Nie hat es einen blaueren Himmel gegeben

Erzählung zum Thema Leben

von  Sekundärstille

PROLOG

Er fasst sich an die Stirn. Ist irgendwas? Sie zerteilt eine Garnele mit dem Messer, betrachtet ihn über die Kerzen hinweg. Nein, schon gut. Seine Hand zittert, als er sich mit der Serviette übers Gesicht wischt. Sicher, dass alles in Ordnung ist? Er löst den Krawattenknoten, keucht.
Was… fängt er an und umklammert mit einer plötzlichen, kräftigen Bewegung ihr Handgelenk.
Was hast Du… dann knallt er vornüber auf die Tischplatte.
Bratensoße spritzt vom Teller hoch, ein Weinglas fällt klirrend auf den Boden.

I. Sommer

07:00, seine Faust schnellt unter der Decke hervor und trifft den Wecker. Plastik gegen Rauhfaser. Zumindest ist es ruhig. Sie steht auf und mit einem Klick surren die Jalousien nach oben.
Los, raus, sagt sie.
Ich kann nicht, sagt er.
Dann bleib eben liegen. Sie geht ins Bad und betrachtet sich im Spiegel, Neonlicht und zum Zähneputzen Radio mit Popsongs.
Im Schrank über dem Waschbecken sind Sachen, die man eigentlich nur auf Rezept bekommt. Sie nimmt eine Schachtel raus und wirft sie zu ihm aufs Bett.
Das Knistern, das es macht, wenn man eine Tablette aus dem Plastik löst.
Schlucken, mit Wasser. Dann seine Stimme: Du, Marie?
Sie tupft MakeUp auf die dunklen Augenringe.
Marie, liebst Du mich eigentlich noch? Er lässt sich zurück ins Kissen fallen, aber das Zeug wirkt schon und die grauen Wolken in seinem Kopf verziehen sich. Komm sag mal.
Ja, ja, ruft sie mit vollem Zahnpastamund.

Sie erinnert sich: an das Motorrad. An Wind im Haar, seine Wärme, ihre Hände fest um ihn geschlungen. Lederjackenknistern und das Wummern vom Sechszylinder.
Sie hatte gehofft, dass sie niemals langsamer werden. Nur weg, von endlosen Klavierstunden, gewienertem Parkett und freitags Fisch mit Tischgebet.
Aber die Fahrt endete dann doch nur an irgendeinem Badesee.
Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Die Realität und Gewöhnungseffekte. Die Spülmaschine rauscht, im Garten das regelmäßige Geräusch der Rasensprenger.

Er starrt die weißen Fliesen an. Dazwischen sind Fugen, die völlig symmetrisch verlaufen.
Während der Assistent seinen Kittel hinten schließt, zieht er den Mundschutz über und drückt das Haarnetz auf die Glatze. Hände vors Gesicht -kein Zittern. Gut. Er atmet ein. Er atmet aus. Dann betritt er den OP.

Wann sehen wir uns wieder? Etoiles flüstern in ihrem Nacken.
Weiss nicht. Sie küssen sich. Wann sehen wir uns wieder? Mit einer plötzlichen Kraft fasst er sie am Arm. Seine kalten Augen fixieren sie. Ist ja gut. Nächsten Montag, ok?
Sie blickt ihm nach, wie er über die Kiesauffahrt trabt, Haar und Mantel tropfnass. Dann zieht sie den Lippenstift nach. Sie muss die Mädchen von der Schule abholen.

II. Herbst

Das sieht dir ähnlich, du kannst es nicht hinnehmen wie ein Mann. Du bist eine jammernde, depressive Lusche. Was jetzt? Dafür kriegen sie dich endgültig dran!
Sie rüttelt ihn und zwingt ihn sie anzusehen. Sein Atem riecht nach einem Gemisch aus Alkohol und Hustenbonbons.
Ich hab keine Ahnung flüstert er. Ich weiss nicht, wie das passieren konnte.
Er spürt den Schweiß, der sich zwischen Haut und Shirt ausbreitet.
Los, zieh dich an. Er schleppt sich nach oben. Und verdammt, reiß Dich zusammen, schreit sie die Treppe rauf.

Diese Familie, einfach wie aus dem Bilderbuch! Während Marta, die Frau des Klinikleiters, die Türen zum Wohnzimmer öffnet, blickt sie die beiden bewundernd an.
Und wie gehts den Kleinen?
Wunderbar! Lena ist in die zweite Klasse gekommen.
Sie zeigt ein Bild auf dem Handy, das sie vor vier Wochen am Strand von Barbados gemacht haben.
Er ist still, irgendwie fühlt es sich an, als stünde er nicht auf Fischgrätparkett, sondern auf Treibsand, die Tabletten brauchen immer eine halbe Stunde, bis sie wirken. Blick auf die Uhr.
Noch zehn Minuten, oder?

