines "braven" Ichs verkaufen willst? Ansätze sind ja drin ...

 unangepasste schrieb daraufhin am 29.04.18:
Der Titel bezieht sich auf die geradezu absurden Gespräche der Personen im Traum.
Es gibt auch keinen Ansatz Richtung Antwort. Wenn man meint, eine Antwort zu haben, kann man nur religiös oder Atheist werden. Aber ich stehe dazu: Ich weiß, dass ich nichts weiß

 W-M äußerte darauf am 29.04.18:
Also: ich würde die "Traumsequenzen" in den Mittelpunkt stellen, als eigentlichen Text, ohne ihn als Traum zu kennzeichnen, als fantastische Erzählung? Dann würde ich zweitens den Rest in der dritten Person Singula ("sie") als eine Art zweite Stimme, quasi als "Kommentierung" dem fantastischen Text ergänzend und als Unterbrüche zur Seite stellen, so ähnlich wie im antiken Drama den Chor als Kommentierung des Hauptgeschehens? irgendiwe verschwimmen und vermischen sich sequenzartig die beiden Textstränge, nur durch "ich" und "sie" unterschieden? Und das Ganze sprachlich al "Fließtext" in sich abwechselnden Sequenzen? Nur so ein erster Vorschlag.

 unangepasste ergänzte dazu am 29.04.18:
Das ist keine schlechte Idee! Ich glaube, das könnte funktionieren.

Ich habe schon überlegt, ob dieser Text oder Teile davon nur dann irgendwie "ankommt", wenn man von der essayartigen Form weggeht und die Aussagen Figuren in den Mund legt. Immer schwierig bei solchen Themen - gerade Träume sind ja nicht unbedingt massentauglich.

 W-M meinte dazu am 29.04.18:
das Essayistische macht den Text schnell "sperrig" und ein bisschen "belehrend", finde ich?

 unangepasste meinte dazu am 29.04.18:
Ich denke, es ist eine Typfrage. Manche lesen es lieber so, manche können mit dem Literarischen, vielleicht ein bisschen mehr Rätselhaften eher etwas anfangen.
Ich werde den gleichen Text in anderer Form auf Inskriptionen testen - eine Version, die fast alles offen lässt, aber einen Hauch poetischer ist.

Nachtrag:
Jetzt liest es sich (auf Inskriptionen) wie eine Art Spiel zwischen Fiktionalität und Wirklichkeit, Figur in einer Geschichte und außerhalb davon ... Hat was, finde ich.

Antwort geändert am 29.04.2018 um 15:06 Uhr

 W-M meinte dazu am 29.04.18:
ja, das liest sich sehr gut jetzt, es wird fiktionaler und dadurch aber auch wirklicher, echter, authentischer ... dieses auf-distanz-gehen schärft den blick auf das wesentliche, sehr schön
wa Bash (47)
(29.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 29.04.18:
Danke! Ja, das Thema interessiert mich auch sehr ...
RedBalloon (58)
(19.05.18)
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 unangepasste meinte dazu am 19.05.18:
Danke, das freut mich, dass der Text zum Nachdenken anregt. Und solche Traumsequenzen machen Spaß. Mal schauen, ob da nicht noch mehr Texte entstehen ...
GigaFuchs (39)
(27.05.18)
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 unangepasste meinte dazu am 27.05.18:
Ich habe das "Wir" ein bisschen reduziert, weiß aber noch nicht, ob ich ganz darauf verzichten möchte. An den Stellen, die jetzt noch ein Wir haben, meinte ich "Dieses komische Ding, das wir mit dem Wort 'Mensch' benennen" - also mehr als nur ein Ich.

Deine Idee, die Augen in der Natur zu schließen, ist interessant. Wahrscheinlich wirkt es tatsächlich, obwohl es auf den ersten Blick paradox erscheint: Man empfindet ja scheinbar zu wenig, nicht zu viel.
Daran, dass wir uns mehr in der Handlung spüren als in der Betrachtung, ist auch was dran. Als Kind erlebte ich alles viel intensiver. Vielleicht auch deshalb, weil Kinder zu Handlung (Spiel) neigen und Erwachsene zum Herumsitzen und Zuschauen? Hm.

Den Gedanken, den du zum Schluss formulierst, habe ich auch mal irgendwo gelesen und ich kann ihn nachvollziehen. Aber das begrenzte Denken gibt sich dennoch nicht immer damit ab. Man will mehr, will die Natur sozusagen überlisten, durchbrechen, wie auch immer.
Das ist so ähnlich wie die Beschränkung durch die Sinne. Sie sind das Mittel, durch das wir wahrnehmen. Wir wissen nicht, was für eine Färbung sie haben. Die Welt unmittelbar zu erleben, ist nicht möglich - also kennen wir sie nicht.

Weder uns noch die Welt können wir somit richtig be-greifen. Das ist verdammt wenig.

Antwort geändert am 27.05.2018 um 19:56 Uhr
GigaFuchs (39) meinte dazu am 27.05.18:
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 Dieter_Rotmund (31.08.19)
Langatmige Nabelschau mit bleiernen Traumsequenzen, nicht gerne gelesen, sorry.
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