Wir alle sind Boateng ... und Weltmeister

Bericht zum Thema Sucht

von  eiskimo

Der Fotograf Paul Ripke (er schuf u.a. den Bildband „One Night in Rio“ über den WM-Erfolg der deutschen Fußballer 2014)  berichtete jetzt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von Jérôme Boateng, dass dieser sich noch kein Mal  - und jener sensationelle Erfolg ist inzwischen vier Jahre her!  - dieses grandiose WM-Finale je wieder angeschaut habe. Der Traum eines jeden Fußballers, nämlich den WM-Titel zu gewinnen, dazu von Boateng mit einem  grandiosen Match –  aber keine Zeit, es noch einmal sozusagen für sich zu genießen!
Typisches Merkmal im immer enger getakteten Business  des Profi-Fußballs?  Kein Ausruhen mehr, keine Rückbesinnung, sondern immer neue Wettbewerbe, neue Events und neue medial aufgeputschte Herausforderungen? 
        Oder ist es vielleicht ein ganz allgemeines Phänomen? Dass wir alle in immer dichterer Abfolge von einem Highlight zum nächsten hecheln, vom üppig gestalteten Weihnachtsfest über ein teures Neujahrs-Dinner rein in den Wintersport, den Karneval, den Osterurlaub, zu einem Himmelfahrts-Kurztrip, einem  Shopping-Wochenende hier, einem  60. Geburtstag dort....  - von den großen Ferien und dem Programm für August bis Dezember ganz zu schweigen.
Wir sind schon Reise-Junkies, ständig auf der Jagd nach Abwechslung und dem jeweils letzten Hype – die Stau-verseuchten Verkehrswege und überlaufenen Freizeitparks sind da der beste Beweis. Selbst unsere Kinder hält es nur selten zu Hause – sie sind kaum aus der Schule zurück, da hasten sie schon weiter zum Sport, zum Tanzen, zum Reiten, zur Party, zum Konzert…
Um auf  Boatengs nicht mehr angeschautes  WM-Finale zurückzukommen:  Wie oft blättern wir denn noch in unseren Urlaubsalben? Haben wir überhaupt noch welche?  Oder haben wir das Erlebte nicht gleich schon unverdaut weiter gepostet, in immer gleichen Selfies und Spontan-Filmchen?
Außer einem kurzen Augenkitzel wird davon nichts bleiben …  Privater  Datenmüll, den wir mit immer besserem Equipement  hyperaktiv potenzieren, um ihn noch schneller wieder zu vergessen.
Man könnte dieses Zu-viel-In-Sich-Hinein-Stopfen krankhaft nennen. Oder eine Sucht. Wir brauchen offenbar diesen Kick. Das haben wir mit dem Kicker Boateng gemein.  Die Trophäen von gestern sind schon verdrängt, verdrängt  vom  anvisierten, noch geileren Kick morgen.
Das Hamster-Rädchen läuft wie geschmiert, ja, es läuft immer schneller.

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Kommentare zu diesem Text

LottaManguetti (59)
(07.05.18)
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 eiskimo meinte dazu am 07.05.18:
Hallo, Lotta
Danke für die gute Note. Du kommst nicht nur auf den Punkt, Du siehst auch .... die Pünktchen. Habe sie schon eliminiert. Die hier am Zeilenanfang sind neckischer Natur....
lG
eiskimo

 Dieter_Rotmund (07.05.18)
Stimme zwar inhaltlich nicht ganz 100%ig zu, dennoch gerne gelesen.
Graeculus (69)
(07.05.18)
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 eiskimo antwortete darauf am 07.05.18:
Ja, ist dieser Spieler ehrlich oder macht er auf cool - kann ich nicht beurteilen. Ich fand diesen Umgang mit dem Erlebten - egal, ob es nun stimmt - einfach frappierend. Wahrscheinlich, weil ich mich selbst dabei erkannt habe, meine "Vergesslichkeit" . Vielleicht ist auch das menschliche Hirn gar nicht dafür gebaut, diese von heutigen Zeitgenossen erlebten Höhepunkte alle zu speichern....Es ist ja nicht nur das selbst Erlebte, wir füttern ja auch noch fremde Bücher und Filme zu, alles Thriller und hoch bewegende Stories....