Alle im Smoking, die Frauen im Kleid. Es riecht nach Parfüm und Schminke. Einmal im Jahr, alle Oberärzte in der Villa am Elbchaussee.
Etoile bahnt sich seinen Weg, sie entdeckt ihn spät, kann nicht flüchten.
Küsschen auf die Wange dann macht sie ihn ihrem Mann bekannt. Rainer, das ist Etoile.
Hab schon viel von Ihnen gehört, wir jungen Ärzte blicken zu Ihnen auf.
Und zu ihrer schönen Frau. Er zwinkert ihr zu. Später, beim Rauchen auf englischem Rasen, flüstert er: warum hast Du mich Montag versetzt?
Er legt einen Arm um ihre Schultern. Dann packt er sie fest im Nacken, zieht sie zu sich.
Wenn das nochmal vorkommt, dann sag ich alles. Alles. Dann bye bye Bilderbuchfamilie.

02:00. Im Flur schlägt eine Standuhr, die sie hasst.
Die Nanny hat die Mädels schon vor Stunden ins Bett gebracht, Rainer schläft generell.
Sie geht die Stufen runter und macht im Keller Licht.
Modellschiffe stapeln sich an den Wänden, das war von damals, als er noch Hobbys hatte.
Die kleine Kiste, die sie sucht steht oben auf einem Regal, staub ist drauf und sie fragt sich, als sie den Revolver herausnimmt, ob er überhaupt noch funktioniert. Wiegt ihn in der Hand.

III. Winter

Das verdammte Geräusch der Schneefräse von der Auffahrt her.
Sie hat den schwarzen Blazer gewählt, wenn einem alles um die Ohren fliegt, ist ein schwarzer Blazer immer eine gute Wahl. Betrachtet sich im Spiegel. Vierunddreißig Jahre.
Ausatmen. Einatmen. Dann rennen die Kinder ins Schlafzimmer.

Rückblickend sei zu sagen, dass er immer versucht hat, das Beste aus seinem Leben zu machen.
Hat nicht geklappt, denkt er, während neben ihm der Anwalt Leitzordner auf und zu schnappen lässt. Er blickt rüber zu Marie, sie sitzt hinten auf den Plätzen der Prozessbeobachter, starrt auf ihr Handy.

Als sie geheiratet haben, hat es genauso geschneit wie heute. Wer heiratet schon im Dezember, hat seine Mutter gesagt, aber das war ihnen egal.
Liebst Du mich noch? Hat er heute morgen gefragt und sie hat nichts gesagt, weil sie den Kopf voll hat, das Haus, die Kinder.

Sie schaut runter auf ihr Handy, aber der Bildschirm ist schwarz, am liebsten wäre sie gar nicht mitgekommen, Tragödien erlebt man lieber durch ein Opernglas oder durch den Bildschirm, nicht im real Life.
Es hat geschneit, als ich ihn geheiratet habe, wie heute, denkt sie.
Kalt ist gut, denn in der Kälte gehen Gefühle unter, wie auf einem zugefrorenen See.
Man kann zwar durch die Eisschicht schauen, aber es ist trotzdem Abstand dazwischen.
Sie streicht den Rock glatt.

Im Namen des Volkes ergeht folgende Urteil. Mehr hört er nicht, weil er sich die Ohren zuhält.
Mehr hört sie nicht, weil sie den Gerichtssaal verlässt.
Draußen ist es eigentlich zu kalt, um im Kostüm rumzulaufen.

Mein Gott, ich habe es in der Zeitung gelesen, wie furchtbar! Kunstfehler! Und dass es einem Patienten das Leben gekostet hat!
Sie blickt herab auf diese komische Frau, ihre Kinder gehen in die selbe Klasse.
Dann wischt sie sich imaginäre Tränen ab. Sagt: ja, furchtbar, aber es hat etwas Gutes, denn jetzt kann er uns zuhause nicht mehr tyrannisieren.
Rainer kam mir immer so gutmütig vor! Sagt die Komische. Das hat jeder gedacht, aber die Wahrheit ist, so war er nie.

Obwohl die Straßen vereist sind, joggt sie zehn Kilometer. Man darf nicht unwahr über jemanden reden, hat Mutter gesagt. Sie sagte das und hat damals auf das Kruzifix geschaut, das über der Eckbank hing, Eiche natürlich. Wenn es aber Vorteile bringt?

IV. Frühling

Er steht am Fenster, Blick in die Sonne.
Zwischen der Scheibe und der Welt draußen sind keine Gitter mehr.
Man kann sie öffnen, sich herauslehnen, man kann die Arme hinausstrecken und dann Wind spüren und Wärme.
Diese Nacht war ohne Schlaf, weil er ständig an seinen Vater dachte.
An die dunkle Bibliothek. An den kalten Blick. An den kalten Blick, als er sagte: Du kannst Dich entscheiden, entweder Medizinstudium oder kein Erbe.
Schlimm ist nicht das fehlen der Möglichkeiten, schlimm ist die Tatsache, dass man sie übersieht, verpasst, verdrängt.

Der Schlüssel hat nicht mehr gepasst. Stattdessen war da diese Kiste, auf der Regentropfen von gestern runde Flecken hinterlassen haben.
Die Kiste hat er auf das Bett gestellt, das Hotelzimmerdoppelbett, von dem er nur eine Seite braucht.
Das Übergangsdoppelbett, das sowas wie einen Neustart darstellen soll. Einen Neustart ohne Approbation, schneller wegen guter Führung.

Sie ordnet das Besteck und den Teller nochmal, jetzt symmetrischer zur Tischkante.
Vierundzwanzig Monate. Sie könnte ihn verstehen. Alles.
Sie hören nur auf die Geräusche um sich herum, bestellen, nippen an den Gläsern.
Nimmst Du diese Tabletten noch? Fragt sie leise. Nein. Er möchte ihr ein Kompliment machen wegen dem Kleid.
Stattdessen: bist Du glücklich? Ihr Blick ist starr.
Ich bin allein im Haus, nur mit den Kindern.
Warum hast Du dann das Schloss ausgewechselt?
Sie nimmt einen, zwei, drei Schlucke Wein. Du warst im Gefängnis, was sollen die Nachbarn denken, wenn Du nun plötzlich einfach wieder einziehst?
Die sehen Dich und denken an Scheitern.

Im Moment, bevor es schwarz wird, denkt er: Gift. Denkt er: Tod durch Gift.
Im Moment, als es schwarz wird, als die Bratensoße über den Tisch spritzt, denkt sie:
Herzinfarkt. Und: Reinigung, wird die verdammte Reinigung die Soßenflecken wieder rausbekommen?

EPILOG

Die Jalousien surren nach oben.
Sie scrollt die Messages auf ihrem Handy durch, Etoiles letzte Nachricht, die sie wieder und wieder gelesen hat. Zwei Sätze, ein Ort, eine Uhrzeit, wie er es immer geschrieben hatte.
Sie tippt auf löschen. Von dieser Nummer wird nichts mehr kommen.
Inzwischen ist es fünf Monate her. Haben sie ihn gefunden? Sie streckt sich quer über das Bett.
Gleich wird sie die Mädels wecken. Später brunchen. Nachmittags golfen.
Sonne blendet im fünfundvierzig-Grad-Winkel ins Schlafzimmer, legt sich über ihr Gesicht, ihren Körper.
Direkt neben dem Nachtkästchen ist immer noch die Kerbe in der Tapete, vom Wecker, damals. Eine feine Schürfung. Plastik gegen Rauhfaser. Die Maler müssen das ausbessern.
Sie schluckt die Wolken weg. Nie hat es einen blaueren Himmel gegeben.

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(02.06.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Sekundärstille meinte dazu am 02.06.18:
Lieber Uwe,

vielen Dank für Deinen Kommentar!
Freut mich, wenn Du den Text interessant findest!

Was meinst Du mit "formalen Fehlern"? Hast Du ein Beispiel?
Danke Dir!

Liebe Grüße,
Jan

 tulpenrot antwortete darauf am 02.06.18:
Die Geschichte ist toll. Auf keinen Fall ausweiten. Die muss so bleiben ... aber die Rechtschreibfehler sollten weg. Ein guter Lektor könnte dir sicher auf die Sprünge helfen.
Sätzer (77) schrieb daraufhin am 02.06.18:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Sekundärstille äußerte darauf am 03.06.18:
Danke Dir!
Dass man bei wörtlicher Rede Anführungszeichen verwendet ist mir natürlich klar. Ich wollte das aber bewusst nicht und werde diesen Text auch ohne Anführungszeichen lassen, weil ich es stilistisch hier mag.

 Sekundärstille ergänzte dazu am 03.06.18:
@tulpenrot: vielen Dank für Deinen Kommentar

 EkkehartMittelberg (02.06.18)
Der fragmentarische Stil ist die Stärke dieses Textes, den ich für gelungen halte. Die paar flüchtigen Rechtschreibfehler (so viele sind es gar nicht) solltest du selbst finden,
LG
Ekki

 Sekundärstille meinte dazu am 03.06.18:
Vielen Dank, es freut mich sehr, dass Du den Text für gelungen hältst!
Liebe Grüße,
Jan

 Judas (24.09.18)
Mag ich. Mag ich wirklich. Die ausführliche Kritik haste ja live von mir bekommen ;)

 Sekundärstille meinte dazu am 24.09.18:
ohhh danke!!! Freut mich sehr, dass es Dir gefallen hat!

 Judas meinte dazu am 24.09.18:
ich muss wirklich mal mehr von dir lesen :D

 Sekundärstille meinte dazu am 25.09.18:
Aber ja! Ich freue mich auf eine Lesung in Norwegen :P :O
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