Heartware - Die Kugeln sind gefallen (4)

Erzählung zum Thema Wohlergehen

von  Inlines

Wir sitzen im großen Stuhlkreis, um die Morgenrunde durchzugehen, wobei jeder Mitbewohner erzählt, wie es ihm heute geht und was ihn gerade beschäftigt. Erika startet mit aufgeregter Stimme: "Bei dem Wetter werde ich mich auf der Liegewiese sonnen, und den neuen Badeanzug ausprobieren, den meine Tochter neulich für mich kaufte. Das ist ein super Teil, da freu ich mich schon drauf!" Freudig schaut sie in die Gesichter einiger Anwesenden, verteilt ihre Euphorie mit strahlenden Augen. Dann wendet sie sich ihrem Sitznachbarn zu, der abwesend wirkt, und fordert ihn auf weiterzumachen: "Franz, du bist dran!"

Er hebt nur langsam den Kopf. Man sieht, dass er geweint hat. Leise sprechend, erläutert er den Zustand: "Ich habe Lotto gespielt, alles riskiert. 10000 Euro in eine Unmenge an 6 aus 49 Feldern investiert. Abends die Ziehung verfolgt, und dann die Nacht damit verbracht meine Zahlen zu vergleichen. Und was soll ich sagen... Ich lag vollkommen... richtig. 32 Millionen Euro sind jetzt meine." Alle sehen verdutzt zu ihm.

Ungehalten spricht der Lehrer ihn an: "Ja, aber Franz, das ist doch toll! Was man für das Geld alles kaufen kann... Wenn man es geschickt anstellt, kriegt man dafür einen ganzen Radioteleskop-Verbund. Guck mal raus, der Garten wäre groß genug, und die Leitung der Seniorenresidenz hätte bestimmt nichts dagegen - Warum bist du also so traurig?" Franz schluchzt langgezogen, dann antwortet er zaghaft: "Ja, Leonardo, das stimmt alles schon. Aber ich wollte doch nicht gewinnen. Ich wollte mit dem Experiment den Kapitalismus an den Pranger stellen. Verstehst du? Aufzeigen, dass die Gewinne heimlich abgesprochen werden, eigenes Vermögen illusorisch, diese ganze Glücksspielindustrie im Grunde bloß Verarsche ist". Erika ergänzt: "Und außerdem würden Teleskope beim Sonnenbaden stören!"

Der Lehrer schwenkt den Kopf, schaut kurz zu mir, woraufhin ich nicke, und kehrt dann wieder mit seinem Blick zum depressiven Franz zurück: "Du meinst also, der Schuss wäre nach hinten losgegangen? Die 30 Jahre als Bürgermeister von Karl-Marx-Stadt nichts mehr wert? Du zweifelst am Mauerschußbefehl und der Rechtmäßigkeit der Stasi? Dem ganzen ehemaligen System an sich?" "Ja!", bricht es aus Franz heraus, "ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich vielleicht doch Bananen mag. Vielleicht hätte ich Mutti doch nicht ins Gefängnis sperren sollen. Sie konnte doch so super Stricken, und eventuell hat sie es gar nicht böse gemeint, als sie von willkürlichen Verhaftungen sprach. Das kann sich auf eine frei erfundene Geschichte bezogen haben, da gibt es doch so viele."

Ich will nun auch etwas sagen, doch der Lehrer kommt mir zuvor, hält mir sein offene Hand hin, was mir zu erkennen gibt, dass ich erst später Sprechzeit haben werde. "Franz" setzt er an, "weißt du noch, der Diskussionsabend? Kannst du dich an den Film erinnern, über den wir da gesprochen haben? Diese Parabel hinsichtlich des altruistischen Weltbildes?" Zögerlich antwortet Franz: "Du meinst... "Die Mädels vom Immenhof"?" - "Genau davon spreche ich!", erwidert Leonardo, "Stell dir vor, wenn Oma Janzten einfach aufgegeben, sich im Selbstmitleid gesuhlt hätte, à la "meine Misswirtschaft und diese pony-verwöhnten Gören sind an allem Schuld, unser Leben mit der Insolvenz verwirkt." Wäre das gut gewesen? Meinst du wirklich? So naiv kannst du doch nicht sein!"

Zorn überkommt Franz, von der Situation überfordert. Ungehalten brüllt er, dass die Passanten draußen vor dem Fenster ihren Spaziergang unterbrechen: "Ich habe keine Pferde, und eine Oma hab ich auch nicht mehr. Ich bin bloß von Schwätzern umgeben, von Personal, das sich die Bumse von senilen Schulmeistern ausspannen lässt. Dort bin ich! Verdammt, vielleicht gehör ich genau da hin!" Dann stürzt er aus dem Zimmer, schlägt die Tür zu, dass ein Bild von der Wand fällt, welches ein kleiner Junge während seines Besuchs gemalt hat. Erika und der Lehrer eilen ihm hinterher: Erika, wohl um zu verhindern, dass er sich etwas antut, und der Lehrer natürlich, um es in seiner Gänze auszudiskutieren, vermutlich mit einer Formelsammlung in der Hand.

"Nadine, du bist an der Reihe. Bitte fasse dich kurz", sage ich schließlich stockend, nach unangenehm langen Momenten des Schweigens. Schwenke einmal den Blick durch die ruhig gewordene Runde, in der Hoffnung, dass es für den Rest der Stunde auch so bleibt.

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(13.05.18)
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 14.05.18:
"Bumse":

Interessante Deklination vom Strombergschen Bums (= Büro, Amt, Arbeitstelle), wobei ich es eher Bumms schreiben würd? Läßt sich natürlich darüber diskutieren.
Ansonsten gerne gelesen!

 Inlines antwortete darauf am 14.05.18:
Danke für Eure Rückmeldungen!

Insbesondere, freut mich, dass dir Dieter auch einmal mein Geschreibsel zusagt. Vor allem, da diese wörtliche Rede für mich neu war... Es macht Spass damit zu experimentieren.

Was das Wort "Bumse" betrifft, kenne ich es bloß als abwertende Bezeichnung für eine Frau. Keine Ahnung, wo der Franz das aufgeschnappt hat...

FG
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