 TrekanBelluvitsh (07.05.18)
Es gab nicht wenige Veteranen des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861-1865), die im hohen Alter behaupteten, in den 4 Jahren des Krieges hätten sie mehr erlebt als in dem Rest ihres ganzen Lebens, Heirat und geburt von Kindern eingeschlossen. Sind diese Leute im Krieg von einem "Highlight zum nächsten gehechelt"? Wohl eher nicht.

Die Bedeutung von Dingen/Ereignissen/Erlebnissen hängt zu einem großen Teil von dem ab, den wir ihm geben. Dazu gehört in unserer Zeit sicherlich die die Medialität. So ist - die Amerikaner werden es nicht so gern hören - der 11. September 2001 auch darum so tief ins kollektive Bewusstsein der Menschen eingedrungen, weil die Ereignisse quasi vor laufender Kamera stattfanden. Und während man im Fall Dieter Degowski bis heute die Rolle der Medien diskutiert (zurecht), fragt niemand nach, ob die Berichterstattung von jenem Septembertag angemessen war.

Ich will grundsätzlich nicht verhehlen, dass Ereignisse nur bedingt vergleichbar sind. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern solche Dinge für unser Leben entscheidend sind. Hätten sich z.B. die Europäer ohne die massive (auch staatliche) Propaganda als Opfer von 9/11 betrachtet? Und haben all jene, die im Fall Degowski die Medien kritisieren, unter jenem Verbrechen gelitten? Wenn sie nicht Silke Bischoff oder Emanuele de Giorgi hießen, oder mit ihnen Verwandt oder ihre Freunde waren, wohl nicht.

Ergo ist die Bedeutung von Dingen immer von unserer Beurteilung abhängig. Zuweilen mag diese Eindeutig sein, z.B. wenn ein Patient eine Diagnose bekommt, dass er an einer schweren Krankheit leidet. Das nicht wenige Amerikaner angeben, dass eines der prägensten Ereignisse für ihre Nation der Holocaust sei, ist auf den ersten Blick nicht gleich verständlich.


Und warum begleiten viele Menschen alles was sie tun, mit den technischen Spielereien, die ihnen zu Verfügung stehen? Ich fürchte, die Antwort darauf ist ebenso naheliegend wie banal: Weil sie es können.

 eiskimo schrieb daraufhin am 07.05.18:
Sehr anschaulich, was Du sagst. Trotzdem sehe ich das Problem der Quantität. Die Reizfülle und Reizdichte sind mittlerweile so hoch, dass die Filter versagen, zumal auch die Reizintensität immer höher gepusht wird: Wir erleben ja nur noch "Jahrhundert-Events", "Gänsehaut pur" und Sachen, "die in die Geschichte eingehen werden". Vielleicht "vergessen" wir Teile dieser Highlights schon aus Selbstschutz?
vG
Eiskimo

 TrekanBelluvitsh äußerte darauf am 08.05.18:
Wir erleben ja nur noch "Jahrhundert-Events", "Gänsehaut pur" und Sachen, "die in die Geschichte eingehen werden"

Jede Religion hat ihre ganz eigenen Gebete. Und das sind eben die des Konsumismus.

Offtopic: Darum irren nämlich Glaubensgemeinschaften, wenn sie (zumeist) dem Westen* Materialismus vorwerfen. Wir leben keinen Materialismus, sonder den oben erwähnten Konsumismus. Und das ist eine Religion. ("In Amerika ist Shopping ein Event" - Peter Hahne -)

* Geld nimmt auch jeder Gläubige gerne.

 niemand (07.05.18)
Sehr gut beobachtet und auf den Punkt gebracht!
LG niemand
tileo (37)
(08.05.18)
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