Rattengott

Parabel

von  autoralexanderschwarz

Um exakt 14:32 Uhr blieb die Versuchsratte ohne erkennbaren Grund stehen, nachdem sie das Labyrinth zuvor genau 87 mal fehlerfrei durchquert hatte.

Der Doktorand, dem dieses Experiment die Ergebnisse vieler Monate theoretischer Forschung bestätigen sollte, blickte sich kurz um, pausierte die Videoaufzeichnung und klopfte dann energisch gegen das Glas, doch die Versuchsratte blieb stehen und nicht nur das: sie versteinerte geradezu, so dass man sie beliebig aufheben und an einer anderen Stelle wieder absetzen konnte; es schien fast so, als hätte ein verborgener Zauber das lebendige Objekt durch eine ausgestopfte Attrappe ersetzt.

Anfängliche Zweifel am Gesundheitszustand der Ratte ließen sich jedoch nicht erhärten, da sich sämtliche Vitalfunktionen im normalen, wenn nicht gar optimalen Bereich bewegten, die Ratte war ohne Frage körperlich gesund, das kleine Herz schlug, es mussten psychische Gründe sein, die sie hatten erstarren lassen. Irgendetwas musste sie erschreckt haben, doch es fand sich kein Grund, warum sie ausgerechnet an dieser Stelle stehengeblieben war, die sich nicht in besonderen Maße von anderen Stellen des Labyrinths unterschied.

Irritiert blickte der Doktorand hinüber zu den anderen Versuchsaufbauten, in denen die anderen Ratten unbeirrt weiter durch die Gänge flitzten und einem mysteriösen Duft folgten, der am Ende des langen Weges ein besonderes Weibchen als Belohnung versprach. Sie würden laufen, bis ihr kleines Herz versagte und in bereits vorher exakt berechneten Bereichen liegenbleiben. Ausgerechnet die erstarrte Ratte aber hatte als einzige den experimentellen Impfstoff erhalten, so dass der perfekte Lauf der anderen nichts als schmückendes Beiwerk war.

Ein eiligst herbeikonsultierter und auf Ratten spezialisierter Tierpsychologe bestätigte den anfänglichen Verdacht, dass die Starre gemeinhin Symptom eines Schockzustandes sei, doch was genau die Ratte erschreckt hatte, konnte auch er nicht sagen, da die anhaltende Starre der Ratte tiefergehende psychologische Verfahren unmöglich machte.

Im außerplanmäßigen Gespräch mit dem Professor, den der Doktorand telefonisch im Jahresurlaub erreichte, kam man dann aber überein, dass dieses Verhalten wohl in gestörten Erbanlagen begründet liegen musste, die diese Ratte von vornherein unbemerkt beeinträchtigt hatten und dass es das Beste wäre, den Versuch noch einmal vollständig zu wiederholen.

„Es tut mir leid um die ganze Arbeit, aber auch ein Misserfolg kann die Forschung weiterbringen“, sagte der Professor am Telefon und bereute bereits während er es sagte, dass er ausgerechnet dieses Wort gewählt hatte.

*

Die Ratte aber war einem fremd-vertrauten Duft gefolgt und ohne jegliche Furcht durch das Labyrinth gerannt, hinter jeder Ecke hatte sie ihr Ziel vermutet, verborgene Düsen, die langsam die Intensität des Geruchs erhöhten, hatten ihr das Gefühl gegeben, immer näher an das Objekt der Begierde heranzurücken und beim dritten Durchlauf, als bereits alle Ecken und Abzweigungen bekannt waren, war sie mit geschlossenen Augen an den Wänden entlanggestrichen, nur den Geruch in der Nase, nur noch sie und der Geruch, immer schneller, immer näher und so wäre es wohl immer weiter gegangen, wenn sie nicht an einer zufälligen Ecke ein plötzlicher Gedanke erschreckt hätte.

Der experimentelle Impfstoff hatte in ihrem Kopf einen Prozess in Gang gesetzt, der es ihr erlaubte, einige Gedanken weiterzudenken, als Ratten dies gemeinhin vermögen und während sich ihre Artgenossen nur darüber freuten, dass der Weg durch das Labyrinth ihnen auf geheimnisvolle Weise vertraut war, begriff sie, dass sie sich in einem großen Kreis bewegte und dass dies zugleich bedeutete, dass es kein wirkliches Ziel gab, das sie erreichen konnte. Dennoch war sie erst einmal weitergerannt, zunächst aus Gewohnheit, dann aus dem unbestimmten Gefühl heraus, dass sie beobachtet wurde.

Wenn es kein Ziel gibt, dass ich erreichen kann, dachte die Ratte, muss es ein Ziel geben, dass jemand anderes erreicht, wenn ich renne, oder es gibt gar kein Ziel und alles ist sinnlos.

So kam es, dass in der laufenden Ratte die Idee eines Rattengottes entstand, für den es gut war, dass sie durch das Labyrinth lief und für einige Runden gab ihr dieser Gedanke Zuversicht, sie entwickelte kleine Rituale, um dem Rattengott zu huldigen, hielt bspw. an bestimmten Stellen des Labyrinths die Luft an oder verlangsamte an anderen den Herzschlag, hütete sich aber davor, dass man ihre Religion von außen beobachten konnte. So lief sie durch das Labyrinth und der betörende Duft des Weibchens war ihr kein Ziel mehr, sondern die Belohnung einer höheren Existenz, der Geruch ihres Gottes, dem sie vielleicht nicht wirklich näherkam, der sie aber auch nie verließ.

Doch nach einigen weiteren Runden kamen ihr erste Zweifel: was, wenn es den Rattengott gar nicht kümmerte, dass sie dort im Kreis lief, was, wenn es ihn gar nicht gab oder er längst gestorben war und dann, wieder einige Runden später, kam ihr eine großartige Idee, eine Prüfung, sie würde einfach stehenbleiben und wenn ihr Lauf im Kreis eine Bedeutung hatte, dann würde sich der Gott schon zeigen und so blieb sie stehen, verkrampfte alle Muskeln vor Anspannung und wartete, während das kleine Herz vor Aufregung immer schneller schlug, wartete, wartete, bis sie auf einmal eine Berührung spürte und eine große weiche Hand sie ergriff und in die Höhe hob.

Nun konnte sie von oben auf ihr Labyrinth blicken und dann auf die vielen anderen Labyrinthe daneben, in denen Ratten durch die Gänge huschten. Ein besonderes, ein auserwähltes Gefühl durchströmte sie, als sie schließlich den Blick von all dem abwandte, um zum ersten Mal das Antlitz ihres Schöpfers zu bestaunen. Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf, wie bspw. was nach dem Tod käme oder welchen Zweck die vielen Labyrinthe hätten und sie hoffte so inständig, dass es eine Möglichkeit gab zu kommunizieren, doch wenn die Macht dieses Gottes auch nur ansatzweise so groß war, wie sie es sich vorstellte, dann sollte es ihm ein Leichtes sein die Sprache aller Tiere zu verstehen. So duldete sie alle weiteren Untersuchungen wie eine geheimnisvolle Prüfung, doch als die weiche Hand sie schließlich noch einmal emporhob, überwand sie ihre Furcht und quiekte die schönsten Töne, die sie kannte, um ihn zu begrüßen und zu preisen.

*

Bevor der Doktorand an diesem Abend das Labor verließ, hob er die quiekende Ratte aus ihrem Käfig und zertrümmerte ihren Schädel mit einem kleinen eigens dafür vorgesehenen Hammer.

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