Schulgeschichten. Gähnende Langeweile

Erzählung zum Thema Schule/ Studium

von  EkkehartMittelberg

Fast jeder, der an seine Schulzeit zurückdenkt, assoziiert auch Stunden der Langeweile. Daran wird sich wohl nie etwas ändern, weil immer wieder geborene Bürokraten, durch materielle Sicherheit und Ferien verlockt, den Entschluss fassen, Lehrer zu werden und es fertig bringen, kreative Handreichungen für einen faszinierenden Unterricht zu verhunzen. Aber wer heute über Langeweile in der Schule klagt, jammert auf „gehobenem“ Niveau.
Ich habe in meinen Schulgeschichten aus den Fünfziger Jahren, die ich selbst erlebt habe, über mitreißenden Unterricht auf der Oberstufe erzählt  („Was hat Sartre mit Kohl zu tun?“). Heute will ich berichten, wie auf der Mittelstufe die Glocke der Langeweile über uns gestülpt wurde, die keinen erfrischenden Luftzug hineinließ.
Die Tatsache mag die damaligen Lehrer ein wenig entschuldigen, dass ihnen außer Tafel und Kreide kaum Medien zur Verfügung standen, mit denen sie den Unterricht hätten auflockern können. Aber der Hauptgrund für dessen Monotonie lag wohl darin, dass unsere vom Krieg gezeichneten Lehrer bis auf wenige Ausnahmen sich über Aggressionen der Schüler beklagten und ihre Pension herbeisehnten.
Sie kaschierten ihre didaktische und methodische Fantasielosigkeit, indem sie die Bedeutung der Wiederholung betonten. Das nahm zum Teil groteske Formen an. Wir lasen manche Texte so oft, dass ich heute noch deren Seitenzahl in unserem Lesebuch weiß und manche Beispielsätze waren symbolisch für den pädagogischen Stillstand, so z. B. dieser für die Satzreihe: “Die Bremsen quietschten, und der Wagen stand still.“
Manchmal ließen wir uns etwas einfallen, um die langweiligen Lehrer zu ärgern und lernten, ohne dass wir es merkten, gerade durch unsere Absicht, den Unterricht zu destruieren. Ich erinnere mich an eine Stilübung, in der für einen Lückentext Adjektive und Adverbien zusammengetragen werden sollten, um einen Pfau treffend zu charakterisieren. Der Text begann so: “      präsentiert er sein Gefieder.“„Stolz“ wurde erwartet. Wir schlugen bierernst „einfältig“ oder „nachdenklich“ vor, und der gefoppte Lehrkörper zeigte  deutlich seinen Ärger. „Er hatte sein Rad geschlagen und die fein abgestimmten Farben wirkten                .“ Der Magister erwartete „elegant“, wir antworteten „bunt“ oder „aufreizend“, und sein Ärger steigerte sich, weil unsere Antworten nicht ganz falsch, sondern bewusst immer knapp daneben lagen.
Ich wurde bei diesem Langweiler übermütig, ohne noch richtig zuzuhören, was er erklärte. Wir lasen mittelhochdeutsche Liebesgedichte mit beigefügter neuhochdeutscher Übersetzung, der Mittelstufe angemessen. Dann kam eine Klassenarbeit, in der wir ein mittelhochdeutsches Liebesgedicht interpretieren sollten. Ich verfügte damals bereits über einen ausreichenden Wortschatz, um sentimental zu schreiben. Ohne sonderlich auf den Wortlaut des Gedichts zu achten, verwandelte ich es mit meiner Interpretation zu Kitsch, natürlich vorgebend, dass es sich um hohe Kunst handele. Ich glaubte damit dem Deutschlehrer besonders zu gefallen. Aber er bescheinigte mir in seiner Beurteilung, dass ich schreibe wie Hedwig Courths -Mahler und beurteilte die Arbeit mit Recht als mangelhaft. Der Hinweis auf Courths-Mahler war für meine Eltern gedacht, aber jetzt wollte ich es wissen und besorgte mir Literatur über die sehr erfolgreiche Autorin kitschiger Romane. So lernte ich sehr früh, mich dem Begriff Kitsch zu beschäftigen und über dessen Relativität nachzudenken. Das war einem Deutschunterricht geschuldet, der langweiliger nicht sein konnte.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (06.06.18)
Die Pfaugeschichte gefällt mir gut. Ja, es muss chon sehr weit kommen, wenn die Schüler sich ausdenken, wie man den Unterricht spannender machen kann -und wenn es nur ist, um den Lehrer zu ärgern. Vernichtender kann die Kritik an dem Lehrkörper wohl kaum sein.

Das mit dem Kitsch ist zuweilen eine schwierige Sache. Auch im "Nibelungenlied" gibt es hölzerne Charaktere. Am lebendigsten ist Hagen, der intrigante Oberbösewicht. Und aus dem schwarz-weiß Denken kommen die Figuren auch nicht immer heraus, wie das Töten von Kriemhild am ende zeigt. Und obwohl der zweite Teil, eigentlich das Scheitern der christlich-höfischen Gesellschaft zeigt (der moralisch-ethisch handelnde Charkter ist ja der "Heide" Etzel), bin ich mir ziemlich sicher, dass viele Zeitgenossen von Kriemhilds Tod mit Genugtuung hörten. Kitsch ist das "Nibelungenlied" dennoch nicht.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.06.18:
Merci, Trekan, du hast die Pfauengeschichte genau verstanden. Es geht um produktive Langeweile.
Die Frage nach dem Kitsch ist eigentlich nicht das Zentrum meiner Erzählung. Sie ist nur ein Beispiel, was man aus Langeweile lernen kann. Das Nibelungenlied ist kein gutens Beispiel, um der Frage nach dem Wesen von Kitsch nachzugehen. Ich verstehe, was du mit den hölzernen Charakteren meinst, aber du bist damit eher Stereotypen auf der Spur und die sind ein Kennzeichen von Trivialem, nicht von Kitsch. Kitsch ist die übertriebene Verwendung stilistischer Mittel.
Bette (70)
(06.06.18)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 06.06.18:
Merci, Bette, ich kann gut verstehen, dass die Courths-Mahler in der DDR nicht verpönt war, denn es ging ihr - da liegst du richtig - um die Aufhebung von Klassenunterschieden. Zu diesem Zweck setzte sie gehäuft süßliche Stilmittel ein, eben Kitsch. Aber nach marxistischem Denken heiligt in diesem Falle der Zweck die Mittel.
LG
Ekki

 Habakuk (06.06.18)
Ekki, das wird doch keine unendliche Geschichte werden? Nun ja, wäre auch nicht weiter schlimm.
Was ist Kitsch? Für mich ganz einfach. Wenn ich es als kitschig empfinde, ist es Kitsch. Wenn ich es nicht so empfinde, ist es kein Kitsch. Was interessiert mich die Meinung sogenannter Experten. Mir reicht mein eigener Blödsinn, den ich verzapfe. In dem Sinne harre ich auf eine Fortsetzung der unendlichen ...

H.

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 06.06.18:
Spassibo, Habakuk. ich weiß ja, dass du deine Defrinition von Kitsch nicht so ernst meinst. Dennoch wundere ich mich, dass Laien sich um den Begriff streiten, statt sich einfach dazu zu bekennen, dass sie Kitsch schreiben, denn guten Kitsch zu produzieren ist gar nicht so einfacdh. Die Experten sind sich jedenfalls seit Killy einig, dass der Kitschier süßliche Stilmittel übertrieben einsetzt, um eine bestimmt emotionale Wirkung zu erreichen. Das geschieht oft bewusst und deshalb lächeln heute manche Autoren gleichmütig über den Kitsch-Vorwurf.

 Habakuk äußerte darauf am 06.06.18:
Du irrst. Ich meine es todernst.
Sin (53)
(06.06.18)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 06.06.18:
Gracie, Sin, ja, wenn die Chemie zwischen Lehrer und Schüler stimmt, wird es fast nie langweilig, weil der Schüler noch dem trockensten Stoff etwas abzugewinnen versucht, um dem Lehrer zu imponieren. Interessanter wird es, wenn man als Schüler auf eine Lehrkraft trifft, die man eigentlich nicht mag, sich aber eingesteht, dass sie den Stoff interessant dabietet, man sich also mit seinem Vorurteil auseinandersetzen muss. Es verdiente eine gesonderte didaktische Untersuchung, was passiert, wenn Schüler die Langeweile nicht mehr ertragen können und den Lehrer mit Kreativität herausfordern, um nicht einzuschlafen.
Graeculus (69)
(06.06.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.06.18:
Danke für das perfekte summary meiner Erzählung, Gaeculus. Ich vermute, dass dir als einem Meister der Gesprächsimpulse zum Thema Langeweile eigene Erfahrungen fehlen
MichaelBerger (44)
(06.06.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.06.18:
Ja, Michael, die Verwendung und Rezeption des Begriffs Kitsch ist geradezu ein Phänomen. Es ist merkwürdig, dass der Begrriff unter Experten seit Walter Killys Definition kaum umstritten ist. Danach schreibt ein Autor, der bestimmte schönfärbende Stilmittel im Übermaß einsetzt, kitschig.
In der umgangssprachlichen Verwendung hat der Begriff Kitsch freilich eine verwirrende Spannbreite. Manche verwenden ihn einfach abwertend in dem Sinne, das etwas nichts taugt.
Du hast recht, dass sogenannte Meisterwerke der Literatur nicht frei von Kitsch sind, zum Beispiel "Narziss und Goldmund" von Hesse oder "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" von Rilke,
Wer sich über Beispiele von Kitsch bei namhaften Poeten amüsieren möchte, dem empfehle ich von Karlheinz Deschner: "Kitsch, Konvention und Kunst".

 unangepasste (06.06.18)
Wir lasen auch Texte, bis ich sie über ganze Seiten auswendig konnte. Und dann lautete die Hausaufgabe noch häufig "lesen üben". Das bedeutete, eben jene Passagen, die man im Unterricht schon fünf mal gelesen hatte, zu Hause erneut vorzulesen - eine in der Regel von mir ignorierte Aufgabe.
Ich kann noch heute mindestens die erste halbe Seite von "A Christmas Carol" auswendig, und aus den Tagebüchern von Max Frisch auch ganze Passagen.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.06.18:
Danke für die Bestätigung. Nicht zu fassen, dass diese sturen Wiederholungen auch noch bei deiner Generation vorkamen, denn die Handreichungen für den Unterricht der Lehrer wurden immer kreativer. Lehrer, die heute noch stur repetieren, sind also entweder fantasielos oder faul.
Hilde (62)
(06.06.18)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.06.18:
Vielen Dank, Hilde, du interessierst dich für meine Position zu Kitsch. Zunächst einmal: Es gibt ihn, den Kitsch, und er ist als Begriff keine unnötige leichtfertige Herabwürdigrung. Ich empfehle in dem Wikipedia- Artikel "Kitsch" den Abschnitt "Definitionsversuche", Es scheint so, als gäbe es auch bei ästhetisch geschulten Menschen gelegentlich ein Bedürfnis nach Kitsch. Anders ist es nicht erklärbar, dass sich kitschige Textausschnitte auch bei berühmten Literaten finden, die Karlheinz Deschner in seinem Buch "Kitsch, Konvention und Kunst" gesammelt hat.. Ich kann mich darüber nicht ärgern, aber es verstimmt mich , dass Künstler, die es besser wissen müssten, bei Kitsch erwischt, versuchen, diesen zu leugnen.
Liebe Grüße
Ekki
Hilde (62) meinte dazu am 11.06.18:
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 AZU20 (07.06.18)
Geschichtsunterricht: Schlagt das Lehrbuch auf. Unterstreicht jedes Substantiv rot, jedes Verb blau, die anderen Worte gelb. LG

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 07.06.18:
Ja, danke Armin, scheinbar sterben solche geisttötenden Beschäftigungstherapien nicht aus. LG

 harzgebirgler (04.06.21)
courths-mahlers kurzweiligkeit
unterhält viele bestens bis heut.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 04.06.21:
Gracias, Henning,

ist man mit dem Kitsch-Vorwurf zu schnell zur Hand,
tötet er den Kunstverstand.

LG
Ekki
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