Vivisektion und Stühlerücken

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

Der Stuhl steht an einer gänzlich anderen Stelle.
Alles ist verrückt.

Publikum:

Sing, bleicher Jüngling, sing!
Sing uns doch endlich deine kleine traurige Todesfuge!

Bleicher Jüngling, sehr selbstbewusst mit Knabenstimme:

„Die Milch wird so sauer, Nofretete,
(wir trinken, wir trinken, wir trinken sie nachts),
man müsste sie tagsüber nur zurück
in den Kühlschrank stellen,
doch sie ist so viel zu weit weg,
so weit, dass man sie nie
- selbst wenn man es wollte -
mehr erreichen könnte.“

Das Publikum klatscht verhalten.

„Dennoch wird unser Haar so grau,
(wir sterben, wir sterben, wir sterben wie Heu),
Nofretete,
und unsere Haut wird so faltig.
Die Zähne wollen ständig geputzt werden
und die Parodontose zerrt das Fleisch unbarmherzig zurück;
das Wasser riecht schon so sehr nach Glas,
Nofretete, und
in unserem Zahnputzbecher
kräuselt sich bereits
der nächste Sturm.

Selbst Gottfried Benn
starb schließlich so elend
in der Krebsbaracke
und der Schmerz
saß ihm so viel zu tief
in den Knochen.

Man muss sich so lange beeilen,
bis es schließlich zu spät ist. “

Das Publikum klatscht verhalten.

Der bleiche Jüngling aber schweigt
und schneidet
mit der bloßen Hand
in die losen Gedanken,
zerteilt sie pantomimisch in hauchdünne Scheibchen,
platziert sie mit den Fingerspitzen auf unsichtbarem Mikroskop,
schaut immer nur kurz
und mit einem Auge
durch das Okular
und glaubt dabei doch immer wieder
für einen kurzen Moment
einen Blick in die Ewigkeit
erhaschen zu können.

„Es ist nichts zu sehen“, ruft er schließlich enttäuscht,
„es sind nur noch Hirnschalensplitter.“

Das Publikum klatscht verhalten.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram