Kenning

Kurzgeschichte zum Thema Verständnis(los)

von  RainerMScholz

Draußen vor den Zelten der Sanitätsnotfalleinheit flogen die Kugeln und Schrapnells, Bomben explodierten, der Lärm war ungeheuerlich und immer wieder setzten die Stromaggregate aus; Blitze erhellten dann schockwellenartig das Zeltinnere, in denen die schreienden Verwundeten lagen; es roch nach Blut und Exkrementen, und die Schürzen und Handschuhe der Chirurgen waren rot gefärbt.
Dr. Eisenblath versorgte nach dem provisorischen OP-Plan die Amputationen, zwei Krankenschwestern mit Rotkreuzbinden assistierten ihm und ein Helfer schob die schon sedierten Patienten auf einer Rollbahre herein und schaffte die abgeschnittenen Gliedmaßen beiseite.
„Ich brauche mehr Tupfer hier, Schwester Gerda, und, Schwester Hilde, fragen Sie den Kollegen, ob er noch eine zweite Säge hat, die hier wird stumpf.
So, abbinden, da leckt noch etwas, bitte wischen Sie mir doch den Schweiß von der Stirn, Schwester.
Helfer, kommen Sie, Helfer, wie heißen Sie? Ist ja egal. Schaffen Sie die Beine hier `raus. Ich wäre fast gestolpert.“
Eine nahe Detonation fegte das Operationsbesteck von dem Beistelltisch.
„Schwester! Schwester!! Heben Sie das auf und putzen Sie es ab, womit weiß ich nicht – und will`s auch nicht wissen.
So, der ist fertig. Weg zur Nachversorgung. Helfer, bringen Sie den nächsten.“
Dr. Hein zog den Vorhang zur Seite, steckte sich eine Zigarette an und hob die blinkende Knochensäge, die er mitgebracht hatte.
„Hier, Kollege, brandneu, verbiegen Sie nicht die Zinken.“
„Den armen Hunden macht das nichts aus. Ich operiere schon seit heute morgen am laufenden Band und es hat sich noch niemand beschwert.“
Der Helfer schob gebückt den Nächsten herein.
„So, was haben wir, rechts Bein ab. Sehr schön.“
Der elektrische Strom setzte kurz aus und man sah die Zigarettenglut in Dr. Heins Gesicht.
„Sie meinen sicher das linke.“
„Was? Nein, das ist doch markiert.“
„Ja, eben, das linke.“
„Ja, genau, das Kreuz ist auf dem linken. Also bleibt es dran.“
„Das meinen Sie nicht ernst.“
Schwester Gerda ging, um nach den Tupfern zu schauen. Der Helfer hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schaute unbeteiligt zur Zeltdecke.
„Das Kreuz bedeutet, dass dieses Bein amputiert werden soll.“, insistierte Dr. Hein, ein Zucken um seine Mundwinkel deutete Missbilligung an.
„Nein, Dr. Hein, das Kreuz heißt: nein, nicht abschneiden. Was ein Kreuz eben bedeutet. Dieses Bein ist das gute Bein, hier nicht schneiden.“
„Nun, Herr Kollege, es verhält sich umgekehrt. Das Kreuz bedeutet: das hier ist es, dieses Bein soll ab.“
„Das ist ein schlechter Augenblick für Scherze, diese Männer kämpfen für ihr Land.“
Dr. Eisenblath kniff Zeigefinger und Daumen in die geschlossenen Augen und senkte den Kopf.
„Ja, eben. Dr. Overrath, Dr. Overrath, kommen Sie doch bitte `mal.“
Draußen am halbgeöffneten Vorhang ging der Chefchirurg vorbei und hielt jetzt inne.
„Sagen Sie doch bitte, Dr. Overrath, das Kreuz auf dem Bein eines Patienten bedeutet doch, das selbiges zu entfernen sei.“
„Was soll diese Frage?“
Dr. Overrath versuchte gereizt, eine Fliege vor seinem Gesicht mit der Hand fortzuwischen.
„Nun, Dr. Eisenblath hier scheint vom Gegenteil überzeugt zu sein.“
„Was ist denn das Gegenteil?“
„Dass es nicht ab soll.“
„Was?“
„Das Bein.“
„Ach so, nein, doch, es soll amputiert werden.“
„Na also.“
Dr. Hein sog an seiner Zigarette. In der Nähe explodierte eine Bombe und ließ die Zeltbahnen flattern.
„Na, dann haben wir das ja geklärt.“
Chefchirurg Dr. Overrath zog mit wehendem Kittel von dannen.
Dr. Eisenblath sah betreten zu Boden. Da lagen verstopfte Kanülen, verdrecktes Verbandszeug, Gewebereste, Spritzen und weiße Splitter. Sein Kollege klopfte ihm auf die Schulter.
„Nichts, was sich nicht beheben ließe, lieber Freund. Lassen Sie alle, die sie heute schon operiert haben, eben noch einmal vorfahren.“
Er nahm noch einen letzten Zug, warf den Zigarettenstummel zu Boden und drückte ihn mit der Schuhspitze aus.
Dr. Eisenblath schwitzte. Er sah seinen Helfer an.
„Also, Sie haben es gehört, alle noch einmal herein.“
Der Helfer zuckte mit den Achseln, nahm die Hände aus den Taschen und machte sich auf den Weg.
„Schwester Gerda, Schwester Hilde, kommen Sie bitte, wir brauchen noch mehr Tupfer.“
Es donnerte, das Licht ging aus und wieder an.
„Und Verbandsmull, viel mehr Adernklemmen und Tupfer. Mehr Tupfer.“


© Rainer M. Scholz

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (08.06.18)
„Das es nicht ab soll.“ -> „Dass es nicht ab soll.“

 RainerMScholz meinte dazu am 08.06.18:
Ich danke.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram